Walter Hövel
Die Haltung ist da, es fehlt an Handlung
Verschleppung von Bildungsreform durch Fortbildung?

 

Nothing you can sing that can't be sung

There's nothing you can do that can't be done

John Lennon & Paul McCartney

 

Seit gut 35 Jahren erlebe ich nun Aus-, Weiter- und Fortbildungen. Seit 1992 gebe ich Seminare an Unis und anderen Hochschulen. Ich hielt über hundert Vorträge und machte staatliche und freie Fortbildungen und Ausbildungen mit Menschen aus vielen Ländern.

 

Die meisten Seminare gebe ich selbst, bei anderen bin ich Gast. Ich weiß heute, wer oder was mich beeindruckt. Es waren immer die Inhalte von Teilnehmenden und Vortragenden, die Lerngewinn für Haltung und Handlung transportierten.

 

Mein persönlicher Vorteil war, dass ich selber aus der Schul- als auch der universitären Praxis kam und immer von eigener Praxis berichten konnte. Ich machte Fortbildung immer „neben“ Schule als Resultat dieser eigenen Arbeit.

 

Mein Anspruch an andere war vielleicht höher als an mich selbst. Ich suchte und suche immer Menschen, die mir etwas zu sagen, zu vermitteln haben könnten, egal ob aus dem Kindergarten, einer Schulform, der Wirtschaft oder Wissenschaft.

 

Oft fand ich mein zu Lernendes durch Beobachtung in anderen Klassen. Ich wurde fündig im Kindergarten und in der Schule Prinzhöfte, bei Lutz Wendeler, Moni Zeugner oder Wolfgang Mützelfeld, an Wiener Volksschulen, bei Uschi Resch oder Christian Schreger, bei Thomas Körner in Salzburg, an der Winterhuder Grundschule bei Gudrun Maaser und anderen Kollegen. Ich fand etwas bei Gisela Tamm in Rothenburg, bei  Rolf Wagner oder bei Ute Geuß in Köln, bei Ulli Meyer-Stromberg in Euskirchen, bei Falko und Steffi Peschel in Eitorf und Harzberg, bei Pia und Gerhard Rabensteiner in Klagenfurt, bei Angela Conrad in Eitorf  oder an der eigenen Schule.

 

Es waren nicht nur Lehrer*innen, die mich beeindruckten. Es waren auch Kinder, Eltern, Schulbegleiter oder Experten.

 

Einige Fortbildungen transportieren Haltungen und Handlungen, die ich nicht akzeptiere. Sie interessieren mich nicht, wenn sie herkömmlichen Unterricht modernisieren wollen. Ich arbeite nicht an der Verbesserung dieses Systems „Schule“, sondern an der Demokratisierung des Lernens der Menschen.

 

Manchmal treffe ich auf jemanden, die oder der zwar eine andere Haltung hat als ich, aber einen spannenden – vielleicht umwandelbaren – Inhalt vorstellt. Manchmal fasziniert mich Fremdes. Ich durchblicke es nicht immer sofort und brauche einige Zeit zu begreifen, wo es hingeht.

 

Manchmal fühle ich mich auch in Frage gestellt oder treffe auf eine einfach bessere oder andere Praxis als die eigene. Dann reagiere ich wie in den vorher beschriebenen Fällen. Spannend finde ich Zusammenhänge, die neu sind oder ich noch nicht gesehen oder erlebt hatte.

 

Am Prinzip der Fortbildungsarbeit hat sich seit 40 Jahren nichts verändert. Intentionen und sogar die Formen sind geblieben. Schon früh verwöhnte mich die Praxis der Freinetpädagogik sich selbst und aller Teilnehmenden als Anbieter und aktiven Selbstlerner zu verstehen. Heute haben Staat und Firmen das Geschäft übernommen.

 

Die interessanten Personen werden weniger, die Themen dagegen nicht. Das Grundproblem der belehrenden Selektionsschule bleibt bestehen. Und, zu viele Menschen setzen zu wenig von Fortbildungen um.

 

Dies war an der Grundschule Harmonie anders. Wir luden gerne Experten, die uns begegnet waren ein. Wir setzen selbst Gelerntes in der Klasse, der Kinderuni, dem Ganztag oder der Schule um. Wir hatten uns Zeiten und Orte zur Umsetzung selbst geschaffen. Dies waren unter anderem unsere häufigen schulinternen Fortbildungen, unsere wöchentliche Konferenz, unsere tägliche Frühkonferenz, unsere Sitzungen mit den Lehramtsanwärterinnen und Inklusionsstudentinnen, die Klassenräte, das Kinderparlament, die Schulversammlung, die Kinderuniangebote,…

 

Wir untersuchten alles auf die Brauchbarkeit für das individuelle Lernen und die Schaffung von Lerngelegenheiten.

