Walter Hövel
Eine Schule, an der auch Freinet eine Rolle spielt
Ich arbeite an einer Schule[1] mit einigen Erwachsenen. Sie alle, eine Diplompädagogin, eine Sozialpädagogin, 7 Lehrerinnen, 2 Lehrer, ein Schriftsetzer, eine Sekretärin und viele Mütter, Väter und ein Großvater haben etwas gemeinsam. Die Vermittlung von Lehrstoff ist sekundär gegenüber der Begleitung der Kinder in ihren eigenen Lernprozessen. Wir alle trauen den Kinder alles zu, Unsinniges, Dummes oder Falsches, aber vor allem, dass sie lernen, trotz und mit Schule. Um es anders auszudrücken, wir nehmen die Kinder als Menschen ernst. Wir sind erwachsene Dialogpartner, Organisationshelfer, Berater, Lernanimateure und Mitlerner. Und wir versuchen einschätzbar, berechenbar, zuverlässig, erreichbar für die Kinder zu sein.
Eine unserer Berechenbarkeiten besteht darin, dass wir an unserer Schule keine Schlägereien zulassen. Wir sind hier relativ zuverlässig, da wir jede unserer Handlungen unterbrechen, wenn eine Schlägerei sich entwickelt oder bereits im Gange ist. Die Kinder können uns einschätzen. Sie wissen, dass ein Gespräch folgt, ein Klassenrat, auch mit „betroffenen Gästen“ aus anderen Klassen oder Schulen, wir nicht das Elterngespräch scheuen, Jungengruppen[2] oder „Furienprogramme“[3] für Mädchen (Lutz Wendeler, Freie Schule PrinzHöfte) initiieren, wir Übungen zu Verhaltensalternativen machen, oder schlichtweg sauer sind, wenn einer die Hauptregel missachtet und dies auch zeigen und damit die Betroffenen erreichen.
Dies alles ist eingebettet in einen Schulalltag, in dem es keinen Plan und kein Programm gibt, der den Lehrkräften das „kindgemäßoffenfreiarbeitende“ oder „werkstattstationenatelierorientierte“ oder „freinetmontessorigestalt-humanistische“ Arbeiten vorschreibt, da es mehrheitlich verabschiedet vom Schulleiter durchgesetzt wurde. Vielmehr arbeiten wir an einem „neuen heimlichen Lehrplan“ (Wolfgang Mützelfeld).
Eines der Grundelemente unserer Philosophie ist, dass traditionelle Schule wahrscheinlich die Dinge des Lernens eher falsch gemacht hat, wir aber, wenn wir’s nicht besser wissen, es genau so wie in die Schule machen (alte freinetische Weisheit). Die Praxis der Didaktik behindert das Lernen der Menschen. So halten wir den frontalen Unterricht (besser „direct teaching“) für eine gute Form der Vermittlung von von den Kindern erfragten Inhalten, falls nicht alle zuhören müssen, und uns selbst auch der Sinn des zu Vermittelnden einleuchtet und wir uns selbst bei diesem Thema für kompetent halten. Aber die meiste Zeit verbringen die Kinder bei ihren „Verabredungen“ (Ulrike Strombach), in ihren eigenen Arbeitsgruppen und im Gespräch im Kreis.
