Walter Hövel

Die alte und die neue Schule

Diese Rede wurde 1996 in einer ländlichen Gemeinde vor Handwerkern, Eltern, Schulleitern, einem Männergesangverein, Vertretern der Kirchen, örtlichen Banken, der kommu­nalen Ämter und Behörden, Politikern aus Ausschüssen, dem Rat und des Kreistages gehalten.

Der Name Freinet kommt in dieser Rede nicht vor. Die Mehrzahl der Zuhörerinnen hätte mit diesem Namen nichts verbunden. Der Redner ist zudem der Meinung, dass es nicht darum geht, Freinetschulen zu gründen ]'. Es geht vielmehr darum, „moderne Schulen" einzurichten, die eine „Pädagogik für die Kinder des Volkes" (Freinet) machen.

Es gibt Menschen, die denken, dass die Schule von früher besser war, als die von heute. Nehmen wir einmal an, dass diese Menschen mit der Schule von heute unzufrieden sind und die Schule von morgen fürchten.

Nehmen wir einmal an, dass diese Menschen wirklich recht haben. Aber warum sollten sie recht haben? Die Antwort mag paradox klingen: Die Schule von früher, die sie im Kopf haben, hat es nämlich nie gegeben - oder besser: es gibt sie nur in ihren Köpfen.

Es gibt sie nur in der Erinnerung der Menschen. Und die Erinnerung der Menschen konserviert, was positiv war bzw. positiv erinnert wird.

Dieses Positive möchten sie „wiederhaben", wenn sie sich die Schule von morgen vorstellen. Das aus ihren Erinnerungen geformte Bild einer „guten alten Schule" ist der „Zukunftsentwurf" dieser Menschen.

Aber wie sieht dieser Zukunftsentwurf aus, den unsere Erinnerung herausfiltert und speichert? Was macht das Bild der guten alten Schule aus?   ... "

Das Wichtigste beim Lernen ist der Erfolg. Jeder von uns hat unbestritten eine Menge gelernt. Wir erinnern uns positiv an unseren eigenen Lernerfolg. Da die Schule als Ort des Lernens gilt, machen wir sie für diese Leistung verantwortlich.

Schule kann also der Ort sein, wo wirklich etwas gelernt wird!

Schule kann der Ort sein, wo ich meine eigene Leistungsfähigkeit erfahren kann.

Schule kann also einen erfahrbaren Sinn haben.

Die nächste Frage ist, was wir gelernt haben. Dies ist in unserer Erinnerung immer das Lesen, Schreiben, Rechnen und ein Grundwissen über die Welt.

Dann folgen in unserer Erinnerung noch viele kleine Dinge, die für den Einzelnen zu großer, wenn auch indivi­duell verschiedener Bedeutung wurden.

Schule kann also der Ort sein, wo etwas für das Leben Relevantes gelernt wird. Die Schule kann das Tor zur Welt sein. Schule kann der Ort sein, wo nicht nur für heute, sondern auch für die Zukunft gelernt wird. - Ein Gedanke, auf den ich später zurückkommen werde.

Ein weiterer Teil unserer Erinnerungen ist, wer uns etwas gelehrt hat. Hier erinnern wir uns zwar an dunkle Gestalten und gewalttätige Menschen, aber wir verarbeiten sie eher in Anekdoten. Unsere Erinnerung behält auch hier lieber die positiven Erlebnisse der Vergangenheit.

Dies ist die Lehrerin oder der Lehrer, der uns achtete und dem wir Respekt zollten. Dieser Lehrer hatte Verständnis und Geduld, konnte aber auch Strenge und Konsequenz zeigen. Dieser Lehrer konnte lustig sein, aber auch den Ernst des Lebens vor Augen führen. Kurz, sie oder er ist ein Mensch, der als Vorbild Werte, Liebe, aber auch Grenzen vermittelte und lebte.

Schule kann also Lehrer haben, die als „ganzer Mensch" ihren Beruf professionell ausüben.

Wiederum folgt die Frage, die sich unsere Erinnerung stellen mag: Wie vermittelte dieser Mensch das Lernen, wie gestaltete sie oder er das Schulleben? Wir erinnern uns am liebsten an die, die uns eine Aufgabe gaben, die wir gerne erfüllten, ob es früher das Versorgen des Ofens war, oder eine Rolle in einem Theaterstück oder einfach ein Extraarbeitsblatt, dessen Bearbeitung sie uns zutrauten. Wir erinnern uns an jene, die im Unterricht erzählen konnten, an Lehrer, die etwas zu erzählen hatten, so dass die Wangen beim Zuhören glühten. Wir erinnern uns an Unterrichtsgänge, an Orte, die uns faszinierten. Wir erin­nern uns an Literatur, die uns betroffen machte, an Experimente, die uns in ihren Bann zogen. Kurz, eine Schule durfte auch früher keine Stoffvermittlungsfabrik sein. Schule kann ein Ort des Lebens sein. Sie kann lebendig sein.