 

Fort- und Weiterbildung verläuft oft im Sande, weil es keine Orte der Umsetzung außer dem fast privaten Klassenraum gibt. Fortbildung kann an den meisten Schulen kein Vehikel der Schulentwicklung sein, weil es weder Zuhörer noch Interessenten gibt! Das Gelernte bleibt ungenutzt, weil es keine Chance der Anwendung gibt. Oft gibt es keine Sinnstiftung, keine Sinnfindung für die Innovation. Es sei denn, eine lernende Schule schafft sich die Gelegenheiten selbst!

 

Eine einjährige wöchentliche Musikausbildung von zwei Kolleginnen machten wir zu einer zweiwöchigen Fortbildungskonferenz für alle Lehrkräfte. Einmal im Jahr trafen wir uns in der Sporthalle, um uns über Bewegung und Kooperation auszutauschen. Auf der Schulversammlung stellten Kinder vor, was ihnen imponierte. Jedes halbe Jahr werteten wir mit allen Kindern unsere Englischgruppen aus. Täglich wurde die eigene Arbeit im Klassenrat evaluiert. Wir waren unsere eigene Schule!

 

Wir hatten jede Woche Hospitationen. Sie waren immer mit Besprechungen. Oft genug kamen ganze Seminare, auch um bei uns ihre Sitzungen abzuhalten. Wir arbeiteten in Comeniusprojekten, beim „Blick über den Zaun“, beim Frei-Net“, mit unserer englischen Partnerschule. Wir tauschten Lehrer*innen und Kinder aus, um uns unsere Arbeit vorzustellen. Es gab Regionalkonferenzen, schulübergreifende Arbeitsgruppen, Fachtagungen, Schülervorträge von der Nachbarschule, Freinetausbildung im Haus. Unsere LAAs hielten ihre Prüfungsvorträge in der Konferenz, wir planten die Schaffung von Lernlandschaften zur Entstehung von Lernkarten, und, und, und.

 

Wir waren unsere eigene ständige Weiterbildung, weil wir einen Zusammenhang des Lernens als Lehrer*innen zwischen unserer Schule, der Welt und der Aus- und Weiterbildung hergestellt hatten.

 

Doch was transportiere ich bei gängigen Fortbildungen?
Das Hauptproblem der Fortbildungsveranstaltung außerhalb des Hauses ist nicht die Haltung. Sie bildet sich beim Zuhörer und Haltungen werden durch Begegnungen während der Fortbildung verstärkt. Bei den meisten erweitert und verändert sie sich.

 

Das gerne Übersehene sind die Handlungen. Ich suche Vorgehensweisen, die ich in meine einbauen kann. Ich suche Vorgehensweisen, die ich neu erproben kann. Ich versuche mein Wissen und meine Erfahrung so anzubieten, dass Lehrer*innen damit ihren Lehreralltag verändern und verbessern können. Mein Ziel ist, dass sie ihre eigene demokratische Grundhaltung in die eigene Praxishandlung umsetzen können.

 

Auf Fortbildungen erproben wir das, was wir mit Schüler*innen machen erst an uns selbst. Hier werden freie Texte geschrieben, Fragen zur Welt formuliert, Experimente erdacht und durchgeführt, Themen bestimmt und präsentiert und selbst gemalt und Theater gespielt. Ich versuche Dinge zu machen, die ohne Übersetzung in der Klasse anwendbar sind. Anderes, nicht einfach Umsetzbares wird auch vermittelt.

 

Viele Menschen lassen sich bei Fortbildungen auf Haltungen ein. „Es ist“ – wie Helmut Kohl schon 1994 schrieb –„ modern eine linke Haltung zu haben. Aber“, so Kohl weiter, „die meisten leben rechts“.

 

Nun interessiert mich die alte Links-Rechts-Einteilung wenig. Ich habe gelernt mit „rechten“ Menschen zuverlässig für Menschen zu kooperieren. Ich habe gelernt, links redenden Menschen nicht unbedingt zu trauen, oder umgekehrt!

