Walter Hövel
Nicht, dass es früher keine Rückschläge gab
Brief an das Schulamt, so um 2008
Sehr geehrte Frau Schulrätin!
...
Bei diesem und ähnlichen Anlässen fehlt mir jene Gelassenheit und Distanz, die mich sonst in meinem Alltag begleitet und begleiten muss. Ich bin betroffen.
Zunächst einmal bin ich betroffen, weil ich eine Zeit für diesen Vorgang opfern muss, die ich noch nicht einmal als Überstunde abrechnen könnte. Von Schulleiterinnen und Schulleitern wird erwartet, dass sie am Abend, in der Nacht und an Sonn- und Feiertagen arbeiten. Ich gehöre zu jenen, die dies seit vielen Jahren mit Freude, mit Engagement und mit Erfolg tun.
Jetzt sitze ich hier, ausgesprochen nachdenklich, mit einem Gefühl unnötig Zeit und Lebensenergie zu vertun.
Dass ich es doch tue, liegt nicht nur an dem guten Verhältnis, das ich gegenüber meinen vorgesetzten Dienststellen zu haben glaube, sondern vor allem daran, dass es um ein grundsätzliches Elternrecht geht. Viel zu wenige Eltern nehmen ihr legitimes Recht in Anspruch gegen bestehende Missstände in der Bildung und an den Schulen anzugehen.
Leider gibt es aber in sich entwickelnden demokratischen Gesellschaften jene Menschen, die bestehendes Recht für ihre subjektiven Ansichten leichtfertig oder gar missbrauchend in Anspruch nehmen. Solche Menschen und ihre Auslegung der Rechte können dann Energie und Zeit kosten. Da Schule ein sehr sensibler, aber auch ungeschützter Raum ist, ist dieser anfällig für solche „Störungen“, und ich bin es auch.
Ich bin betroffen, weil ich in diesen Tagen und Wochen anderes, enorm Wichtiges zu tun habe. In diesem Halbjahr hat uns die fünfte(!) Kollegin durch Schwangerschaften, Krankheiten, Wechsel zu einer anderen Schule und Berufungen an die Universität verlassen. In den letzten 14 Tagen war eine weitere Kollegin krank. Ich bin in diesem Halbjahr zum dritten Mal (Ersatz)-Klassenlehrer, unterrichte, nicht etwas mehr als sonst, sondern die volle Stundenzahl!
In den Osterferien war ich auf einer mehrtägigen Fortbildung, danach haben wir in der Schulkonferenz einstimmig einen Beschluss für Zeugnisse ohne Noten als Schulversuch beim Ministerium erarbeitet und verabschiedet. Unsere Schule besuchen täglich neue Eltern und Kinder des nächsten Schuljahres und anderer Schulen, die zu uns wechseln. Diese Kinder und Eltern, - und jede Woche kommen zwei bis drei neue, - wollen angesprochen und willkommen sein!
Unsere Hospitationen sind nicht weniger geworden. Meine Kolleginnen und ich führen AOSF-Verfahren und Sprachstandserhebungen durch, ich mache Prognoseunterricht, unsere Kollegin macht ihre Konrektorenrevision, wir haben in den am nächsten Wochenende unsere jährliche Geländeaktion und dann unser Schulfest.
Ich fahre nach Düsseldorf, um mit den anderen Gütesiegelschulen zu arbeiten, wir schicken auch in diesen Tagen unsere Leute zu Kongressen und Tagungen, zu denen wir angefragt werden. Wir führen die „Feste Langzeit in einer Gruppe (FLIEG)“ ein. Wir machen den dritten Teil unser Leadershipausbildung für Kinder. Da kommt VERA, wir fahren zu unserem letzten Comeniustreffen nach Slowenien, haben Auftritte mit unseren diversen Theatergruppen.
Wir haben unsere englische Partnerschule an drei Tagen zu Gast an unserer Schule und fahren mit 35 Kindern zwei Wochen später zum Gegenbesuch. Unsere drei LehramtsanwärterInnen werden von ihren MentorInnen betreut und haben Unterrichtsbesuche. Last but not least werden wir Zeugnisse schreiben, und das bei zwei fehlenden Klassenlehrerinnen.
Die üblichen und sonstigen Termine und Verpflichtungen seien im Einzelnen nicht aufgezählt. Unsere Schule läuft auf höchsten Touren – wir wissen, dass wir eine tolle Arbeit abliefern und allen macht eine solche Form der Belastung Freude!!!
Aber es macht keine Freude, wenn einem dann Zeit gestohlen wird, um sich mit „beleidigten“ Müttern auseinandersetzen zu müssen.
