Walter Hövel
Gedanken zu einem Praktikumsbericht
Zum 100sten Geburtstag von Paul le Bohec
In jenen Tagen des Jahres 2003 wurde dieser Bericht geschrieben. Es war ein Bericht wie immer, gestern, heute und morgen. Es gab damals ein 4-wöchiges „Orientierungspraktikum“. In NRW wurde es u.a. von jenen absolviert, die Primarstufenlehrer*innen werden wollten. In der Zeit sollte mensch durch die Berührung mit der Praxis feststellen, ob sie oder er wirklich den Kontakt zu lernenden jungen Menschen als Beruf mit einer (?) Ausbildung wünschte.
Es gilt hier nicht die 16fache Landesausbildungen, nach Schulformen getrennte, selektierende, zwingende und monopolistische deutsche Schulsystem zu kritisieren. Vielmehr geht es um diesen typischen Praktikumsbericht. Diese Inhalte und Formen der Ausbildungen gibt es seit Bestehen der deutschen Schulen. Es gibt und gab sie in Fürstentümern, König - und Kaiserreichen, demokratischen Republiken und Diktaturen gerne gleich. Sie werden ständig verändert und angepasst. Ziel blieb immer das „Personal“ zu schulen, dass die Schulen als „staatlicher Diener“ gestaltet, damit der Ausput qualifizierter wurde. Das nennt man dann „Lehrerausbildung“. Der Gegenbegriff wäre die Bildung von selber lernenden und Kindern in der eigenen Entwicklung fördernden Lernbegleiter*innen.
Es gilt die Einstellung der Auszubildenden zu Schule und zu ihrer Ausbildung zu untersuchen. Diese ist, in und nach vielen Jahren beobachtet, vergangenheits - und autoritätslastig. Anders ausgedrückt: Alle Berichte, in der Regel noch nicht mal von den Ausbilder*innen gelesen, sind sich sehr ähnlich.
Die Tradierung geht und entwickelt sich mit den Zeiten. Die Tradierung verschwindet nicht mit ihren Ausführenden, den Lehrer*innen, sondern sie geraten in eine oft nicht zugegebene Minderheit, Außenseiter- oder Mehrheitsposition. Lehrer*innen gehen mit dem Zeitgeist. Ausbildungen verändern kaum ihren Sinn.
Es gibt einen „geheimen“ Lehrplan, der gerne den „offiziell“ geltenden „überlagert“. Fragen Sie doch mal „Lehrer*ìnnen“, was sie dürfen und was sie tun, was sie sagen und schreiben und wie sie handeln. Oft genug handeln sie nach „persönlichen“, nach ihnen nicht bewussten Rollen in Kultur- und Schichtenspezifischen Verhaltensmustern. Auch das eigene „pädagogische Können“ spielt eine Rolle. Man nennt das „Berufung zur Lehrer*in“.
Selten werden die ureigenen Kinder-, Jugend– und Erwachsenerfahrungen oder individuellen Neigungen der zukünftigen Lehrkräfte berücksichtigt. Wichtiger ist die „Didaktik des Unterrichtens“, Sie ist von Lehrer*innen und Erzieher*innen zu erlernen und zu beherrschen. Pädagogik begründet, wenn überhaupt, Herrschaftsverhalten als „Selbstverständlichkeit“. So ist Pädagogik ein „Können der Tarnung“.
Kindergarten, Schulen, Berufsausbildung und Hochschulen sind zudem Orte der Aufbewahrung und Abgabe von „eigenen“ Kindern. Sie setzen Arbeitskräfte frei. Mütter und Väter müssen nicht ihren Erziehungsaufgaben bei eigenen Kindern nachkommen. Das übernimmt der Staat. Im Grundgesetz ist noch eine Trennung. Erziehung ist Aufgabe der Familie oder Eltern, der Staat sichert sich das Monopol der Ausbildung. Schule und Bildung ist weniger der Ort des selbst gewählten Lernens als dem des gesellschaftlichen Erlernens von Gehorsam und Funktionieren.
Praktikumsberichte sind Kontrollen. Sie werden mit Noten bewertet. Sie sind Bestandteil der Ausbildung.