 

Aber in der pädagogischen Handlungspraxis bin ich nur wenigen Menschen begegnet, die das handeln können, was sie denken. Sie kommen oft vor lauter Arbeit nicht dazu. Sie haben keine Teams und sind alleine. Sie finden keine Zeit. Sie planen nicht mit ihren Schüler*innen, sondern für die Schüler*innen.

 

Sie fallen letztendlich immer wieder in die Fallgruben, die selber, ihre Schule oder auch Eltern graben.

 

Haltung, die an die Struktursubstanz geht, verändert die Handlung
Manchmal wünsche ich mir ich könnte ein offenes Lernen so lernen wie ich das Unterrichten damals als Lehramtsanwärter lernen musste. Aber das geht nicht. Es geht eben nicht darum, wie bisher die Lernenden an die Struktur der herrschenden Schule anzupassen und sie jetzt nur noch gegen die Struktur „eines offenen Lernens“ auszutauschen.

 

Die Struktur des offenen Lernens ist eine andere! Es ist die Struktur des Lernens der Lerner, die Schule und Bildung nicht nur generell, sondern individuell, also an und für jeden einzelnen Menschen verstehen muss. Die Struktur des offenen Lernens ist immer die Struktur des Lerners. Sie ist also immer anders. Nicht die Lehrkräfte bedienen die Struktur jedes Lerners, sondern die Lerner selber kennen ihre eigene Lernstruktur und arbeiten damit.

 

Du kannst aber immer mehr Lehrer für Lehrer werden, indem du lernst, andere in die Konzepte der Kinder und Jugendlichen einzufühlen. Du kannst z.B. dem Weg folgen zu überlegen, was das Kind davon hat, wenn es sich so verhält, wie es sich verhält.

 

Als Pädagoge kannst du viele Techniken und Methoden des Lernens ansammeln und den Lernenden vermitteln. Als Entwickler des Lernens lernst du immer mehr Strategien zur Durchsetzung von offenem, demokratischem Lernen. Als Lehrer lernst du diese Methoden weiterzugeben.

 

Und damit wären wir wieder beim Problem: Zu wenige lernen zur „Sehnsucht nach dem großen weiten Meer“, also der Sehnsucht zur menschenrechtlichen Haltung als Lehrer*in, wie „das Bauen der Schiffe und ihre Steuerung“, also die Technik und Methoden des Handelns gehen.

 

Der Grund dafür ist einfach mangelnde Erfahrung. Es ist die mangelnde Gelegenheit wirklich offen zu lernen. Die Fortbildung mag den offenen Rahmen noch bieten, aber die eigene schulische Wirklichkeit nicht. So reduziert sich die Neuerung gerne auf ein paar neue Ideen, die den Unterricht etwas auflockern.

 

Zu viele Schulen wollen zufriedene Eltern, gute Abschlüsse und erfolgreiche Qualitätsüberprüfungen. Sie wollen Funktionieren, Ruhe, Eintracht und weniger Arbeit. Sie wollen, oder müssen, ihre Systeme aber erneuern, modernisieren, wissenschaftlicher und menschlicher machen.

 

Sie wollen keine saubere Wäsche, sondern funktionierende Waschmaschinen. So wird gesellschaftliches Funktionieren zur Hierarchisierung der Gesellschaft gepflegt, das Lernen der Menschen bleibt zu oft Privatsache oder ganz auf der Strecke. So findet das meiste Lernen außerhalb der Schule statt.

 

Zurück zu meiner eigenen Fort-Bildung
Richtig gelernt habe ich von wenigen, oft vielen. Dies sind knapp mehr als zehn Personen, von denen mit Paul le Bohec, Sepp Kasper und Jürgen Reichen schon drei verstorben sind. Sie prägten mich.

 

Was ich lernte, waren das Schattenspiel, Boaltheater, das Theaterspiel überhaupt, Rollenspiel, Freie Texte schreiben. Ich lernte, dass Mathematik Material, Muster und Muggelsteine zum Tauschen in Systemen bedeutet. Ich lernte wahrzunehmen, zu fragen, zu forschen, zu experimentieren - Erkenntnis satt Kenntnis. Ich lernte mich zu bewegen, zu imaginieren, wieder zu träumen und das eigene Wissenschaffen. Ich lernte mit Computern, Webcams und dem Filmen umzugehen.

