Walter Hövel

 

Kinder erleben heute eine Ausbildungskindheit

 

Wir sind die Ausbilder

 

 

 

Kinder erleben etwas, was es im Rahmen unserer Kenntnisse so gezielt und geplant niemals gegeben hat: eine Ausbildungskindheit. Sie werden über viele Jahre trainiert. Sie wachsen nicht mehr „zwischen“ uns und mit uns, im Dorf, in der Familie, der Großfamilie, in der Straße oder an unseren Arbeitsplätzen auf.

 

Natürlich lernen Kinder immer noch von „ihren“ Erwachsenen, imitieren sie oder wenden sich - erwachsen werdend - von ihnen ab. Kinder waren immer Kinder ihrer Zeit. Doch die „Erwachsenen“, also die vorherigen Kinder, sind sich ihrer erzieherischen und bildenden Beeinflussung bewusster denn je.

 

Oder gilt die andere Aussage? Die Zeit und ihre Kinder werden von jenen gemacht, die die Macht über die Menschen und ihre Zeit haben? Wir erziehen uns im Auftrag der herrschenden Wirtschaftsunternehmen und ihrer Banken, Politiker und Medien – widersprechend oder nicht - selbst zu Wohlstand, Konsumententum und funktionierenden Bürgern. Wenn das so ist gilt zumindest die Erkenntnis, dass dies nie widerspruchsfrei gelingt. Die Sehnsucht nach Freiheit und einer besseren Welt sind nicht auslöschbar. Diese Sehnsucht scheint das Würde-Ventil in der Maschinerie des Strebens nach Wertsteigerung im Leben des Menschen zu sein.

 

Wir, die Erwachsenen schicken Kinder in ihren jüngsten Jahren in Kindertagesstätten oder eine Kinderfrau kommt, während wir wo anders arbeiten müssen oder wollen. Wir schicken sie zur Grundschule, zur weiterführenden Schule. Sie lernen Berufe, studieren oder gründen – allerdings ohne staatliche Ausbildung - eigene Existenzen. In der Regel verlassen Kinder – ausgebildet – das Zuhause.

 

Der Staat und die Gesellschaft produzieren ohne Unterlass widersprüchlichste Programme, Rezepturen, Beratungen und Knowhows zur Ausbildung gewünschter Verhaltensweisen, Haltungen und Handlungen. Es entstehen gewünschte Bilder vom erwachsenen mündigen partizipativen heterogenen Bürger. Zumindest in den Programmen.

 

Da sind Gesetze, internationale Abkommen, Curricula für Kindergarten, Schule und Hochschule. Da wirkt ein Heer von psychologischen und gesundheitlichen Ratgebern, die gegen teures Geld privat bis staatlich, vorbeugend und Folgen behandelnd, eingesetzt werden. Da gibt es ein Riesenheer von Ratgebern in den elektronischen Medien, in Funk und Fernsehen, in der Presse und auf dem Büchermarkt. Da überschlagen sich Projekte und Kampagnen. Da gibt es ein Wissen, dass im Gespräch vor dem Kindergartentor oder auf einer der Kindergeburtstagsparties, per WhatsApp, in Partner- und Familiengesprächen, in Vereinen und Freundschaften ausgetauscht und verfestigt wird. Meistens sind die Eltern Subjekte oder Objekte der Beratung, nicht die Kinder.

 

Zu immer intensiveren Helikoptertaten, demokratisierten Konzepten, psychologisch tief durchdachten Herangehensweisen oder erzieherischen Hilflosigkeit treibt den Erwachsenen „das schlechte Gewissen zu wenig Zeit für die Kinder zu haben“.

 

Erwachsene müssen sich etwas Neues einfallen lassen, angesichts des Zwangs zum immer mehr Zeit verschlingenden beruflichen und sozialen Überleben bis zum Überlegensein durch Arbeit.

 

Viele Menschen bleiben kinderlos, single, binden sich spät in Ehe, Partnerschaft oder gar Elternschaft - mit oder ohne Siegel. Die Preise, die Erwachsene für die Aufzucht ihrer Nachkommenzahlen zahlen, steigt. Auch Impotenz und Unfruchtbarkeit oder die Ablehnung der eigenen Verantwortungs- und Erziehungsfähigkeit wachsen. Der Wunsch nach alten „bewährten“, wie der Wunsch nach alternativen spirituellen Erziehungsmethoden erklingt. Wieder andere wollen sich „auf ihren Instinkt“ oder die Wissenschaften oder die Kraft des kooperativen Miteinander-Redens verlassen.

 

Wir haben oft das Gefühl, dass unsere Kinder einen Preis dafür bezahlen, dass es in unserer Gesellschaft die verschiedensten Formen der Armut gibt. Da sind die schreiende oder die sozial abgesicherte, aber entwürdigende Armut. Da gibt es die Armut des rechten rassistischen, aggressiven, fremden- und frauenfeindlichen Denkens. Es herrscht die Armut des Stresses und Überanstrengung bis zum physischen und psychischen Zusammenbruch. Andere tendieren zur Armut des libertären Sich-nur-um-sich-selbst-Kümmerns. Bestimmen tut die Armut der ethischen und sozialen Rücksichtslosigkeit in Aufsichtsräten der Banken, Konzerne und Agenturen. Sie erhält die Armut des Konsums in Reichtum.

 

Wir denken an unsere Versorgung. Wir denken an die spürbare qualitative Verschlechterung unserer Lebensbedingungen durch Arbeit, Versicherungen, Ernährung und Gesundheit. Gegen die Vermassung und die hemmungslose Gewinnorientierung der Wirtschaft stellen wir mehr und mehr die Sorge um unser Menschsein, unsere Menschenrechte, unser Miteinander und unser Leben.

 

Wir wollen – wie einst unsere Vorfahren – immer noch ein besseres Leben als wir es hatten für unsere Kinder. Hierbei geht es flächendeckend zu allererst noch immer um den Erhalt der gesellschaftlichen Position oder den sozialen Aufstieg. Aber mehr und mehr wandeln wir unseren Blick weg von einem zu bezahlenden Wertebegriff hin zu einer gegebenen Wichtigkeit der Würde jedes Menschen.