Die zweite Erkenntnis ist die, dass Menschen nicht auf die Grundlage einer programmatischen Plattform festzunageln sind, auch wenn sie sie selbst erarbeitet haben. Bei der programmatischen Festlegung der Arbeit können sie gar nicht wissen, was für Lernsituationen die Kinder und die Situationen der Zukunft verlangen werden. Und vor allem, woher soll ein Lehrer oder eine Lehrerin wissen, was sie selbst zukünftig leisten können, wo sie sich hin entwickeln werden. Eine Lehrperson, die sich selbst entwickeln soll, die die „Erlaubnis“ bekommt selbst zu lernen und die eigene Professionalität zu erhöhen, kann doch nicht vorher eine Forderung an sich selbst unterschreiben, wenn sie möglicherweise ein normaler Mensch geblieben ist, und sich vor Unbekanntem fürchten könnte, auch wenn sie es selbst einmal tun könnte. Es gilt also, am „geheimen Lehrplan“ zu arbeiten, im alltäglichen pädagogischem Kleinkram entlang der Bedürfnisse der Kinder zu kooperieren, es gilt, die eigene Arbeit ständig und immer wieder kritisch zu reflektieren und das kooperativ zu tun. Es gilt, das eigene Tun immer wieder einzuordnen, in vorhandene Denkmodelle, in entstehende oder eigene. Erst im Nachherein ergibt es einen Sinn, dass bereits erreichte in einer Programmatik festhalten zu wollen, damit es nur verloren geht, wenn es nicht mehr gebraucht wird, damit es nicht versehentlich, aus Unaufmerksamkeit heraus verloren geht.
Die dritte Erkenntnis ist die, dass die Freinetpädagogik zwar meine Pädagogik ist, der eine aber eher Richtung Jürgen Reichen geht, oder der andere auf die Richtlinien der Grundschule als solche schwört, oder in der zweiten Ausbildungsphase zu Stationsarbeitern geformt wurde, oder wir alle aber im Grunde genommen unsere eigene Pädagogik entwickelt haben, und dieses Selbstbewusstsein vielleicht nach 6 Jahren Arbeit, so etwas wie einen eigenen pädagogischen Stil der gesamten Schule hat entstehen lassen. Jede Lehrerin pflegt ihren eigenen Unterrichtsstil, wobei gemeinsame Elemente durch den ständigen Austausch immer wieder ausfindig zu machen sind. Gleichzeitig aber ist die gesamte Schule eingebunden in ein gemeinsames Flechtwerk von Ereignissen, Regeln und Organisationsformen. Alle arbeiten auf den Gängen und im Forum, wo Tische und Stühle stehen, die Kinder arbeiten im Lehrerzimmer, im Sekretariat oder im Schulleiterzimmer, sie sitzen draußen, vor der Klasse, auf Treppen, im Schulgarten oder auf der Wiese, gehen alleine in die Druckerei oder benutzen die Lehrertoilette.
Es gibt alle 14 Tage eine Schulversammlung im Forum der Schule, die von den Kindern selbst geleitet wird, die auch für die Zusammenstellung des Programms verantwortlich sind. Hier werden von den Kindern Ergebnisse der Arbeit aus den Klassen oder von Arbeitsgruppen vorgestellt, Tänze, Freie Texte, Schattenspiele, Singspiele, Kompositionen, Projektergebnisse, Theaterstücke und Lieder und andere möglichen repräsentationswürdige Dinge. Auch Probleme werden hier von über 200 Kindern und LehrerInnen besprochen. Diese Versammlung dauert in der Regel 30 bis 60 Minuten.
Hier lernen die Kinder das Präsentieren ihrer eigenen Arbeit. Hier erfahren sie, dass sie einen "Beitrag leisten" können. Das macht leistungsbewusst, selbst - bewusst und gibt das Gefühl etwas Wert zu sein. Hier wird deutlich, dass die Arbeit, die sie leisten, nicht nur ihnen nützt, sondern eben ein Beitrag zum Nutzen aller ist. Und diese Erkenntnis macht den Nutzen für einen selbst noch größer.
Die Woche an unserer Schule beginnt mit der Montagsversammlung im Forum unserer Schule aller Menschen, die hier lernen und arbeiten.