 

Ich lernte von so vielen Kindern, von den „eigenen“,  von Uschi, Ute, Wolfgang, Lutz, … Mich faszinierten John Lennon, Max Ernst, Augusto Boal, Pina Bausch, Elise und Celestin Freinet, Hugo Kükelhaus, Viktor Frankl, Loris Malaguzzi, Janusz Korczak oder „mein“ Fräulein Schmitz, meine Volksschullehrerin. Ohne Theorien, Ästhetik und Visionen wäre ich woanders angekommen.

 

Es waren die „bilinguale Methode“, Erzählanlässe bei einem holländischen Kollegen, das Konzept des Sachunterrichts a la Werner G. Meyer. Es waren der freie Ausdruck, die Natürliche Methode des Lernens, die Kinderrechte, Pädagogik als Politik, die Wahrnehmung von Menschen als psycho-soziale Wesen in ihrer Ganzheitlichkeit und Systemik, das Selberlernen und die Schaffung von Kinderuniversitäten.

 

Ich genoss viele Begegnungen mit Ursula, Angela, Jürgen, Christos, Alexander, Christian, Lisi, Hartmut, Ulli, Heike, Marta, Liz, Sue, Johannes, Herbert, Ben, Holger, Jochen, Eva, Jenny, Gudrun, Marc, Franz, Andrea, Hans, Karl-Heinz, Vivian, Marlis, Antje …. Ich weiß nicht wie viele tausend Kleinigkeiten oder Grundlegendes ich von ihnen und vielen anderen lernte.

 

Ich lernte von Orten und Zusammenhängen. Da war meine Kindheit, eine glückliche und eine unglückliche Ehe, Vatersein, Beziehungen, schreckliche Schulen und andere, die ich als Schüler und als Lehrer erlebte, die Leitung einer Schule, Leben als Vorschulkind und Nachschulmensch. Da waren Hochschularbeit, Reisen, Fortbildungen, Vorträge, die Pfadfinder, die Politik, die Beschäftigung mit mir selbst, das Schreiben, Bücher, die Malerei, viele Gespräche, Freunde, Gedanken anderer und eigene, …

 

Und ich mag diesen Gedanken Celestin Freinets. Ich bin gerne ein Eklektizist, der die Dinge wie ein Schwamm aufsaugt. Ich liebe brillante Ideen, herausfordernde Überlegungen, neue Aufgaben, kluge Vorschläge. Ich suche das Streiten um Theorien, riskante Gedankenkonstrukte, die auch verworfen oder korrigiert werden dürfen, spannende Gespräche und die Ruhe, Erschöpfung und das Alleinsein.
Ich liebe das Dahingeworfene, das Dahingesagte anderer in Gesprächen.

 

Ich machte selbst Fortbildungen als Teamer oder Veranstalter. Ich schätze, dass ich – mit meinen täglichen Auftritten in und um die Grundschule Harmonie und gut 300 weiterer Veranstaltungen in anderen Zusammenhänge auf ein ganzes Leben der Weitergabe von Pädagogik, Psychologie, Politik und Ästhetik komme.

 

Andere Menschen erleben anderes.

 

Der Fortbildung fehlt etwas
Ich weiß, dass Lernwerkstätten, Exzellenzforen, Kirchen, Verbände, Schulen, Kindergärten, Montis, Stiftungen, Vereine, Universitäten, Profis von Firmen und Verlagen, … einzelne Menschen unzählige gute Veranstaltungen durchführen können.

 

Und der Erfolg? Es müsste Abertausende von Kolleginnen und Kollegen geben, die ein anderes Lernen beherrschen. Lernen müsste freier, demokratischer und eigen-sinniger sein. In jedem Kollegium sollte es angesichts der Masse der angebotenen Veranstaltungen mehr als die Hälfte freiere Lehrer*innen geben.

 

Alle Fortbildner*innen haben immer an der Haltung gearbeitet, zu wenig an der Handlungsfähigkeit. Fortbildungen kennen selten die Chance in den Alltag der Kolleg*innen einzugreifen. Die Kolleg*innen hatten zu wenige Chancen oder Kompetenzen selbst in ihren eigenen Alltag einzugreifen.

 

Anders war dies wie bereits beschrieben in der Arbeit „meiner“ Schule. Aber hier drehten sich oft genug die Verhältnisse. Viele lernten ein anderes Handeln, aber verabschiedeten sich nicht von ihrer kleinbürgerlichen Lehrer zentrierten Haltung. Zu viele wollten doch den Kindern überlegen sein, es besser wissen, immer helfen und „mächtiger“, wissender sein.