 

Mehr und mehr verlagern wir – aus Zeit-, Gewissens- und ökonomischen Gründen – unsere Erziehung raus aus der Familie, raus aus dem Dorf hinein in die Hände von Erziehungs- und Bildungsspezialisten.

 

Wir lernen unseren Kindern eine neue Welt der staatlichen und gesellschaftlichen Ausbildung zu formen. Die einen versuchen dies mit individuellen Lösungen dadurch, dass sie dazu das Geld und die Privilegien haben. Andere wirken mit an der Erweiterung der gesellschaftlichen Bewusstheit um Kinderrechte als Menschenrechte, Demokratie, Autonomie, Freiheit, Individualität, Glück und Inklusion.

 

Immer wieder versuchen Erwachsene, auch die „eigenen Ausschweifungen“ ablehnend, eine „bessere Ausbildung“ für ihre Kindern anzubieten, die dann auch die eigene Praxis, unseren Weg zu leben überwinden, oder zumindest verbessern könnte.

 

Wie leben Kinder, Menschen in unserem Kulturkreis heute?

 

Von ihrer Geburt an erleben Kinder eine Kleinstfamilie, bestenfalls eine Kleinfamilie. Größere Familienverbände mit mehreren Generationen blieben fast so selten erhalten, wie Wohngemeinschaften oder größere Wohnprojekte gegründet wurden.

 

Die heute klassische Kleinfamilie besteht in der Regel aus einer Frau und einem Mann, oft Vater oder Mutter. Die beiden können schon gleichgeschlechtlich sein. Auch andere Selbstdefinitionen des Genders werden möglich. Viele Kinder erleben das Zuhause nur mit einer festen Bezugsperson. Die andere ist bereits ausgezogen oder „immer unterwegs“. Viele Kinder wachsen „alleinerziehend“ auf. Kinder erleben weniger Familienleben. Mindestens einer der elterlichen Partner muss arbeiten, der andere oft genug den Billigjob erhalten. Eine nie dagewesene Zahl von Kindern lebt in Heimen, bei Ersatzeltern oder in anderen privaten und öffentlichen Einrichtungen. Der Staat und die Gesellschaft achten mehr denn je auf das „Kindeswohl“.

 

Andere Kinder erleben ein scheinbares Gegenteil. Beide Elternteile sind arbeitslos, was das Familienleben nicht unbedingt bereichert. Erwachsene, als sozial, psychisch oder politisch Ausgeschlossene, „bekommen ihr Leben nicht auf die Reihe“. Das Kind findet kein Vorbild um selbst anders erwachsen werden zu können.

 

In unserer neuen Zeit müssen Kinder aber umso mehr ihre Bindungen und ihre Würde bestätigt und ihre Bezugspersonen, Freunde, Werte, ihr Vertrauen, ihre Weltsicht und ihren Lebenssinn finden.

 

Mangels einer Umgebung in Familie oder Dorf, die bisher das Aufwachsen prägten, schaffen Staat und Gesellschaft Ersatzwelten der Ausbildung von Fähigkeiten zum Wachsen und zum Erwachsenwerden.

 

Viele Kinder müssen in Heimen untergebracht werden. Eltern sind so überfordert, dass nur Erzieher oder Ersatzeltern angesichts des Missbrauchs, Nichtkönnens, der Drogensucht oder anderer Unfähigkeiten der eigenen Eltern ihnen noch eine Lebenschance geben.

 

Einige Kinder haben ein, zwei, selten mehr Geschwister. In der Regel sehen sie diese seltener, da gerade ältere Geschwister in Kindertagesstätten untergebracht sind. In dieser Zeit lernen sie das Reden und Gehen, vor allem aber sich dem Alltag der Erwachsenen, Eltern genannt, anzupassen. Sie lernen weniger das Wahrnehmen, Fragen, das aus Fehlern lernen und das tastende und versuchende Menschwerden in der Sicherheit lebender Familienverbände. Die kindlichen und erwachsenen Vorbilder für den Aufbau des eigenen Lebens und der eigenen Persönlichkeit finden sie immer weniger in ihren Familien und „Dörfern“. Sie reduzieren sich oft auf die Mutter oder Aufsichtspersonen. Ihre „Ausbilder“ finden sie immer mehr in den Medien, in gleichaltrigen Freundeskreisen, später in KiTa und Schulen. Mütter lassen zu oft ihre Kinder nicht mehr los. Um sie zu schützen, um nichts falsch zu machen, lassen sie nicht mehr von der Aufsicht und Kontrolle ihrer Kinder.

 

In der Regel kommen die Kinder heute mit einem oder zwei Jahren in eine Kindertagesstätte. Dort sind sie den ganzen Vormittag, schlafen dort und werden vielleicht um 14 Uhr – oder später – abgeholt. In diesen wohlbehütenden Aufbewahrungsstätten mit Abenteuerlandschaften in Räumen und um den Hort herum, mit frühmusikalischen und künstlerischen Angeboten, mit Übungen für den Körper und den Geist, für die Selbstwahrnehmung und die soziale Erziehung, werden nun die Kinder zum Leben ausgebildet. Einige begegnen mathematischen und naturwissenschaftlichen Materialien und Fragestellungen. Sie lernen sich und ihre Emotionen im Kreis und im Gespräch auszudrücken. Mühsam werden sie vor der Langeweile der Computer, oder besser vor den Computern, die sie von ihrer Langeweile ablenken, durch Eigenaktivitätsangebote weggelockt. Einigen wird vorgelesen und ziehen ihre Lieblingsbücher den faszinierenden Tonträgern vor. Es bleibt aber eine Instantwelt, der die Kinder der Familie, ist sie auch noch so miserabel, vorziehen müssen.

 

Mit 5 bis 7 Jahren kommen sie in eine Schule. Wenn die Kinder Glück haben, wird dieses spielerische, oft am Natürlichen orientierte Lernen der KiTa fortgesetzt. Für die Mehrzahl der Erwachsenen gilt aber nun, dass den Kindern etwas „beigebracht“ wird.