Ich bin betroffen, wenn diese Frau bei einem Elternabend über eine junge Kollegin, die gerade einmal 3 Wochen bei uns arbeitet, herfällt: „Hier wird nicht mehr gelernt!“, „Ich fordere Frontalunterricht, Schluss mit der Spielerei!“, „Sie müssen Hausaufgaben aufgeben, damit ich mein Kind kontrollieren kann!“
Ich habe mich in solchen Situationen des schlechten Benehmens und der falschen Anschuldigungen immer in aller Deutlichkeit vor meine Kolleginnen und Kollegen gestellt und werde dies auch in Zukunft tun. Für mich gehört dies zu meinen zentralen Aufgaben als Schulleitung, vor allem, wenn dieser Standpunkt der Mutter schon in anderen Situationen gegenüber anderen Kollegen von ihr vorgetragen wurde.
Hätte ich in der Vergangenheit jenen Eltern, die eine autoritäre Paukschule propagierten den Raum gegeben, den sie vehement einforderten, wäre die Grundschule Harmonie niemals da, wo sie jetzt ist.
Ich bin froh, dass die Zeit gekommen ist, in der Eltern durch die Abschaffung der Zwangsschulbezirke die Wahl „ihrer“ Schule vornehmen können. Die Mutter hat ihre Verantwortung übernommen und einen Wechsel zu einer anderen Schule beantragt.
Mit freundlichen Grüßen
(Walter Hövel, Grundschule Harmonie)
Kurz darauf schrieb ich den folgenden Brief an meine Kolleg*innen. Ich folgte meinem beschriebenen Weg nicht und blieb Schulleiter bis zur
Pensionierung.
Danach schufen Mächtige in der Verwaltung von Schulen ihren eigenen Rückschritt. Genug Menschen, abertausende von Kindern, über Eltern, Pädagog*innen und Gästen, Studierenden an Hochschulen, in
Vorträgen und Seminaren, in vielen Filmen, Büchern und Aufsätzen sahen aber, dass eine andere Praxis möglich ist.
Heute grinse ich!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
in den letzten Tagen haben einige Eltern ihre Kinder an anderen Eitorfern Grundschulen angemeldet. Nach „Grundschule Alzenbach“, wo man wahrscheinlich nach einigen Wechseln der Vergangenheit die Realität nun kennt, heißt die neue „Hoffnung für bekannte Schule“ „Grundschule Mühleip“.
Am Montag drängte sich eine Mutter mit der Frage in mein Büro, ob ich „paar Minuten“ Zeit hätte, es „wäre wichtig“. Sie teilte mir dann mit, dass sie ja schon immer unserer Schule kritisch gegenüber gestanden hätten, und dass sie deshalb ihr Kind in Mühleip anmelden wollten.
Dies war der berühmte Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte.
Alle Eltern haben natürlich das Recht sich für eine Schule ihrer Wahl zu entscheiden. Auch, wenn sie die Freigabe der Schulbezirke, nun dazu benutzen, sich nicht mehr der Auseinandersetzung mit Schule zu stellen, sondern Schulwechsel als Ausweichmanöver ihrer eigenen Probleme nutzen können. Aber auch dies ist ihr Recht, selbst wenn diese Entscheidung vielen Kindern den Schutzraum unseres Schultages wegnimmt.
Ich denke in diesen Tagen darüber nach, ob ich das Recht habe zu entscheiden, unter den heutigen bildungspolitischen und Eitorfer Bedingungen „Schule“ nicht mehr weiter leiten zu müssen.
Ich gehe nun seit 56 Jahren in Kindergärten, Schule und Hochschule. Den größten Teil meiner eigenen 22jährigen Schul- und Hochschulzeit habe ich unter dem Zwang und der Unfähigkeit der meisten Lehrer und der Selektionsideologie unseres Bildungssystems gelitten. Ich habe meine 34 Jahre als Lehrer an Grundschulen, Hauptschulen, Gesamtschulen, Berufskolleg, Fachhochschule, Pädagogischen Akademien und Universitäten, und 17 Jahre in Schulleitungen, anders gestaltet.
Zunehmend leide ich nun unter dem Druck und der Unfähigkeiten einer zunehmenden Zahl von Eltern.
Alle diese Eltern, die jetzt gehen, sind uns gut bekannt. Wir haben sie jahrelang weit über das Übliche hinaus, viele, viele Stunden in vielen Gesprächen und Situationen „beraten“ müssen.
In der Regel wünschen sie sich für ihr eigenes Kind autoritäre Strukturen des schulischen Lernens und Alltags, die sie bei uns vermissen.
Viele Eltern haben heute mit ihren Kindern Erziehungs- und Beziehungsprobleme und suchen in der Schule „Schuldige“ für Probleme, die sie bei sich nicht sehen wollen oder, die sie nicht lösen können. Sie haben Ängste und trauen ihren Kindern eher nicht.
Es sind allzu oft für heute typische Eltern, die ihre Kinder einerseits nicht loslassen können, sie über behüten und bevormunden, sie andererseits ohne Orientierungen und Zeit der Beschäftigung und Zuneigung alleine lassen. Es gibt zu viele Kinder, die in überfüllten Wochenprogrammen zu den Musiklehrern, Sport- oder Selbstverteidigungsvereinen, Ergo-Bewegungs-, Sprach- und Sonst-noch-was-Therapien, den Kinderpsychologen und Heilern gefahren werden, um anschließend noch Hausaufgaben zu machen, „weil die Schule ja keine aufgibt“.