 

Wie Freinet sagte, prägt der Beruf. Zu viele bleiben Lehrer und Lehrerinnen im alten Sinne. Zu wenige kommen aus den Schichten der Kinder. Zu wenige wissen um die Verhältnisse der Unterschichten. Sie haben nicht nur die Kindheit vergessen, sondern deren Wirklichkeit nie erlebt. Sie fühlen nicht die Probleme vieler Kinder.

 

Hier ist es Sache der politisch Verantwortlichen für mehr und andere Lehrer*innen zu sorgen. Dazu müssten aber sie ihre Haltung verändern. Sie müssten lernen, dass sie nicht den Reichen und Mächtigen dienen, sondern allen Menschen!

 

Zum Sinn unserer Arbeit
Erhalten wir durch unsere Aktivitäten immer nur den progressiven, unveränderlichen (?) Prozentsatz der Kolleg*innen in der Pädagogik? Oder verändert sich Schule ebenso langsam wie Religion? Oder sind Schule und Bildung die Religion des kapitalorientierten Staates? Oder gelten doch jene Menschenrechte, der Bürgerlichen, die es gilt gegen den Konservatismus eines noch älteren Denkens durchzusetzen? Oder stimmt es, dass die Veränderung der Gesellschaft eben nur in ihrer Bildung oder Schule erkennbar wird? Oder stimmt es was jene sagen, dass erst die Gesellschaft verändert werden muss, um den Menschen und seine Bildung als Haltung und Handlung verändern? Oder verändern sich Menschen und ihr Lernen eben in Zeitdimensionen, die wir als zu langsam wahrnehmen?

 

Seit 1992 arbeite ich in der Lehrerinnenbildung. Ich erlebte aberhunderte von jungen Kolleginnen und Kollegen, die (fast) alle eine demokratische Grundhaltung zeigten, die fair und Schüler zentriert sein wollten, Kinder achten wollten,…

 

Und was wurde aus ihnen? „Normale“ Lehrerinnen und Lehrer, geprägt vom Beruf, geprägt vom bestehenden selektiven, kontrollierenden und misstrauenden Schulsystem.

 

Wie kommt es, dass eine „Haltung“, die auf Fortbildungen, in der Ausbildung, beim Lesen von Literatur immer wieder erarbeitet und geformt wird, so schnell verschwindet?

 

Jürgen Koch[1], sagte einmal: „“Was du nicht innerhalb von 14 Tagen nach einer Fortbildung umsetzt, ist weg!“ Kommen wir in eine „normale“ Verfallzeit von Haltung?? Muss sie ständig erneuert und bearbeitet werden? Wäre Fort- und Weiterbildung gar unnötige Liebesmüh?

 

Muss unsere ganze Aus- und Fortbildungsarbeit sein, nur um den Prozess des Erhalts des progressiven Teils der Lehrerschaft überhaupt zu gewährleisten. Brauchen wir In-Gang-Haltung oder produzieren wir diese Bewegung, als Teil des Lernens? Vielleicht können wir Menschen gar nicht schneller lernen?

 

Oder ist Weiterbildung einfach Lernen und lernt die Mehrheit einfach langsamer, zurückhaltender, vorsichtiger, abwägender. Gehen unsere menschlichen Veränderungen einfach so langsam?

 

Vielleicht braucht Lernen die Ungeduldigen, die Antreiber, die Provokateure, die Waghalsigen, die Erneuerer als Teil ihres erfolgreichen Prozesses?

 

Oder würde es ohne diese „Störungen“ schneller gehen?

 

Es stünde sogar die Frage, ob Fortbildungen nicht den Fortgang der Entwicklung gefährden?
Denn, immer wieder wird bei Fortbildungen eine Haltung produziert, die sich in der Wirklichkeit von Schule nicht in Handlung umsetzt. Führt dies nicht zu Frustrationen, die sich eh gegen die eigene Praxis wenden?

 

Vielleicht sind es wirklich nicht jene leicht grünen, eigentlich offenen Lehrkräfte? Vielleicht sind es die „Umstände“, der Stress, Frustration und Misserfolg die Schulen selbst machen. Vielleicht sind es doch die Eltern, die alles bremsen und nur ihr Kind sehend den optimalen Abschluss für ihr Kind sehen wollen? Vielleicht kann sie oder er es zuhause wirklich und in der Schule nicht? Vielleicht ist es doch „die Jugend von heute“? Vielleicht sind es doch die Kinder, die „verhaltensauffälliger, fauler, lebensunlustiger, vernachlässigter, so schlecht gebunden und verzogen sind“?