 

Zu der Fortsetzung der basalen Grundausbildungen der Kindertagesstätten kommen die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen und die neue Kulturtechnik im Umgang mit Computern und Medien. Bei einer guten Qualität der Schule geht um das Problemfinden, Lösen, Forschen und Experimentieren in sachunterrichtlichen, mathematischen und künstlerischen Zusammenhängen. Kinder lernen in guten Schulen und laut Richtlinien und Lehrplänen das gemeinschaftliche kreative und selbstverantwortliche Denken und Handeln. Sie werden erzogen zu Flexibilität und Funktionieren in sich ändernden Situationen. Sie begegnen dem gesunden Essen und dem selbst optimierenden Umgang mit Bewegung und Sport.

 

Viele Eltern erwarten von Schule, dass sie an ihren Kindern nun korrigiert, was in der frühen Erziehung der Familie schiefging. Dabei achten sie peinlich darauf, dass ihren Kindern keine Nachteile entstehen und dass alles an ihnen „repariert“ wird, - ohne ihre Freiheit einzuschränken.

 

Leider sind zu viele Grundschulen noch von der Umsetzung dieser Aufgaben der ganzheitlichen, professionellen, pädagogisch gekonnten und fachlich qualifizierten Ausbildung entfernt. Sie kämpfen mangels Personal und guter eigener Bildung zum veränderten Denken und Handeln meist um die Umsetzung des täglichen Lehrplans, also darum, die Schule als System zu erhalten.

 

Nach dieser dritten Grundausbildung werden die Kinder in Deutschland und anderen deutschsprachigen Ländern mit 10 Jahren selektiert. Die eine Hälfte kommt in die zukunftsorientierende staatliche „Schulbildung“, die auf Beruf, „Freizeit“ und Verwaltung vorbereitet.

 

Die andere erhält die Chance doch noch über Schule, Erziehung und Ausbildung in den arbeitenden Teil der Gesellschaft zu kommen. Ihre Aufgabe lautet herauszufinden aus der gesellschaftlichen Resteverwertung zur Vorbereitung auf Gelegenheitsjobs, Arbeitslosigkeit als Reserve des Markts oder nicht mehr zu vermittelnder, also staatlich zu versorgender Aussichtslosigkeit. Zu viele bleiben ohne oder mit zu niedrigen Abschlüssen, als funktionale Analphabeten, als „Sonder- oder Förderschüler“ in ihrer gesellschaftlich unterprivilegierten Lage stecken.

 

Die Kinder richtig reicher Leute durchlaufen - gestützt durch häusliche oder professionelle Nachhilfe und Geld – die bessere staatliche Ausbildung oder genießen besondere Ausbildungsprivilegien in Privatschulen und Internaten.

 

Nach dem 9. oder 10. Schuljahr durchlaufen einige noch ihre Berufsschulpflicht um in Jugendarbeitslosigkeit, Ghettodasein oder auf einem grau-schwarzen Arbeitsmarkt zu landen. Das duale System, noch immer Favorit vieler Politiker, sah noch vor, dass Jugendliche entweder arbeiten oder studieren. Die Tendenz zu mehr Bildung und die Einstellung der Industrie von mehr Abiturienten in Lehrberufe, führte zur Reaktion der Eltern ihre Kinder an Gymnasien oder alternativen gesamtschulischen Einrichtungen unterbringen zu wollen.

 

Wer also die Ausbildung mit Abitur oder Handwerksabschluss noch schafft, geht studieren oder arbeiten. Beide Gruppen werden weiter ausgebildet! Die an den Universitäten erfahren dies öfter schlechter und oberflächlicher als die in Betrieben, Verwaltung, Bundeswehr oder Polizei. Hier gibt es überall ausgeklügelte und entwickelte eigene Weiter- und Fortbildungsarbeit. Firmen und Einrichtungen investieren gerne in die eigene Weiter- und Ausbildung.

 

Selbst arbeitslose Jugendliche werden von Jobcentern und Arbeitsämtern weiter und weiter fortgebildet und geschult.

 

Andere bleiben in ihrer universitären Ausbildung stecken und „steigen aus“. Andere bekommen nach der Ausbildung keinen Job. Wieder andere halten ihre Jobs nicht aus. Sie brennen aus, werden krank oder brauchen psychologische, medizinische oder soziale Betreuung. Wieder andere ziehen ihre Jobkarriere dem familiären oder verantwortlich gesellschaftlichen Leben vor. Sie definieren sich über Besitz und Geld.

 

Einige schaffen es jahrzehntelang bis zur Pensionierung zu arbeiten. Die Mehrzahl der Lehrer*innen und Polizist*innen nicht. Soldaten, Feuerwehrleute oder Flieger müssen eh früher in den „Ruhestand“. Andere werden vorher entlassen, weil die Betriebe sie nicht mehr brauchen. Sie brauchen – zudem oft „billigere“ Mitarbeiter*innen mit neuen besseren Qualifikationen. Alte Menschen werden vielen Betrieben „zu teuer“.

 

Ein Heer arbeitsloser und nicht-arbeitender junger Menschen gesellt sich zum immer größer werdenden Heer alter Menschen. Die Zahl der Alten, Ausgedienten, nicht mehr Arbeitsfähigen wird immer größer. Staat, Kirchen, Altenversorgungsfirmen, Pflegedienst, das „betreute Wohnen“ oder Krankenkassen wollen die Leute fit halten. Sie bieten weiteres Lernen, „lebenslanges Lernen“, weitere Ausbildung bis zum Tod an…

 

Der Mensch wird heute von Kindheit an bis in das hohe Alter ausgebildet. Viele bleiben lenkbar, kontrollierbar und veränderbar, nach den Bedingungen, die die Lenkenden und Kontrollierenden brauchen.

 

Dies ist heute die Aufgabe von „Bildung“. Es geht nicht mehr um ein generelles Wissen von genial gebildeten Menschen, die alles wissen und vieles Können.

 

Das Wissen ist heute unüberschaubar, aber gesammelt in elektronischen Medien. Es ist – mit Geld und Macht – schwerer zu beherrschen als das Wissen in Büchern und Wissenschaften. Das Wissen der Welt ist auch nicht kontrollierbaren Hackern, Whistleblowern und anderen Computerfreaks zugänglich, somit prinzipiell allen Menschen.