Die Schulleitung begrüßt zunächst alle und leitet sie. Es werden alle Geburtstage seit der letzten Montagsversammlung gefeiert. Jedem Kind gehört eine Strophe des „Happy Birthday“s, und das „Cos she’s a jolly good fellow“ schließt sich an. Kinder und Erwachsene tragen alle Nachrichten, die im Laufe der Woche relevant sind mit, also etwa ein Projekt einer Klasse, ein Fest, Besuch oder Sonstiges aus der Vielfalt der Ereignisse an der Schule. Hier werden auch Bitten, Beschwerden oder Kritik vorgetragen, die die Schulöffentlichkeit angehen. Es folgt die Beantwortung der letzten und der Vortrag der neuen „Frage der Woche“. Die Versammlung kann durch andere Elemente ergänzt werden, wie etwa das gemeinsame Singen eines Liedes.
Wir haben ein Kinderparlament eingerichtet. Jede Klasse wählt ein Mädchen und einen Jungen in das Kinderparlament, das wöchentlich in einer 5. Stunde tagt. Es kann Beschlüsse fassen, die den gesamten Schulbetrieb angehen. Das Kinderparlament wird von einem „Kids -Manager“ betreut, die/der in direkter Wahl von den Kindern bestimmt wird.
Alle tragen Hausschuhe im Gebäude, drinnen wird nicht gelaufen, in den Pausen entscheidet jeder selbst, ob sie oder er rausgeht oder im Gebäude bleibt. Immer wieder gibt es Arbeitsgruppen mit Eltern, die Druckerei betreute ein arbeitsloser Schriftsetzer, jetzt mehrere Mütter. Es gibt immer wieder klassen- und jahrgangübergreifende Projekte, gemeinsame Arbeitsstunden verschiedener Jahrgangsklassen, der Besuch einzelner in anderen Jahrgangsklassen für Stunden oder Tage. Die Türen stehen auf, wir gehen auch zu den anderen rüber, um eben was zu fragen, um einen Ärger sofort loszuwerden oder weil du ein Material brauchst. Und das alles machen wir LehrerInnen wie eine Freinetklasse. Die Freinetpädagogik habe ich als Schulleiter verbindlich gemacht, nicht für den Unterricht in den Klassen, sondern als Organisationsmodell für die LehrerInnen selbst. „Unser“ Kollegium ist „meine“ Freinetklasse. Im Zentrum steht die wöchentliche 2-stündige Konferenz wie der Klassenrat in der Klasse. Eine Wandzeitung bestimmt die Themen unserer Arbeit, ob „Fort“Bildungsthema, Problem, Inhalt, Wunsch oder Angebot.. Die Präsidentschaft wechselt wie das Protokoll jede Woche, nur der (supervisionäre) „Joker“ fehlt. Hier wird die Arbeit reflektiert, evaluiert, geplant, gestritten, geklärt, die Schule auch einmal politisch gesehen, gezeigt, gemacht, gearbeitet, -kooperativ - und gelernt. Im Schulprogramm heißt es:
Kooperation in der LehrerInnenkonferenz
Jede Woche findet an unserer Schule eine mindestens zweistündige Konferenz statt. Jede KollegIn übernimmt alternierend die Leitung. Sie oder er wählt das Thema der gemeinsamen Arbeit.
Hier wird tägliches und grundsätzliches Schulprogramm erarbeitet.
Die Schwerpunkte sind:
· Vorstellung unserer Arbeit in den Klassen
· Planung gemeinsamer schulischer Aktivitäten und Projekte
· Planung Klassen übergreifender Aktivitäten
· Planung von Kooperation mit außerschulischen Stellen, Personen und Organisationen
· Koordination der einzelnen Vorhaben
· Auseinandersetzung mit Grundbegriffen des Lernens und der Erziehung
· Auseinandersetzung mit neuen, nicht nur pädagogischen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und berufsspezifischen Innovationen
· Auseinandersetzung mit Anforderugen der gesellschaftlichen Entwicklung
· Permanente Evaluation der eigenen Arbeit
· Nachdenken über Kindheit, Lernen und Schule
· Nachdenken über gemeinsame Werte und Grundbegriffe
· Nachdenken über die Eltern- und Lehrerrolle
· Hinterfragen der eigenen Strukturen und Formen
· selbst organisierte allgemeine und fachspezifische Fortbildung
· Sponsoring und Mittelbeschaffung
· Vorbereitung von Hospitationen an anderen Schulen, Lernwerkstätten oder Weiterbildungsinstitutionen
· Probleme der Lehrerinnenbildung
· Auseinandersetzung mit geladenen Gästen aus therapeutischen, wissenschaftlichen oder anderen erzieherischen Bereichen
Jede erste Konferenz eines Monats ist die „Kinderkonferenz“. Hier stellen die LehrerInnen ihre Probleme mit Kindern ihrer Klasse vor. Hier stehen einzelne Kinder, die Beratung der KollegIn und die Erstellung individueller Lernprogrammen für das Kind im Mittelpunkt.