 

Das Gerede der Lehrerzimmer und der Tratsch in der Zeitung, im Fernsehen oder online sind schon bösartig. Da geben Schulministerinnen „die Schuld“ denen, die „nach Gehör schreiben lassen“ sollen. Da ist der Unterrichtsausfall schuld. Da nehmen Borderliner, Depression, ADHS, Asperger Autismus oder Dyskalkulie zu. Da fehlt es immer wieder an öffentlichen Geldern. Da ist es die Verkürzung von G9 auf G8. Oder ist doch PISA schuld und das „deutsche Schulwesen in der Welt vorbildlich“?

 

„Alle sind schuld“. Aber wir Lehrer*innen machen so weiter wie bisher. Die Lehrer und mit ihnen ihre Fortbildung werden es schon richten. Wenn einst die „Schläge zwecks Erziehung“, die „Fleißkärtchen“, das „Sitzenbleiben“, die „Mengenlehre“, die „Freie Arbeit“ oder das Arbeitsblatt uns retteten, sind es jetzt „Classroommanagement“, „Rituale“, „Rollenklarheit“ oder „Noten“- oder „Zieltransparenz“.

 

Und vielleicht richtet sich der Frust irgendwann gegen die Fortbildungen selbst. Wie viele Kolleg*innen besuchen bereits Fortbildung, weil sie „Entspannung und Urlaub vom Alltagsstress“ liefern. „Hier bekomme ich eine warme angenehme Dusche“, „Hier bekomme ich Anregungen“, „ Ich erfahre wie es wäre, wenn ich könnte, wie ich wollte“.

 

Aber führt dies zur Veränderung von Schule? Werden Schulen Orte der Heterogenität, Diversität, des eigenständigen Lernens, der Individualisierung, der Kooperation, der Demokratie, der Kommunikation, der Inklusion, der Eigenverantwortung …? Oder bleiben sie die Verteilungsstelle in die Ordnung der gesellschaftlichen Karawane?

 

Studenten und Lehrkräfte geben Unsummen an Geld und Zeit aus, um „Zusatzqualifikationen“ zu erwerben. Die übliche staatliche Ausbildung reicht ihnen und den Einstellenden nicht mehr. Da gibt es DAFS-Studiengänge, C1-Sprach-Nachweise, Rettungsscheine, Montidiplome, zusätzliche Fächer, Handballzertifikate, Tanz- und Theaterkurse oder sonderpädagogische oder psychologische Zusatzausbildungen. Die Bewerbungsmappen sind voll damit.

 

Immer verbreitet ist seit vielen Jahren die Aussage, dass „solche Qualifizierungen eh nichts bringen.“ Vielleicht heißt es bald, dass „sie eh nur Flausen in den Kopf setzen“. Schon heute ist zu hören „Es ist eh meine Schulleitung, die mich zur Fortbildung zwingt“. „Bringen tun Fortbildungen eigentlich eh nichts.“ „Ich konnte meinen Unterricht nicht verbessern.“

 

Da gibt es also die Fortbildungsmeider und die Fortbildungssucher. Aber immer mehr Lehrkräfte spielen sehr professionell mit, wenn es um die Entwicklung von Schule in Konferenzen oder dem Papier geht.

 

Einer meiner Söhne erzählte einmal folgende Geschichte: „Eines Tages wurde unser Lehrer überraschend revidiert. Sofort, ohne jede Vorbereitung, zauberte er zu unserem Staunen eine Unterrichtsstunde aus dem Hut, die uns alle staunen und mitmachen ließ. Kaum waren die Revisoren aus dem Haus, ließ er das Buch rausholen und der langweilige Alltag kehrte wieder ein.“

 

Können viele Lehrer*innen doch, wenn sie wollten? Wenn sie nicht „jedes Wochenende über 50 Arbeiten zu korrigieren“ hätten, wenn sie nicht „immer mehr Aufgaben aufgebrummt bekämen“, wenn sie nicht „immer wieder krank würden“, wenn „das Unterrichten nicht immer schwieriger würde“.