 

Dies lenkt weg von pädagogischen, erzieherischen, erziehungswissenschaftlichen und schulischen Modellen. Die Menschen brauchen ein neues Bild von Lehrern und Lernern in Heterogenität und Vielfalt. Es geht „lernwärts“ zu einer Individualisierung des Umgangs mit Wissen. Der Lernbegriff verändert sich „lernerwärts“.

 

In der Schule von heute geht es nicht nur um eine Modernisierung zur größeren Konkurrenzfähigkeit der eigenen Wirtschaft, sondern um die Durchsetzung eines Lernsystems, dass die Rolle des Lerners, entstanden mit seiner Lernerpersönlichkeit, in den Mittelpunkt stellt.

 

Wie lebten Kinder in der Vergangenheit?

 

Setzen wir einmal die bisherige Existenzzeit der Menschheit, wie die Wissenschaften, mit vier Millionen bis einer Million Jahre an.

 

Somit hätten wir eine erste, nahezu unbestimmte Phase von etwa drei Millionen Jahren, in denen die Wissenschaften sich einmal nicht sicher sind, ob es sich um eine „animalische“ oder „menschliche“ Periode des Menschen handelt. Der Einfachheit halber gehe ich im Folgenden von einer Menschheitsgeschichte von einer Million Jahren aus.

 

Vor gut 100.000 Jahren begann der Mensch zu sprechen. Von der „menschliche Phase“ davor, wissen wir eigentlich nichts.

 

Wir können - wie in allen Fragen - aus dem Verhalten unserer tierischen Mitbewohner, ganz wenigen noch existierenden „primitiven“ menschlichen Gruppen und ganz wenigen Funden Schlüsse ziehen. Darüber, wie auch vor 100.000 Jahren Kindheit aussah, wissen wir schlicht nichts.

 

Unterstellen wir, dass Menschen, so wie Tiere, lange, sehr lange, in ihrer Gemeinschaft aufwuchsen. Es entsteht die Vermutung einer sozialen Rangfolge, die über das Zeugen des Nachwuchses, medizinische, künstlerische, rituelle Kenntnisse, die Reihenfolge beim Essen und Trinken, den Aufenthaltsort, das mögliche Aggressionsverhalten und das Reisen entscheidet.

 

Vor etwa 10.000 Jahren entstehen mit den Früh- und Hochkulturen Städte und erste staatliche Gebilde. Erste Zeugen vom Zusammenleben der Menschen treten aus dem Dunkel unserer Geschichte.

 

Wir zählen heute gerade mal etwas mehr als 2000 Jahre „unserer“ Geschichtsschreibung. Die älteste Zählung, die der Juden kommt nicht einmal auf 5.8oo Jahre. Der älteste Kalender soll 10.000 Jahre alt sein. Bei tausend mal tausend Jahren bewussterer Menschheitsgeschichte, bleibt also gerade mal eine Zeitspanne von 1% für die bekanntere Geschichte gegenüber der Gesamtgeschichte.

 

Die Abertausende von Jahren des „Dunkels der Vorzeit“ nannte Marx einmal den Urkommunismus. Wir vermuten, dass es hier keine Herrschaft im Sinne einer ökonomischen Abhängigkeit von Menschen gegeben hat. Wir können des Weiteren nur vermuten, dass es eine Kindheit der ersten sieben Jahre gab und danach höchstens eine Spezialisierung der Tätigkeiten innerhalb und für die Gemeinschaft.

 

Menschen wissen über mehr als die Hälfte dieser fast 10.000 Jahre wieder kaum etwas Genaues. Wir wissen, dass Menschen weiterhin viele tausend Jahre eine Kindheit erleben, die dadurch geprägt ist, dass sie so lange als Kind lernen, bis sie mit den anderen mitarbeiten können.

 

Das Alter für Kinder dürfte biologisch als Fähigkeit zur eigenen Versorgung mit 6 bis 7 Jahren, sozial, als sexuelle Reife, mit ca. 10 – 13 Jahren anzusetzen sein. „Echte“ Kindheit dauerte also ca. sechs bis sieben Jahre. Das ist die Zeit in der Kinder heutzutage zuhause bleiben und in den Kindergarten „geschickt werden“. Was ein Menschenleben zu Zeiten des angenommenen „Urkommunismus“ wert war, wissen wir nicht. Anzunehmen ist eine hohe Kindersterblichkeit und relative Gleichheit aller menschlichen Wesen in den menschlichen Gesellschaften.

 

Von den letzten 6 der 10 Tausend Jahre wissen wir, dass mit Herrschaft, Arbeitsteilung, Krieg, Eroberungswanderungen und Armut Menschleben wenig wert waren. Soldaten, Bauern, Sklaven, Leibeigene, Tagelöhner, Frauen und Kinder starben schnell und rücksichtslos.

 

Die Idee von Freiheit, Menschenrechten und dem Recht auf Leben und Glück begann zu wachsen. Dass dies auch für Kinder gelten könnte, „entdeckten“ die Menschen erst vor etwa hundert Jahren.

 

Vor der bürgerlichen Revolution war die Kindheit im Regelfall vorbei, wenn Kinder zum „Arbeiten“ im Dorf, auf dem Acker, mit dem Vieh oder als Sklave oder Knecht in anderen Haushalten, je nach Sichtweise missbraucht, versorgt oder aufgenommen wurden.

 

In dieser Zeit gab es für das „gemeine“ Volk, also fast alle, weder Lehrkräfte, noch Schule, noch Ausbildung, noch Bildung. Alle lernten alles in der Gemeinschaft der Sippe, des Dorfes, der menschlichen Gemeinschaft. Das Wissen und seine Erkenntnis waren ganzheitlich Teil der Gemeinschaft. Die Geschichte der Familie und Ereignisse der Vergangenheit wurden per Erzählung mündlich weiter gegeben. Jedes andere Wissen war im Handeln, in Sprache, Kunst und Tanz aller als sichtbares und erlebbares Wissen zu finden. Wissen über Ernährung, Wohnen, Kleidung, Kochen, Handwerke, das Heilen und Kinderkriegen, der Jagd, das Sterben und Gebären gab es als „Volkswissen“. Herrschaftswissen gab es in Händen der Religionen und Kirchen als herrschende Lehre. Sie arbeiteten der adligen Oberschicht zu.