Aus Lehrbeauftragungen durch Hochschulen weiß ich, wovon ich spreche. Ich war Endstation des Lesens von Praktikumsberichten an zwei Hochschulen und Prüfungsvorsitzender beim Zweiten Staatsexamen von Lehrer*innen. Ich war 30 Jahre im Hochschuldienst, 25 Jahre in Schulleitungen, bin seit 45 Jahren Lehrer mit Examen und war 70 Jahre in der Schule. Ich war in Organen der Verfassten Schüler- und Studentenschaft, Prüfungs-, Lehrplan- und Fachkommissionen, Beiräten, Abteilungskonferenzen, Verbindungslehrer, sachkundiger Bürger in Ausschüssen des Rates, Kidsmanager in Kinderparlamenten, in Personalratsvertretungen, Vorständen, Gemeinderäten und Senaten. Ich verbrachte ein Leben in Praxis und (!) Theorie. (Eher lernte ich Praxis in Theorie und Theorie sofort in Praxis umzusetzen.)
Ich weiß, dass ich Lernen hier und heute demokratisch gestalten kann. Ich weiß aber auch, dass so Leute wie ich, selten gefragt werden, wie das geht. Es geht immer nur um die Optimierung von vorgegebenen Lernen und die Gestaltung einer Schule, zu der Kinder und Jugendliche gerne gehen.
Du musst Mitglied einer Organisation sein, Vertreter eines noch nicht abgeschafften Organs oder sonst wie gesellschaftlich „anerkannt“ wichtig. Entweder ich kann es nicht, kann aber klug reden oder ich kann mit Lerner*innen umgehen und soll während meiner aktiven Zeit vermitteln wie das geht. Es zählen nicht Erfahrung, Einstellung oder Ahnung. Du wirst an deine Wirklichkeit gebunden. Du bekommst deine „relative Unwichtigkeit“ zugewiesen.
Wichtig ist die Aufrechterhaltung eines Herrschens, dass sich am besten durch die Beherrschten selbst begründet. Es geht nicht um die Vermittlung von „Leuchtturmprojekten“ als wegweisende Beispiele einer veränderten Praxis , sondern darum eine gute Umsetzung des zu Lernenden zu zeigen. Du sollst nur die existierende Schule durch deine Beispiele am Leben erhalten. Bildung und seine Forschung hinterfragt selten das Zustandekommen der jeweiligen Praxis, geschweige denn seine Zukunft. Bildungs“verantwortliche“ wissen in der Regel nichts von ihren Vorgänger*innen oder der eigenen Geschichte. In der „Ausbildung von Lehrer*innen“ wird die Geschichte oder gesellschaftliche Gegenwart der Schulpädagogik schon lange nicht mehr thematisiert.
Es geht das Zustandekommen der Beschreibung der Ausbildung als Fortsetzung des „Bewährten“ eher durch „Gremien des Systems“. Dies wird dann abgestimmt von Juristen und „Experten der Wissenschaft“, bis „ahnungslose“ Politiker*innen - „im Namen des Volkes“ - auf Vorschlag von Parteifürsten - in Abstimmung mit den Lobbyisten der Wirtschaft - Gesetze, Verordnungen und Richtlinien durchnicken. Lehrer*innen, Ausbilder*innen, Auszubildenden oder gar Kinder und Jugendliche werden niemals mehr auch nur gefragt.
Ich weiß, dass niemanden es interessiert was ich schreibe. Aber ich tue es für mich! Aber ich bin harmlos. Ich verfüge nicht über die Macht der Medien, der Gesetzgebung und Expert*innen der Wissenschaft. Ich bin halt „relativ unwichtig“, vor allem als Pensionär.
So kam auch dieser Bericht einer auswechselbaren Berichterstatter*in,
die jetzt sicher schon lange Lehrer*in ist oder war, zustande:
(Im Folgenden sind die Originalzitate aus dem Bericht immer fett geschrieben.)
„Ich habe einen Einblick in den Ablauf des Unterrichts von zwei unterschiedlichen Jahrgängen bekommen.” Nicht: Ich weiß jetzt wie das Lernen von Menschen aussieht. Nein, sie lernt die Selbstverständlichkeit von “Jahrgängen”. Sie lernt wie Einblicke von “Unter-richten”, also “Belehren von Erwachsenen” gehen. Sie wurde nicht mehr wie als Kind eingeführt in ein System, das sie beherrschte, sondern sie lernte jetzt das Beherrschen eines Beherrschungsystems. Sie sieht sich jetzt selbst als “Didakterin”.
Sie fährt fort: “Im Laufe meiner Reflexion werde ich näher auf meine Empfindungen bei den Unterrichtsstunden eingehen, sie werten und konstruktiv reflexive Kritik an ihnen ausüben, soweit ich es kann, es meiner Meinung nach darf oder nicht.”