 

Da kommt schon die Idee, die Fortbildung stärker der schulinternen Arbeit der Schulleitungen zu überlassen. Da kommt schon die Idee, Fortbildung bezahlten Profis von Verlagen, Fortbildungsfirmen oder Stiftungen zu überlassen. Da kommt schon die Idee wenigsten und verstärkt Vorzeigeprojekte mit der örtlichen Industrie, Banken oder Sport- und anderen Vereinsbünden zu machen.

 

Das Problem wird eingelagert oder weit ausgelagert. Einmal wird die Lösung den Betroffenen selbst überlassen, andererseits wird es zum Geschäft und Konsumgut. Wie hieß es in den 60er Jahren: „Wir gehen mit der Konjunktur“.

 

Zu den Lehrer*innen
Die schwerste Bürde der Schule sind die Lehrerinnen und Lehrer.

 

Bei den „Lehrern“ selbst gibt es verschieden bezahlte, ausgebildete, angesehene und eingesetzte „Lehrer“. Sie sind überhaupt kein einheitlicher Berufsstand. Hinzu kommt, dass, je schlechter die gesellschaftliche Stellung und Bezahlung ist, umso mehr Frauen zu finden sind.

 

In deutschsprechenden Ländern unterscheiden wir mindestens 10 Arten von Lehrer*innen. Da sind erst mal die, die gar nicht so heißen dürfen. Es sind die Erzieher*innen. Nur 4, höchstens 5% von ihnen sind männlich. Bei den Grundschullehrer*innen beträgt die Zahl der Männer 13, höchstens 15%. Dann steigen die Zahlen bei Hauptschullehrer*innen, Realschullehrer*innen, Gesamtschullehrer*innen, Sekundarstufenlehrerinnen, Sonderschulpädagogen, und Berufsschullehrer*innen.

 

Im Gymnasiallehramt ist mit 43 Prozent der höchste Männeranteil in allen Schulformen vertreten. Bei Kolleg-, Fachhochschul-, Hochschullehrern oder Mittelbauleuten und Professoren der Universitäten werden keine Angaben gemacht.

 

Im Schnitt aller Schulformen sind sieben von zehn Lehrkräften weiblich. Und auch unter den Studenten sieht es ähnlich aus. Der Anteil der männlichen Absolventen im Grundschullehramt lag im Spitzenwert bei 15 Prozent der Lehramtsstudenten im Primarbereich. Bayern ist mit gerade mal 5 Prozent bundesweit Schlusslicht.

 

Noch heute kommt die Mehrzahl der Lehrer*innen aus gut bürgerlichen Elternhäusern der Mittelschichten.

 

Vor und während der Kaiserzeit waren die Herren Professoren und Lehrer immer Kaiser- und systemtreu. Sie stellten ihre Haltung und Handlung niemals in Frage. Die wenigen Reformschulen der Weimarerzeit wurden von den der Nazis erbarmungslos ausgemerzt. Vor und während ihrer Herrschaft hatte die NSDAP ihren höchsten prozentuellen Mitgliederanteil aller Berufsgruppen in der Lehrerschaft.

 

Lehrer damals waren brutal, rechts, kriegstreibend, rassistisch, menschen- und bildungsfeindlich und undemokratisch. Nach dem Krieg wurde der Berufsstand nicht ausgewechselt oder entnazifiziert. Sie blieben die Lehrer der heutigen pensionierten und noch tätigen Lehrer.

 

Welch ein Wunder es heute ist zu sehen, wie harmlos, wie demokratisch und weltoffen die Lehrerschaften aller Schulformen sind! Aber es hilft auch zu verstehen, wie schwierig jede Reform von Schulen, Bildung und Gesellschaft ist.

 

Konzeptlosigkeit
Ich habe selbst als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener die Entwicklung von Kindergarten, Volksschule, Gymnasium und Hochschulen von 1951 bis 1979 miterlebt. Ich habe seit 1979 bis 2014 als Lehrer in der Berufsschule, Hauptschule, Gesamtschule und Grundschule gewirkt. Seit 1992 bis heute lehrte ich in verschiedenen Formen der Hochschulen in vielen Ländern.

 

Ich sah alle Arten von Versuchen der Schulentwicklung. Die mit Strenge, Notendruck und Schleifen, die mehr praktischen, die mehr wissenschaftlichen. Ich sah rezeptive Ansätze wie bei Montessori oder demokratische wie bei Freinet. Ich sah eher naturwissenschaftlich basierte und eher von Ästhetik und Theaterspiel beeinflusste. Ich sah fachdidaktische und psychologische, die politischen oder die systemischen Ansätze. Ich sah die Lernwerkstätten- oder Medienbasierten, die von Netzwerken oder Stiftungen ausgingen, von den Kirchen und die staatlichen, … Ich sah die Frustrierten, die Funktionierenden, die Karrieregeilen und die mit Kopf, Herz und Hand Engagierten.