 

Die Kinder des Volks konnten – wie alle anderen – „nur“ das, was sie in der Gemeinschaft gelernt hatten. Wie sagte John Lennon einmal schelmisch in einem Interview: „We Are All Fucking Peasants!“, und meinte unser aller Herkunft.

 

Selbst Adlige lernten kein Lesen und Schreiben. Es war „unter ihrer Würde“, die Anderen, die weit über 90prozentige Mehrheit der Bevölkerung durfte erst gar nicht. Wie schon in den Hochkulturen lernten nur sehr wenige Angehörige des Volkes Schrift und Bilder zu meißeln, ritzen, kopieren, schreiben, malen oder lesen. Die Herrschenden hielten sich eine Kaste von „gebildeten“ Menschen, aus der unsere Kirchen entstanden sind. Sie alle sprachen sogar andere Sprachen, um nicht – so wird gerne unterstellt - verstanden zu werden.

 

Mit der Entstehung des Bürgertums entstanden im 16.Jahrhundert die Menschenrechte. Mit den Menschenrechten der Gedanke, dass jeder Mensch (!) einen Wert, ja sogar die gleiche Würde und ein Recht auf Bildung hat.

 

Die Heere der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken, und der Bürokraten in Polizei, Armee und Verwaltung mussten mehr können als Menschen vorher. Die Büchse der Pandora, die das Feuer der Bildung beheimatete, musste geöffnet werden, damit Firmen konkurrenzfähig wurden.

 

Die Arbeitervereine, die Parteien und Gewerkschaften brauchten lange bis sie das Recht auf Schule für jeden Menschen durchgekämpft hatten. Schließlich liefen die Produktion und das Verdienen für das Bürgertum im Bündnis mit den anderen Reichen, also den feudalen Landbesitzern, Militärs, Würdenträgern und Großgrundbesitzern besser.

 

Die Investition in die eigene Zukunft fällt auch heute noch vielen Herren und Damen der Betriebe, Banken und der sich nach vorne drängenden Medienbranche schwer, da der sofortige Profit maximiert werden muss. In Bildung wird nicht so gerne investiert, besonders in Deutschland.

 

Für etwa 200 Jahre wird das Leben von der Kleinfamilie geprägt. Die Verantwortung für die Erziehung wurde Sache der Familie. Die Bildung behielt sich der Staat als monopolistisches Recht vor.

 

Die Verantwortung für die Familie, die Kinder und deren Bildung wurde mehr denn je auf die Frauen abgewälzt, bis sie auch – in doppelter Belastung- in den Bildungs-und Arbeitsprozess eingegliedert wurde.

 

So sind Kinder heute bei uns dort angekommen, wie sie gebraucht werden. Wir brauchen in der Machart, in der Zeitwahl und im Kontrollverfahren ganz anders auszubildende Kinder!

 

Dabei ist das, was mit den Kindern geschieht nur Spiegelbild des Lebens der Erwachsenen. Die Veränderung der Menschen, die nur das gelernt hatten, was alle konnten, begannen mehr für sich selbst zu fordern!

 

Forderungen mussten formuliert werden. Es bildete, wenn „die Heilige Schrift“ in der Sprache aller erschien, wenn die Kinder aller Lesen, Schreiben und Rechnen lernten, wenn sie Zugang zur gesellschaftlichen Reichtum geistig und real fanden, wenn sie alle Informationen besaßen, die sie wollten.

 

Nun steht die Frage, ob die Menschen zum Funktionieren ausgebildet werden oder ob sie das Recht durchsetzen sich selbst zu bilden. Lassen die Kinder sich besser ausbilden, damit sie noch mehr für die beherrschenden und führenden Familien leisten oder nehmen sie mit ihrer Erziehung und Bildung ihr eigenes Leben in die Hand.

 

“Kinder von 12 oder 13 Jahren an haben bereits sehr lange Schultage und zusätzlich abends zwei, drei oder mehr Stunden Hausaufgaben. (…) Lange bevor sie in eine höhere Schule eintreten, werden viele Kinder einer Arbeitswoche von 70 Stunden oder mehr unterworfen. Seit den frühen und brutalen Tagen der industriellen Revolution haben Kinder nie mehr so hart gearbeitet” (John Holt).

 

Somit muss die Frage gestellt sein, was unsere Kinder in ihrer Ausbildungskindheit wie erleben. Die Öffnung der Gesellschaft braucht die vollständige Öffnung ihres Lernens. Wenn die Menschen erwachsen werden wollen, müssen sie ihre eigenen Kinder anerkennen.

 

„Das Kind verkörpert die Zukunft, auf die jedes politische Handeln bezogen sein muss“[1]

 

Brauchen die Kinder der Zukunft die heutige Schule?

 

Die heutige Schule ist als Lernsystem für das Gros der Bevölkerung alternativlos, auch wenn sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllt. Der Staat hat sich verhoben. In seiner Schul-, Bildungs- und Ausbildungsarbeit hechelt er ständig seinen eigenen Ansprüchen hinterher.

 

Er nimmt im Namen der Gesellschaft der Familie, den Eltern zunächst die alleinige Verantwortung für ihre Kinder weg und zwingt diese mehr und mehr in seine Ausbildung. Diese findet in einer Realität statt, die – mit steigender Schulform - eher das Bürgertum mit seinen Privilegien formt als der Staat als Vertreter der Gesamtgemeinschaft.

 

Reiche Bürger suchen ihren Ausweg in Privatschulen und Internaten. Andere suchen traditionell kirchliche, andere alternative freie Einrichtungen. Private Schulen werden mit einem Besuch von gut 12% als „Randerscheinung“ abgetan. Die Zahl privater Fach- und Fachhochschulen steigt noch deutlicher. Schüler*innen der staatlichen Schulen wiederum werden in steigender Zahl krank, „versagen“ oder schwänzen.

 

Schule geschieht einerseits, im Interesse von Unternehmen, Banken, und Verwaltung, um die Zeit der Menschen als Arbeitszeit flexibel abgreifen zu können. Andererseits schlägt dies bereits durch psychische und physische Krankheiten, durch soziale Lethargie, Verwahrlosung und Verarmung zurück.