Hier wird „Selbstständigkeit“ gerne missverstanden, als Freizeit von Kindern, in der man sich nicht um sie kümmern muss, hier entstehen Zeiten des Alleingelassenwerdens an Konsole oder der Fernbedienung oder der permanenten Fremdbestimmung durch zeitgeistige Bildungsangst und dessen Konsumangebote.
Wir wissen aus Erfahrungen, dass gerade an der Grundschule ach so kritische Eltern an den weiterführenden Schulen kein Wort mehr sagen, da nun - durch die Notengebung erwiesen - die Kinder an ihrer Misere selbst schuld sind. Hier gibt es dann jenen „Leistungs“begriff, der durch selbst finanzierte Nachhilfe nicht mehr für alle kaufbar ist.
Viele von den Eltern, die jetzt gehen, haben ihr zweites, sogar drittes Kind an unserer Schule. Und da beginnt es, dass ich die Abmeldungen persönlich nehme. Ich weiß, dass meine Leute eine wunderbare, oft selbst aufopfernde Arbeit leisten. Ich weiß, dass sie kein Kind verloren gehen lassen. Ich weiß, dass meine Lehrerinnen und Lehrer als Pädagogen Profis und Künstler zugleich sind. Ich weiß, dass an dieser Schule ein ganzes Team von Pädagogen für jedes einzelne Kind da ist. Ich weiß, dass unsere Schule für jedes Kind, auch die Kinder dieser Eltern, individuelle intelligente Wege des Lernens sucht und findet.
Und da ist die Stelle, wo ich keine Schule mehr leiten will. Mehr geht nicht und mehr kann ich nicht. Und an dieser Stelle bin ich zu empfindlich, da gehen meine Kräfte zu Ende. Da habe ich genügend Jahre Schule geleitet und frage mich, ob ich meine Sensibilität opfern muss, um diesen von einigen Eltern geprägten Alltag ertragen zu können. Ich beginne die Begegnung mit Eltern zu fürchten, weil ich die Dummheit ihrer Bildungsargumentation nicht mehr verarbeiten kann.
Zudem halte ich nichts von gegliederten Real- Haupt- Gesamtschulen oder Gymnasien, freien religiösen, elitären oder weltanschaulichen Schulen, Sonder-, Hilfs- oder Förderschulen. Ich habe den größten Teil meiner Berufszeit in der staatlichen „Regelschule“ mit verbindlichen Richtlinien und Lehrplänen gearbeitet, entweder in einer Schule für alle, wie Grund- oder Gesamtschule, oder in der Schule der Aufgegebenen, der Hauptschule.
Ich halte viel von besonderen Profilen, Vielfalt und besonderen Angeboten in Schulprogrammen und Schulalltag. Aber ich will, wie vor hunderten von Jahren schon Comenius, immer noch die Schule für alle.
Ich will kein staatliches Summerhill südlich von Köln leiten. Wenn diese „normalen, Leid geprüften“ Eltern gehen, wenn ich sie nicht mehr überzeugen kann, will ich keine Schule mehr leiten.
Hinzu kommt der Eitorfer Hintergrund, der mir 12 Jahre der Erfahrung mit übler Nachrede, Diffamierung, bewusster Falschdarstellung, Schmutzkampagnen und Attacken in vordemokratischer Manier brachte. Es zermürbt, wenn diese Vorurteile und geschürten Einstellungen über die „eigenen“ Eltern immer wieder in unserer Schule ankommen. Irgendwann geht die Kraft auch hier zu Ende.
Und da gibt es auch den Hintergrund der Unterversorgung der Schule durch zu wenig Reinigungs- Hausmeister- und Sekretariatspersonal, die Tatsache, dass Lehrerinnen und Lehrer fehlen und zu viele mit unseriösen Zeitverträgen arbeiten müssen, dass Politiker*innen sich nicht für eine Demokratisierung von Schule einsetzen, sondern wieder Noten einführen und nicht den Mut zur Schule in einer allseitig integrierten Form wie im restlichen Europa finden. Wir haben die wahrscheinlich schlechtesten Bildungsbedingungen in der gesamten europäischen Union.
Wenn wir in einer solchen Situation als eine besonders gute Schule herausgehoben werden, dann ist die Realität mit diesen Eltern und ihrem bildungspolitischen Hintergrund für mich umso unerträglicher. Ich kann mich vor diesen Menschen und ihren Diffamierungen nicht mehr schützen.
Ich werde außerhalb von Eitorf, ohne die Grundschule Harmonie und, wenn es geht ohne Grundschule, versuchen einen Weg zu finden, der mich meine letzten sieben Dienstjahre überstehen lässt.
Ich wünsche mir, dass Ihr mehr Kraft habt und euren Weg weitergeht!
Walter