 

Unsummen wurden und werden ausgegeben, nur um die Weiterqualifikation der Lehrer*innen-Ausbildungssequenzen Kindergarten, Pflichtschule, Oberstufe, Studium und Lehramtsanwärterzeit fortzuführen. Der Staat nimmt viel Geld in die Hand um auch mit der selbst formulierten „Pflichtschule“ ihren gesellschaftlichen Bildungsauftrag zu erfüllen.

 

Ich erlebe bis heute, dass all diese Bemühungen von den gleichen Politikern torpediert werden, um wiedergewählt zu werden. Die - im internationalen Vergleich trotzdem zu niedrigen - Unsummen für Bildung werden so gerne in Kommunen, in Landes- und Bundesparlamenten, in allen deutschsprachigen Ländern gegenfinanziert.

 

Die Verantwortlichkeit von 16 Bundesländern, zusätzlich mit je drei Ministerien für Kindergärten, Schulen und Hochschulen in jedem Bundesland, zusätzlich die verschiedenen Zuständigkeiten für verschiedene Schulformen, zusätzlich die Aufteilung in Zuständigkeiten von Kommunen, Kreisen, mittlerer Schulaufsicht, Bezirksregierungen und Ministerien, spricht Bände der Unvernunft und Desorganisation.

 

Perspektive
Die Bildung wächst trotzdem. Kindergärten haben sich gewaltig gemausert. Hier sorgen private Träger für eine Professionalisierung. Nicht weniger erfolgreich ist – im Gegensatz zu allen auf sie folgenden Schultypen - die Grundschule. Sie existiert seit 1923 als Einheitsschule oder Gesamtschule für fast (Förder- und Sonderschulen hindern daran) alle Schüler*innen vom 1. bis 4., manchmal 6.Schuljahr. Die Sonderpädagogen stellen sich trotz heftiger Gegenwehr auf die Inklusion ein. Die Ganztagsschule scheint eingeführt. Flüchtlinge werden integriert…

 

Ich bin verführt optimistisch zu sein, da Menschen alles lernen können, was sie einmal begriffen haben. Ich gehe von dem Konstrukt aus, dass jemand, der Haltung in einer Fortbildung willentlich für sich gewinnt, sie behalten und in der Schule erfolgreich umsetzen will. Ich tendiere zur verbesserten Weiterarbeit.

 

Ich glaube, dass die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften sowohl eine Achse der Demokratie als auch der Qualität braucht. Es braucht Lehrerinnen, die nicht mehr zuerst wissen, was sie lehren, sondern, dass Lerner lernen. Sie übergeben die Verantwortung für das Lernen den Lernenden selbst.

 

Sie selbst dagegen müssen hervorragende Lehrer*innen und Pädagogen sein. Sie müssen als Lehrer*innen ein Höchstmaß an Kenntnis aller Wissenschaften haben, die sich mit der Entwicklung von Kindern und ihren Einrichtungen auskennen. Sie müssen nicht Lernen planen, sondern die Gelegenheiten zum Lernen mit den Lernern und Erwachsenen organisieren. Sie müssen als Pädagogen über ein wissenschaftliches Knowhow aller Wissenschaften und Medien verfügen, die sich mit dem Lernen befassen und immer die neuesten Didaktiken ihrer Fächer beherrschen. Sie müssen als Lernende selber lernen können und um ihre nötigen Bedingungen der Entfaltung ihrer Lernkraft wissen.

 

Sie müssen Teamfähigkeit, Weltkenntnis und Schulentwicklungsstrategien haben - und Kinder verstehen. Sie müssen aus der eigenen demokratischen, menschenrechtlichen Haltung heraus über die Mittel zur Umsetzung ihrer Haltung in Handlung verfügen. Sie müssen selbst kompetent sein und im Sinne einer Leadershipverantwortung sich selbst bewegen und den eigenen Weg korrigieren können.

 

Im Mittelpunkt all ihrer Handlung steht die Frage „Was ist Lernen“.

 

 

 

 

 

 

 



[1] Schulleiter der GGS Heiligenhaus, ehemaliger Konrektor an der Grundschule Harmonie