 

Entscheidend aber ist, dass die Kernzeit der Kindheit bereits von einer heute fast den ganzen Tag (Ganztag) umfassenden 10 jährigen Pflichtschule besetzt ist. Hinzu kommt die heute fast fünfjährige Kindergartenzeit, die bereits mit anderthalb Jahren beginnen sollte und eine dreijährige Oberstufe, die der Pflichtschule folgt.

 

Dann folgt eine dreijährige oder noch längere Hochschulausbildung. Wenn vor mehr als dreihundert Jahren für die meisten Kinder noch eine Zeit der Kindheit wenigsten bis zur Arbeits- oder Geschlechtsfähigkeit existierte, gibt es heute eine Zeit der Kinder- und Jugendausbildung, die eher an bekannte Arbeitsbedingungen als an erwünschte Kindheit erinnert.

 

Auf dieses Schicksal der Kinder zu schauen ist das eine. Auf die Folgen schwerer, und in manchen Fällen kompletter Überforderung des Personals in Kindergärten, Schulen und Hochschulen das andere.

 

Eine an Wissen und Informationen überquellende im Nanosekundentakt arbeitende Mediengesellschaft, der Anspruch der Bestimmung und Kontrollierens der gesamten Erziehung und Bildung junger Menschen sind nur zwei zentrale Punkte, die jeden, wirklich jeden Pädagogen, Lehrer oder Ausbilder überfordern.

 

Die Schule der Zukunft, wenn sie dann noch „Schule“ heißen müsste, kann nicht mehr nur nicht die unterrichtende, testende und selektierende Veranstaltung zur Belehrung funktionierender Absolventen sein. Sie wird den eigenen, weiter steigenden Anspruch an eine zeitgemäße Bildung und Erziehung durch das Fehlen personeller Ressourcen nicht ansatzweise gewährleisten.

 

Die Zukunft hat nicht mehr das Problem der Modernen Schule, sondern eines modernen Lernens.

 

 

 

Auch noch mehr frei, alternativ oder anders ausgebildete Lehrkräfte, noch so gute, besser qualifizierte Fachlehrerinnen und Fachlehrer, noch so gut ausgebildete und erziehungswissen-schaftlich gebildete Pädagogen werden dem ständig wachsenden Anspruch und der wachsenden Geschwindigkeit des Lernens immer weniger gerecht werden können [2].

 

Zwischen Bildung und Ausbildung

 

Früher war es klar. Das Gros der Menschen war ungebildet, der Rest gebildet. Erste Herrscher bis in die Zeit der Herrschaft des Adels hielten sich Priester*innen, die jene Bildung reservierten, die zur Aufrechterhaltung von Herrschaft nötig war.

 

Das Bürgertum erfand die herausragende Rolle der Wissenschaft und die Forderung nach Bildung für alle als Befreiung von der Macht der Kirchen und Fürsten. Sie meinten zu Beginn eine Bildung und die damit verbundene Macht für sich selbst als männlichen bestimmenden Teil der Gesellschaft. Gebildet waren nicht nur der Arzt und der Anwalt, der –gegen Bezahlung durch die, die es sich leisten können – den Kunden erklären konnten, was sie taten. Das Bürgertum begann eine „Bildung“ zu konservieren, die ihnen in Salongesprächen über Literatur, Politik oder Naturwissenschaften, ihre Überlegenheit als Bürger – nach unten und oben – bewies.

 

Sie rühmten sich der Zielsetzung einer „Bildung“, eines Begriffs, den es übrigens nur im Deutschen gibt! Sie begannen recht früh, ihre eigenen Söhne auszubilden. Sie gingen zu „Realschulen“, um das Geschäftemachen und die Leitung der Verwaltung zu erlernen und gingen zu „Gymnasien“, um in einem Studium den „standesgemäßen“ Doktor für die „höheren Aufgaben“ in Staat und Gesellschaft zu machen.

 

Das Bürgertum war aber bald mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert. Einerseits wollten die eigenen Frauen, bald die eigenen Kinder eine vergrößerte Teilhabe an der Bildung und die daraus entspringenden Rechte.

 

Sie versuchten zur Etablierung ihrer Macht das „Erziehungssystem“ zu dreiteilen[3]. Sie forderten die Schule für jene, die Befehle in Empfang nahmen und sie ausführten. Sie forderten eine separierte Schule, die jene heranzüchteten, die die Befehle gaben und vermittelten. Last but not least wollten sie eine separierte Schule für jene, die die Befehle machten. So entstand ein deutsches Kastenwesen mit der „Ausbildung“ in Volks/Haupt/Sekundarschulen und in Realschulen und einer „Bildung“ in Gymnasien und Universitäten. Mit der Beibehaltung des Gymnasiums als „Bildungsanstalt für den besseren Teil“ der Gesellschaft sonderten sich die deutschsprechenden Länder vom Rest der Welt ab. Die USA machten schon seit 1900 die Gesamtschule zur Einheitsschule, 1917 folgte Russland, in den 1950ern China und spätestens in den 1970er Jahren Europa. Sie benutzen heute die „eigene Bildung der Reichen“ in privaten Eliteschulen.

 

Die besonders deutsche zusätzliche Absonderung in Hilfs/Sonder- und Förderschulen wurde von der internationalen Staatengemeinschaft im Zuge der Einführung der Inklusion erst nach dem Jahr 2000 geächtet. Noch heute, 2017 tuen sich Deutschland und Österreich schwer, die Sonder- und Förderschulen abzuschaffen.

 

Der zentrale Begriff zur Aufrechterhaltung eines die Bürgerlichen bevorzugenden Schulsystems ist der Begriff der „Bildung“ [4]. Die Übersetzungen anderer Sprachen entledigen sich dieser Probleme bereits durch die Sprache. Sie benutzen Erziehung, also Edukation“, „Kultur“ und „Training“. Vor allem der Begriff des „Lernens“ scheint mir zukunftsweisend. In der deutsch-englischen Übersetzung müsste die Überschrift dieses Aufsatzes heißen: „Nowadays Children are trained“. In English hieße er vielleicht: „Today Children Are Experiencing A Childhood In Which They Are Educated How To Do It Better“[5]

 

So lässt sich auch die fehlende einheitliche Lobby der Erziehung in Deutschland schon an der Verschiedenheit von Namen erkennen: „Verband Bildung und Erziehung“, „Deutscher Lehrerverband“ oder „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“. Das ist ein Beispiel für Schwäche durch Vielfalt.