Sie macht eine Übung in Unterwerfung. Sie ist keine Spezialistin der Menschenrechte einer Gesellschaft, in der sie schon immer lebte, geworden. Sie ist keine Expertin der Erziehung in Familie, Kindergarten, Schulen und Hochschulen, in denen sie seit mindestenns zwei Jahrzehnten selber lernte. Sie wird nicht Königin im Kinderstaat.
Sie bildet keine Kinder, sie wird sie ausbilden, so wie sie selbst ausgebildet wurde. Sie will ihre nur “konstruktiv refelexible Kritik” auf ihre “Empfindungen” beschränken, soweit sie “es kann … darf oder nicht”....
“Sie [die Schule] hat mir unter anderem zur meiner Entscheidung verholfen, dass ich Grundschullehrerin werden möchte ...”
Sie hat auch eine Art Ahnung davon, dass die Kinder aus den Unterschichten kommen: “Mit Schrecken und Sorgen rückte der Tag immer näher, an dem mein Praktikum beginnen sollte. Der Grund war, dass diese Schule als sozialer Brennpunkt von … bekannt war und ich mich auf gewisse Dinge im Voraus einstellen sollte.” Das nennt man auch den Defizitblick” in der Erziehung.
Was nennt sie im Folgenden von diesen “gewissen Dingen”? Sie nennt allgemein, dass Kinder “wild durcheinander rennende Kinder auf dem belebten Schulhof” sind. … “Andere, die weniger an meiner Anwesenheit interessiert waren, schrieen laut und rannten mich fast um. Wiederum andere begannen sich in einer Ecke des Schulhofs zu prügeln. Einer weinte.”
Es folgt nicht die Beschreibung der “Gegenmaßnahmen” von Kolleginnen oder ihr selbst. Stattdessen: “Ich war etwas erschüttert, aber im ersten Moment denkt man, alles ist gewöhnungsbedürftig.“ Die Arroganz, das Ignorieren oder gar sarkastische Beobachten eines Mittelstandsmenschen?
Im Folgenden beschreibt sie Äußerlichkeiten, nicht das Lernen der Kinder und Lehrer*innen. Dann fährt sie fort: “Beeindruckend an dieser Schule war vor allem der GU-Unterricht, der Gemeinsame Unterricht von lernbehinderten und nicht-lernbehinderten Kindern und nicht zu vergessen der hohe Anteil an ausländischen Kindern in einer Klasse. Es gab sogar vereinzelt Kinder, die nicht die deutsche Sprache beherrschten, was für die Lehrer eine besondere Aufgabe darstellte. Dazu ist zu bemerken, dass im ganzen ...Kreis [!] neben einer weiteren mit die einzige war, die diesen GU praktizierte.” Sie merkt, dass etwas nicht stimmt, ist aber von einer eigenen Erkenntnis weit entfernt.
Hier zieht es auch 20 Jahre später keinem die Schuhe aus. Schule ist heute so.
Auch nach Jahrzenten des Unterzeichnen der Bundesrepublik Deutschland einer Inklusionsvereinbarung bei der UNO gibt es keinen wirklichen Fortschritt in Sachen GU oder Inklusion an deutschen Schulen. Weiterhin gibt es das AOSF, einen fast immer befolgten Antrag der Lehrerìnnen, in dem die Lehrerìnnen festlgen, wer einen und welchen sonderpädagogischen Schwerpunkt hat. So gibt es weiter Förder -, Sonder – oder Hilfsschulen für “ausgesonderte” Menschen. Deutschland verfügt weiterhin über “Sonderschulen” (auch an Förderschule arbeiten “Sonder”pägaoginnen.)
in der Geschichte der Bildung wurden sie einst als “heilpädagogische Anstalten” eingerichtet, um jenen Menschen zu helfen bei deren Hilfe die Regelschule versagte. Aber sie scheint heute noch zu schlecht zu sein um ein gemeinsames Lernen für alle zu erreichen. “Regel” - oder Pflichtschule wird nicht mit allen Kindern “fertig”. Lehrer*innen sind beim Lehren der Fachpläne in der Regel überfordert. Sie sind einfach nicht gut genug und pädagogisch falsch ausgebildet. Die besseren Fachleute gehen in die (internationale) Wirtschaft, in die private Forschung, in die bezahlten und schlecht bezahlten Wissenschaften, und dann erst in Schule - oder Arbeitslosigkeit.