Weder die Konferenz, noch die Schulleitung, noch ein Schulprogramm schreiben den Lehrkräften ein „vereinheitlichtes Unterrichtskonzept“ vor.
Der Unterricht organisiert sich auf der Grundlage
· der Bedürfnisse des individuellen Lerntyps und der Persönlichkeit der Kinder
· der sich entwickelnden Selbstorganisation der Kinder in Arbeitsplänen und im Klassenrat
· der allgemeinen professionellen
· und besonderen, speziellen Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer
· der kooperativen Vereinbarungen, Absprachen und Beschlüsse der LehrerInnen und der Schulkonferenz
· der Richtlinien und Lehrpläne,
· der Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder
· der speziellen Gegebenheiten der Schule und des Standorts
Die vierte Erkenntnis ist die, dass auf den Staat, der Träger der Einrichtung Schule ist, relativ wenig Verlass ist. Er versucht zwar viel einzufordern, (selbst die - selbstverhinderte Qualitäts-Sicherung) - es scheint genügend Personal da zu sein, um Erlasse und Traktate zur „Leistungskontrolle und dem Üben als tragendes Element des deutschen Leistungsschule“ zu schreiben, auch wenn wir mit dieser gleichbleibenden Masche seit Jahren im internationalen Vergleich immer mehr absacken - aber ansonsten ist es wie es dereinst im real existierenden Sozialismus einmal gewesen sein soll: mal fehlt es an Lehrern, mal fehlt es an Mitteln für die Einrichtung, mal an Einsicht in die Lage der Basis, mal an Geld für Schulbücher, mal an Geld für Reinigungskräfte oder Hausmeister, aber die Planerfüllung muss immer stimmen. Die Brigade vor Ort hat die Probleme schön zu lösen, verantwortlich für den richtigen Einsatzwillen sind die untersten Leitungen, die Politik stimmt immer, da die Politiker ja alles...
Und hier setzt die fünfte Erkenntnis ein: Wir tun alles. was nicht verboten ist (Werner G. Mayer), und das hartnäckig, informierend, klug und vermittelnd. Einer meiner Lieblingssätze an Leute, die aus unserer Schule eine „normale“ Schule machen wollen, lautet: „Auch sie machen aus unserer Schule keine Schule!“
[1] Es ist die "Grundschule Harmonie" in Eitorf in Nordrhein-Westfalen
[2] Zu oft blockierten die sich immer wiederholenden Probleme der Jungen den Klassenrat. Wann immer es möglich war, etwa durch die Anwesenheit einer Praktikantin, oder etwa eine Projektarbeit, bei der die Mädchen alleine arbeiteten, bildete ich mit den Buben einen eigenen Kreis. Am besten gelang es, als Uschi Resch zu Gast war. Als Frau hatte sie eine noch größere positive Distanz. Die Jungs taten sich schwer, diesen Kreis alleine durch zu führen.
[3] Hier lernen Mädchen von Jungen durch deren Anleitung und Begleitung, was diese - im Gegensatz zu vielen Mädchen - so gut können: sich wehren, widersprechen, protestieren und andere Tugenden. Im Gegenzug sind dann Buben auch eher bereit sich von Mädchen Verhaltensweisen anzueignen, die ihnen so schwer fallen.