 

Armut ist das entscheidende Problem vor allen anderen!

 

Spätestens in den 1980er Jahren wurde uns eine Zwei-Drittelgesellschaft prognostiziert. Aber es kam anders. Ein Drittel und mehr ist arm, geringverdienend, sozial gefährdet. Ein neues „Prekariat“ entsteht. Armut ist das zentrale Problem unsere Gesellschaft.

 

Auf der anderen Seite stehen die Reichen. Sie bilden zahlenmäßig kein Drittel, aber besitzen ein Vielfaches. Nicht einmal 85 Personen [6] auf der Welt besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung, also 3 500 000 Menschen. Sie haben so viel Geld wie 70mal die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.

 

In Deutschland wiederum sind über 15% aller Kinder arm. Die reichsten 10 (!) Menschen in Deutschland besitzen erheblich mehr Geld als die Hälfte der Bevölkerung mit über 40 Millionen Menschen. Reichtum und Reiche nehmen noch zu.

 

Nach Hurrelmann entsteht eine Spaltung der Jugend, in Familien mit Migrationshintergrund, ärmere Elternhäuser und wohlhabende Familien. 1/3 der Jugend lebt in Familien mit Migrationshintergrund. Diese haben es schwer, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen und ihre Identität auszubilden. 1/5 eines Altersjahrgangs kommt aus einem ärmeren Elternhaus. Diese haben Probleme damit, Anforderungen zu bewältigen. In den wohlhabenden Familien läuft die Entwicklung anders ab. „In Not- wie in Regelfällen“ werden Kinder Wohlhabender wieder in Beruf und Gesellschaft wohl platziert untergebracht.

 

Wir leben nicht einmal bei uns in einer prognostizierten Drittelgesellschaft! Deutschland beutet die Welt nach Strich und Faden aus und (!) hält sich im eigenen Haus eine schreiende Armut.

 

Kindheit heute auf der Welt, sogar in unserem superreichen Land, ist pure Angst vor Armut. Es bedeutet Ernährung, Bildung, Freiheit, Leben und Glück werden nicht verwirklicht. Aber Kinder werden darauf getrimmt, die –für andere – erreichen zu müssen. Sie werden zum Konsum in Armut zum ungenierten Konsumieren der Reichen hergerichtet. Bildung gibt’s für Reiche, des Volkes Kinder werden nur „besser“ ausgebildet.

 

Im gleichen Land, wie in Deutschland, gibt es viel reichere und viel ärmere Eltern. Ihnen mangelt es an diesem oder am anderen Ende, an Gesundheit oder Bildung, an Teilhabe oder Bindung, oder beidem.

 

In fast allen anderen Ländern der Welt scheinen die Bedingungen schlechter. Wenn bei uns Armut für einen Teil der Armen zu allererst bedeutet, dass die Menschen nicht gleichgestellt sind, dass wir „auf hohem Niveau“ jammern, gibt es wo anders, Kindersterblichkeit und den Kampf um das tägliche Überleben.

 

„Die Kinder heute haben es doch leichter als wir es hatten“

 

Kindheit und Jugendzeit in unserer Kultur heute bedeuten harte Arbeit! Es ist eine mehr als zwanzig jährige Ausbildung. Noch nie mussten Kinder und Jugendliche so lange „auf die Schulbank“, in die „Lehre“ oder „unter Mamas Fittiche“ wie heute.

 

10 Jahre davon sind staatliche Pflicht, die anderen 15 Jahre und mehr Jahre des „Aufwachsens“ werden erwartet.

 

Bestimmte Geschichten stimmen einfach nicht. Kinder und Jugendliche bekommen keinen „Zucker in den Arsch geblasen“. Sie sind nicht zu faul zum Arbeiten. Kinder haben es nicht leichter als wir. Eine Orientierung durch die Kindheit und das Leben zu finden wird komplexer und komplizierter. Einen Lebensplan haben ist nicht mehr die Kopie des Lebensplans der Eltern.

 

Die Behauptung, das Abitur oder die Matura früher sei schwerer gewesen, ist eine geliebte Entlastungsbehauptung vieler Älterer. Kinder und Jugendliche sprechen und lesen heute perfekt Englisch. Ihr Wissen in Biologie, Chemie, Physik, Kunst oder Musik, in Computerwesen, Soziologie oder Psychologie ist umfangreicher denn je. Die Fähigkeit zur geistigen Bulemie oder dem Gebrauch von Drogen und Medikamenten ist nur ein Zeichen von Überforderungen.

 

Sie müssen und können heute eine autonome Persönlichkeit aufbauen, zu der Ausbildung, Beruf, Beziehung und das Leben bis zum eigenen Tod passen. Die Gefahren des „Scheiterns“ und des „Erfolgs“ sind beide gestiegen. Leben ist anspruchsvoller geworden, für Kinder und Erwachsene. Erwachsenwerden besonders!

 

Es entstehen „Lösungsstaus“ (Hurrelmann), in der Political Correctness oder dem geschichtlichen Verantwortungsbewusstsein, in der veganen oder vegetarischen Ernährung, in psychischen Ängsten vor Prüfungen oder Menschen, in Problemen der Sexualität und Beziehung,…

 

Und sie müssen ihre Ausbilder, die Erwachsenen, verstehen, bearbeiten und überwinden. Diese Ausbilder sind keine faulen Beamte, für das Ferienmachen bezahlte Abzocker und Tausendsassas, die immer genau das richtige für Ihr Kind tun. Sie sind zu oft überfordert, unterqualifiziert oder zu wenig reflektiert. Viele fordern, dass ihre Ausbildung besser werden muss, weil ihre Aufgaben gewachsen sind und weiter wachsen. Entscheidend wäre, dass die Erwachsenen lernen, die Kinder und ihre Kindheiten zu verstehen.