Alle sind diese Einstellung von “Lehrer*innen gewohnt. Sie unter-richten Kinder, sehen den immer in Deutschland dagewesenen Anteil an “ausländischen Kindern”. Dabei kennen sie andere Familensprachen schon immer, wie das Rheinische (oder andere regionale Sprachen), das Jiddische, Romanes, das Polnische, Italienische, das Sorbische, Dänische, Friesische, etc. Das Nicht.Beherrschen der deutschen Sprache ist älter als die Existenz der Schule, der den Kindern “Deutsch” als zu verstehende Befehls- oder Anordnungssprache beibrachte. In anderen Ländern waren es andere nationale oder imperialistische Sprachen, die die Sprachenvielfalt vergeblich versuchen zu vertreiben. Schon immer wurden andere Völker (und untere Volksschichten) zum Verrichten des Dienens und Arbeitens ganz oder zeitweise in das Zuhause, die untere Verwaltung oder die Fabriken und Firmen reingelassen und versucht sie zu assimilieren. Das ist und war eine der verdringlichsten Aufgaben von Schule.
Aus der Sicht der Schule als Herrschaftsmittel waren dies immer “Problemfälle”, die ,wie die Kolleg*in beschreibt, “gehandhabt wurden”. Sie übernimmt alle gesellschaftlichen Vorgaben und hat schon ihren “geheimen Mehrheitslehrplan”. Dieser sorgt seit Jahrhunderten dafür, dass Schule und ihre “Lehrkräfte” sich “vervollkommernd1”, im Kern so bleibt wie sie ist. Und der Versorger mit dieser Ideologie sind die Lehrerinnen und Lehrer, die sich als die besseren Könner*innen in der Praxis eben auch als Mentoren erwiesen haben. Da wird schon einmal leichter die Qualität der Theorie vernachlässigt, wenn die Quantität der Staatsdiener*innen auch im “Lehramt” gehalten wird.
Die getrennte Ausbildung von “Sonderpädagogen” wird dann “unbemerkt” in Kauf genommen. Sie “handhabten die Problemfälle”... “wöchentlich”.
“Im Allgemeinen war die Schule ausreichend mit Lehrern versorgt.” Was ist “im Allgemeinen” und was ist “versorgt”? Warum sind hier Gewerkschaften und “Dienstherren” verschiedener Meinung? Auf jeden Fall kommt man mit “ausreichend” in der Schule weiter. Selbst unter Benotungskriterien ist der Weg zu “mangelhaft” allerdings kürzer als der zu “sehr gut”. “Im Allgemeinen ist die Schule nicht befriedigend, am wenigsten gut, geschweige denn sehr gut versorgt.” Sprache verrät das Denken dahinter, den Finanzierungswillen und die Lernfähigkeit.
“Es fanden neben den erteilten Pflichtstunden noch Fördermaßnahmen sowohl im sprachlichen als auch im mathematischen Bereich statt”. Erst einmal musst du als Schulleiter*in “Pflichtstunden erteilen” können. Oft hast du oder die “Schulaufsicht”nicht die personellen Reserven dazu. Das Ministerium legt mit Gesetzen, Fachplänen und Verordnungen Zeiteinheiten fest, was ”Pflichtstunden” sind. Das tun nicht die Lehrer*innen, Eltern oder gar betroffenen Kinder.
Mit Sprache ist “Deutsch” als Herrschaftssprache gemeint. Lehrer*innen können alle Englisch, einige noch Französisch oder Spanisch. Aber die Familiensprachen der Kinder, wie Türkisch, Russisch, Kurdisch oder Arabisch haben sie nie gelernt. Sie wissen in der Regel noch nicht einmal ihre Grammatik. Die Mathematik ist ein Thema für sich2. Wo aber bleibt das Hauptfach der Grundschule, der “Sachunterricht”. Wo bleiben Englisch, Sport, Musik oder Kunst? Viele Fächer wie Schwimmen, Textil, Werken, Denken oder Glück sind schon abgeschafft oder nicht auf der Agenda der Studien. Die Reduktion der Schule auf “finanziell Machbares” wurde schon damals eingeführt.
Mit Schule und in der Bildung wurde immer gespart. Bei den Nazis war ihre Art von Bildung wichtig, aber die Schule nicht. Sie war “nicht kriegsrelevant”. Deutschland gab immer recht wenig für Bildung aus. Schule wurde in die Tradition der “Klippschulen” lieber als Privatangelegenheit gesehen.
Und das Fördern ist nicht als universelles Bedürfnis eines Menschen, sondern mit “Fördermaßnahmen” als das “Mitkommen” in der Schule zu verstehen. “AusBildung” ging in die Hoheit der Betriebe über, Bildung gelingen Staat und Gesellschaft immer schlechter. Nur die Zahl der demokratischen gebildeten Menschen steigt.