Gut erinnern wir uns an Situationen des Zusammenhalts in der Klasse, an Freunde, an Situationen des gemeinsamen Erlebens, an das Helfen beim Lernen oder des Lernens von Solidarität mit Schwächeren. Wir erinnern uns gut an eine erziehende Schule, die Respekt vor den Menschen, ihrer Arbeit und ihren Dingen pflegte. Schule kann ein Ort der Solidarität sein.

Wir erinnern uns an Gemäuer, Fenster, Einrichtungs­dinge, Bäume auf dem Schulhof, die Charakter und Geschmack hatten. Eine Schule kann ein Ort sein, der eine Ästhetik und etwas Spannendes hat.

Manch einer von Ihnen könnte sicherlich noch andere gute Erinnerungen aufzählen, die Ihr Bild von der guten Schule von früher ergeben.

Doch warum habe ich dieses Bild einer Schule gemalt, dieses durch positive Erinnerungen entstandene Bild von der Schule, die es nie gegeben hat? Man könnte dieses Bild als Nostalgie, politischen Traum, gar als Flucht vor den Problemen der Gegenwart und Zukunft denunzieren. Lohnender aber ist es, zu überlegen, welche Bedürfnisse und Wünsche sich hinter dieser „Rückwärtsbewegung" verbergen. Innerhalb einer beschleunigten Gegenwart, die wenig Zeit für Rücksichten oder das Erhalten lässt, die Zukunft als ungewiss, unsicher, ja sogar bedrohlich erscheinen lässt, ist der Rückgriff auf Bewährtes und als positiv Erlebtes verständlich.

Ich denke, diese Grundzüge von Schule, dieses Althergebrachte, muss auch heute noch seine Gültigkeit in der Schule haben. Auf einer solchen Grundlage kann die Schule von heute mit ihren Richtlinien und Lehrplänen und dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Profes­sionalität gedeihen. Diese Schule von heute, die Schule in „Harmonie" 2), muss sich aber auch mit der Zukunft auseinandersetzen, einer Zukunft, in die die Kinder, die die­se Schule besuchen und besuchen werden, bereits hineingeboren sind.

Die Kinder selbst sind bereits Zukunft. Sie leben sie bereits in unserer Gegenwart, in unseren Schulen. Durch die Kinder existiert die Zukunft bereits in der Gegenwart unserer Schulen.

Doch was ist dieses Neue, das die Schule von heute lehren soll, ohne die Zukunft zu kennen? Ich werde hier nicht versuchen, diese Frage zu beantworten. Ich würde mich sicherlich übernehmen. Ich kann aber einen Aspekt schildern, den ich spannend und greifbar genug finde: Im November 1994 erschien in allen deutschen Tageszeitungen eine Großanzeige der Deutschen Bank 3). Hier kam Dr. Wolfgang Reitzle zu Wort, Vorstandsmitglied der BMW AG München. Seine Rede zum Thema „Arbeit der Zukunft - Zukunft der Arbeit" beschreibt die Sicht der deutschen Banken und Großindustrie zur Frage der Gestaltung der Zukunft. Ich zitiere Herrn Reitzle nicht, weil ich gerne BMW fahren würde, oder gerne ein Konto bei der Deutschen Bank hätte. Ich zitiere ihn auch nicht, weil ich denke, die Industrie solle bestimmen, wie unsere Zukunft oder unsere Schulen aussehen sollten.

Eine Schule der Zukunft kann und muss viel von Wirtschaftsunternehmen der Gegenwart lernen. Aber sie darf Kinder nicht zu willigen und unkritischen Konsu­menten und Arbeitskräften erziehen. Schule muss die Kinder befähigen, ihre Verhältnisse selbst zu machen. Ich zitiere Herrn Reitzle, weil hier ein ernstzunehmender Teil unserer Gesellschaft etwas sagt, was uns Mut geben sollte, über das Neue, das heute für die Zukunft getan werden kann, nachzudenken.

Die Anzeige der Deutschen Bank beginnt mit der Überschrift: „Die Zukunft verlangt Phantasie und Krea­tivität statt Hierarchie." Ja, Reitzle, die Deutsche Bank, die deutsche Industrie wollen in den Betrieben die Hierarchie abbauen. Aber was hat das mit Schule zu tun? Hierzu zitiere ich Herrn Reitzle: „Der wichtigste Inhalt von Führung ist nicht mehr die Vergabe von Aufgaben und ihre Kontrolle, also die klassische Machtausübung, sondern die Organisation selbstgesteuerter Prozesse."