 

Kinder und Jugendliche haben es Kinder heute nicht schwerer oder leichter als früher. Sie leben anders. Ihre Lebenserwartungen sind in vielerlei Hinsicht gestiegen. Ihre Verantwortung für das Allgemeinwohl auch! Die Globalisierung und Elektronisierung eines kapitalistischen Konsum- und Ausbeutungssystem macht auch vor ihnen nicht halt.

 

Früher wollte, brauchte die Gesellschaft das bald möglichste Ende einer Kindheit. Wenn ein Kind laufen oder sprechen konnte, konnte es auf dem Feld arbeiten, als Ritter kämpfen. Bei einem Jungen wurde die Ausbildung abgeschlossen. Wenn ein Mädchen geschlechtsreif war, wurde es – um nur einen Aspekt zum Ausdruck zu bringen - verheiratet.

 

Noch bis in die 60iger Jahre des 20. Jahrhunderts begann eine Lehre mit 14 oder mit 18 ein Studium. Der Unterschichtler zog bald aus oder musste bei seinen Eltern Miet- und Essensgeld zahlen. Der bürgerliche Spross sollte mit spätestens 25 „auf eigenen Füßen stehen“. Der Auszug aus der Familie wird heute verschoben, das Kinderkriegen geschieht erst nach 30. Die auftauchenden Probleme des „Mammismo““ oder des „Hotels Mama“ zeigen auf nichtvollendete oder nicht abgebrochene Ausbildungen.

 

Es geht um eine Veränderung des gesamten Lebens

 

Scheinbar haben wir mit einem Hinauszögern der Kindheit zu tun. In Wirklichkeit wird die Kindheit aber früher anstrengend, anspruchsvoller, belastender fordernder und leistungsbesetzter.

 

Wenn Postman in den 70iger die Jugend der 60iger als „neue Kindheit“ beschrieb, so ist die Entwicklung heute eher dort angelangt, dass eine Ausbildung, die Phänomen der Kindheit und Jugend war, jetzt lebenslang geschieht. Es gibt keine Reifeprüfung mehr. Das Kind erhält mehr und mehr Erwachsenenstatus durch Konsum, Mode, Medien, Verantwortungsübernahme oder Partnerseinmüssen für getrennte Elternteile. Die Ansprüche werden immer höher. Die Zukunft beginnt früher und ist keinesfalls rosig, gesichert oder „einmal besser“.

 

Die grassierende Unzufriedenheit vieler Erwachsener mit Kindern und Jugendlichen ist die Unzufriedenheit mit sich selbst. Sie spiegeln die Lage der Erwachsenen, die Abhängigkeit von Konsum, Versorgung und Sicherheit. Freiheit, Menschenwürde und Zeit für sich selbst fehlen Kindern und Erwachsenen.

 

Die Lebensphasen Kindheit und Jugend haben sich in den westlichen Gesellschaften stark verändert. Kinder führen heute in vielen Bereichen ein Leben wie Erwachsene, sie sind den gleichen Belastungen und Anforderungen ausgesetzt und reagieren auch mit erwachsenenähnlichen psychischen Störungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Deshalb wird völlig zu Recht oft die These vertreten, Kinder seien heute „kleine Erwachsene”, fast ähnlich wie im Mittelalter, allerdings unter erheblich veränderten sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen. Sie werden heute sehr früh zu Jugendlichen – und die Erwachsenen setzen sich dem Wahn des „For-ever-young“ aus. Sie wollen nicht alt werden.

 

Ich kann nicht zustimmen, dass eine dritte Lebensphase, die der Jugend sich verlängert und den Eintritt in „das Leben“ hinauszögert.

 

Eher spreche ich von einem Verlust von Kindheit. Kinder arbeiten. Sie verlassen zwischen 7 und 8 Uhr ihr Zuhause, Sie bleiben bis 15 Uhr im Kindergarten, bis 16, 17 oder sogar 18 Uhr in die Ganztagsschule. Sie studieren unter immer mehr sich verschulenden, testorientierten Bachelor- und Masterbedingungen.

 

Eher spreche ich davon, dass auch Erwachsene um ihre Zeit, Lebenszeit kämpfen müssen. Um sich nicht in Freizeit und Konsum zu verlieren, um nicht in Beruf und Ausbildung bis zum Burnout oder in andere Krankheiten zum Geldverdienen kaputt zu gehen, lassen immer mehr Menschen in eine kritische Haltung gegenüber Eliten und vorhandenen Systemen wichtig werden.

 

Die Menschen mussten den Fürsten und Reichen einst mithilfe der bewussten Bürger ihre Rechte auf Bildung, Schule und Lernen erzwingen. Sie müssen das Recht auf Arbeit und Leben erkämpfen um dem Recht auf eigene Zeit zum Leben näher zu kommen.

 

Das Ziel kommt wieder. Menschen wollen in Wohlstand und Glück leben, aber nicht zum Preis für die Arbeit leben zu müssen.

 

Menschen, ob Kinder, Jugendliche, Erwachsenen oder Greise, wollen ihr Recht auf Vergnügen, Muße, Leben und Glück verwirklichen.

 

[1] Peter Rehberg, deutsch-amerikanischer Wissenschaftler und Journalist

 

[2] Vergl. Hierzu: Walter Hövel. Kinder brauchen das ganze Dorf. In: Rabensteiner/ Rabensteiner. Internationalization in Teacher Education. Interculturality. Volume 2. Schneider Verlag. 2014. S.187-214. Und Walter Hövel. Children Need the Whole Village. In: Rabensteiner/ Rabensteiner. Internationalization in Teacher Education. Interculturality. Volume 2. Schneider Verlag. 2014. S.215-240. Download: https://www.walter-hoevel.de/english/children-need-the-whole-village/

 

[3] Durch das „Angebot“ der Gesamtschule und die Unzahl der sonderpädagogischen Schulen handelt es in der deutschen Wirklichkeit mindestens um eine 16-Teilung

 

[4] Ich gehe hier nicht auf weitere deutsche Erfindungen wie „Erziehungswissenschaften“, „Pädagogen und Lehrer-Unterscheidung“, „Lehrerausbildung“ durch die Kirchen, etc. ein

 

[5] Translation by Angela Conrad, Native Speaker

 

[6] 85 Menschen sind weniger als die Bevölkerung meines kleinen Dorfes, in dem ich lebe.