Wie die Betriebe, so haben auch die Schulen gearbeitet: Der Lehrer als Unterrichtsführender gibt die Aufgaben vor und kontrolliert sie. Von diesem Teil alter Schule, dem Druckmachen, damit Leistung erbracht wird, werden wir uns verabschieden müssen. Das Neue Denken will mehr Leistung als heute möglich ist, Menschen, die noch besser qualifiziert und gebildet sind. Ich zitiere hierzu Herrn Reitzle: „Neues Denken hin zu mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortlichkeit muss intensiv von allen Seiten und nach allen Seiten kommuniziert und vor allem vorgelebt werden.... Im Zentrum steht der Mensch." Reitzle nennt dabei folgende Stichworte:

 

    Selbststeuerung

    Konzentration auf Prozesse und Mitarbeiter statt auf Strukturen

    Freiräume schaffen für Initiative

    Selbstorganisation

    offene Kommunikation

    ganzheitliches Denken

    mehr Eigenverantwortung statt Machtausübung

    Entscheidungskompetenzen nach unten verlagern

    Ermöglichung von Teamkompetenzen

    Kreativität

    Verantwortungsbewusstsein

    Schnelligkeit bei der Formulierung neuer Ideen und

Konzepte

„Statt Hierarchie", so fährt Reitzle fort, „wird der Geist, die Phantasie, die Kreativität und die Leistungsbereit­schaft jedes einzelnen gefordert, mobilisiert und einge­setzt." Auf Schule übersetzt heißen diese Stichworte:

    Freies Arbeiten

    Arbeiten in Projekten

    Selbstorganisation

    offene Kommunikation in der Klassenversammlung

    ganzheitliches Lernen

    Freie Texte schreiben

    Forschen und Experimentieren, Tasten und Versuchen

    Musik-Tanz-Bewegung, Freier Ausdruck

    Training des Geistes und der Wahrnehmung

    Arbeit in Stationen, Ateliers und Werkstätten

   und eben Selbststeuerungsprozesse anstatt Fibelprogramme oder gleich-schrittiges Lernen

Wir haben an dieser Schule nach einem halben Jahr Arbeit viele dieser Dinge bereits ins Alte, Solide, was Schule immer zu einer guten Schule gemacht hat, einge­bettet. So lernen unsere ersten Schuljahre, wie unsere Eltern Ihnen sicherlich berichten, nicht mehr mit einer Fibel, Buchstabe für Buchstabe das Schreiben und Lesen in mühsamer Arbeit, sondern in einem selbstgesteuerten Prozess. D.h. wir führen sie in lehrerbegleitende Prozesse, wo sie ihr Lernen selbst steuern müssen. Weit über die Hälfte der Kinder der ersten Schuljahre kann nach einem halben Jahr lesen, nicht einzelne geübte Wörter, sondern jeden beliebigen Text und sie verstehen sie auch, soweit er verständlich ist.

Diese Art des Lernens mag für viele Menschen ungewohnt sein. Doch den pädagogischen Wissenschaftlern und engagierten Praktikern, sprich Lehrerinnen und Lehrern, stehen die selben Erkenntnisse zur Verfügung wie Herrn Reitzle. Und die Umsetzung neuer Erkenntnisse ist in einer Pädagogik möglich, die nicht herumexperimentiert oder einen Laissez-faire-Stil propagiert, sondern diese neuen Erkenntnisse mit dem positiven Alten verbindet.

So wenig, wie in der Wirtschaft oder der Medizin werden alle diese Neuerungen auf einen Schlag eingeführt. Wer dies versuchen würde, müsste scheitern. Das Alte, das funktioniert, muss dringend erhalten und verstärkt werden. Das Neue muss Stück für Stück zunächst gedacht und dann eingeführt werden.

Dies allerdings konsequent!

Und konsequent bedeutet, dass dies nicht gegen Lehrer, gegen Eltern, gegen Kinder eingeführt werden kann und nicht einfach mit ihnen, sondern nur von ihnen selbst. Konsequent bedeutet, dass dieser Weg in die Zukunft der Schule auch von Finanzministern, Schul­aufsicht, öffentlicher Meinung und kommunalen Trägern mitsamt ihren Kämmerern mitgetragen werden muss.

Konsequent heißt, dass diese Modernisierung nicht hierarchisch eingefordert werden kann, sondern nur mit Mut, Phantasie, Kreativität und der Leistungsbereitschaft der Betroffenen selbst verwirklicht werden kann, wie es Herr Reitzle von BMW fordert.

Konsequent heißt auch, dass Mut, Phantasie und Kreativität nicht für BMW oder die Deutsche Bank instrumentalisiert werden, sondern den Kindern gehören, damit sie ihre eigene Welt von morgen gestalten können.

Konsequent heißt auch, dass die Kinder hierbei die Welt verändern könnten, nicht nach unseren Vorstellungen, sondern nach ihrem Konzept.

Wünschen wir den Kindern dieser Schule eine gute alte Schule, eine erfolgreiche, lehrreiche und erlebnisreiche Gegenwart und eine Zukunft, die sie in ihrer eigenen Schule schon kennen gelernt und begonnen haben zu leben.

1) vergleiche hierzu: Walter Hövel, „Eine Schule nach Freinet organisieren?" In: Pädagogik, Februar 1993

2) „Harmonie" heißt der Ortsteil, in dem die Schule liegt und laut Ratsbeschluss die Schule selbst.

3) Hier aus: Kölner Stadt-Anzeiger, November 1994, S. 22-24