Walter Hövel

Kindheit als Lerngelegenheit verstehen

Das Beispiel der Grundschule Harmonie 1995 bis 2015

 

Zusammenfassung

Einleitend in das Kapitel zur Didaktik inklusiver Bildung beschreibt Walter Hövel mit der Grundschule Harmonie ein alternatives Schulmodell, das Bildung als einen Prozess der Selbstbildung von Kindern hin zum Erwachsenwerden versteht. Frei von Vorgaben Erwachsener gestalten die Kinder ihren Lerntag selbst; deren Aufgabe ist die Unterstützung und Begleitung eines jeden Kindes beim erfolgreichen Verstehen seiner selbst, seines Lernens und seines Lebens. Nur wenn Kinder als gleichwürdige Menschen anerkannt werden und für ihr eigenes Leben verantwortlich sein dürfen, kann die Schule ihre ureigene, ursprüngliche Aufgabe erfüllen: dass Kindheit zur Lerngelegenheit wird.

 

1995 wurde die Grundschule Harmonie ins Leben gerufen. Die fast 20.000 Seelen große Gemeinde Eitorf, 50 Kilometer südöstlich von Köln, brauchte eine vierte Grundschule an ihrem nördlichen Rand. Aufgrund des ehemaligen Bergwerks heißt der Ortsteil „Harmonie“, so auch die Schule. So begann ein bunt zusammengewürfeltes Team von Lehrer*innen in einem neuen Schulgebäude.

 

Die Chance des Neubeginns wurde zum ‚Schule-anders-machen‘ genutzt. Die Kinder sollten ernst genommen werden. Ernst nehmen bedeutet weder, Kinder und junge Menschen zu verhätscheln, noch sie mit Spiel und Lernen zu ‚bespaßen‘ oder einzuschüchtern. Sie werden nicht der Lernverweigerung, des Fehlverhaltens, der Widerständigkeit oder des Nichtkönnens beschuldigt. Ihnen wird nicht misstraut. Sie werden nicht als ‚bessere Menschen‘ verklärt. Sie werden einfach als Menschen gesehen. Als Menschen, für die alle Menschrechte gelten. Es sind Kinder, die erwachsen werden wollen, die schon Verantwortung tragen, ein Gefühl für den eigenen Wert haben und erfahren sollen. Sie sollten Zeit für ihr eigenes Lernen bekommen.

 

Das neue Kollegium übernahm die Einschätzung des Schulleiters und verdächtigte das hergebrachte schulische Unterrichten als ein entscheidendes Manko. Vielleicht hindert das gleichschrittige, frontale Lehren mit seinen vorschreibenden Unterrichtsvorgaben junge Menschen daran, sich frei und offen zu entfalten. Immerhin hatte schon Albert Einstein gesagt: „Der Unterricht tötet unsere Fähigkeit, uns zu wundern. Nur ein Genie kann davon unverdorben bleiben“ (Betriebstechnik Kurzwelle 2016: 2). Genauso hart und alternativlos formulierte es Hermann Hesse: „An mir hat die Schule viel kaputt gemacht, und ich kenne wenig bedeutende Persönlichkeiten, denen es nicht ähnlich ging. Gelernt habe ich dort nur Latein und Lügen“ (Hesse: 1906).

 

Das Team der Lehrerinnen und Lehrer einigte sich, das eigene Unterrichten zugunsten des Lernens der Kinder abschaffen zu wollen.

 

Der Aufbau

In den nächsten Jahren verfestigte sich ein Lernsystem aus dem Kreis als Klassenrat heraus. Ohne Vorgaben der Lehrkräfte durch Schulbücher, Fibeln, Lernbüros, Wochenpläne oder andere von Erwachsenen gemachte Lernvorgaben, lernten die Kinder den Lerntag mit der Frage „Was machst du heute?“ selbst zu gestalten. Sie lernten sich verbindlich für eine eigene Arbeit in Kooperation mit Freund*innen und Mitschüler*innen zu entscheiden. Sie entschieden sich zum Schreiben eigener Texte, zum Malen ihrer Bilder, zum Arbeiten am und mit dem Computer. Sie lernten Medien als unendliche Quelle der Informationen und des Wissens zu nutzen. Sie lernten mit Materialien sich selbst die Mathematik zu erschließen, Lösungswege zu verstehen, zu diskutieren, eigene Theorien aufzustellen und diese mit denen der Wissenschaft zu vergleichen. Sie lernten an eigenen Themen zu arbeiten, eigene Fragen zu stellen, Hypothesen aufzustellen und zu experimentieren. Sie lernten zu forschen, in der eigenen oder in und an anderen Sprachen, in der Literatur oder durch eigene Wahrnehmung. Sie lernten die eigene Sprache und neue Sprachen zu erobern.

 

Sie lehrten einander alles, was sie erarbeitet, durchdrungen, erkannt und an Erkenntnis gewonnen hatten. Sie lernten sich und ihr Lernen auch außerhalb der Schule zu präsentieren. Da sie etwas lernten, hatten sie auch etwas zu lehren.

 

Sie lernten zu komponieren, Instrumente, Theater, Rollenspiele und Schattentheater zu spielen. Sie lernten den freien Ausdruck als Mittel des Lernens zu nutzen. Sie organisierten ihre eigene Bewegung, nicht nur in Sportstunden, sondern in einem selbst geschaffenen Schulgelände, das bald ihren Lernraum erweiterte. Sie wurden begeisterte Leserinnen und Leser. Anstelle von Schulbüchern wurden ‚echte‘ Bücher gekauft. Bald waren es über 5000 Bücher und die ganze Schule war eine Bücherei.

 

Sie lernten die Herausforderung anzunehmen. Sie nahmen an mathematischen Wettbewerben mit großem Erfolg teil und stellten sich ‚intelligenter Mathematik‘. Sie mischten sich ein in das soziale und politische Leben der Gemeinde, ob es um das Abholzen einer Buchenhecke oder um die Bürgermeisterwahlen ging. Sie halfen Kröten über die Straße, sammelten Müll, machten aus Obst Säfte, besuchten Kindergärten oder Altenheime. Sie wanderten bis an den Rhein, fuhren per Fahrrad durchs Emsland oder gingen im Sternmarsch aus 20 Kilometern auf die Schule zu.

 

Sie lernten sich selbst und die eigene Leistung einzuschätzen. Sie lernten eigene Lernpläne zu machen und umzusetzen. Sie lernten den demokratischen und gewaltfreien Umgang miteinander. Sie lernten sich selbst und die anderen zu schätzen.

 

Die Schule wurde bekannter und bekannter. Da waren der Umweltpreis des Kreises, die Nominierung zum ersten Deutschen Schulpreis, die Ernennung zur Europaschule, der eTwinning-Preis und die Ernennung zu einer Schule des individuellen Lernens.

 

Da waren die zehnjährige Partnerschaft mit einer englischen Schule, die vielen Jahre der Comenius-Projekte und die Kooperation mit anderen Schulen beim Blick über den Zaun. Wöchentlich kamen Hospitationsgruppen. Universitäten hielten ihre Seminare in der Schule ab. Sie wurde Ort für Fachtagungen, Ausbildungstreffen, Studienseminare, Doktorarbeiten, dreisemestrige oder mehrwöchige Praktika, wissenschaftliche Untersuchungen und Sendungen von Funk und Fernsehen. Nach einigen Jahren sprachen die Kinder eine Sprache, mit der sie sich selbst und ihr Arbeiten erklären konnten. Ihre Mit- und Selbstbestimmungsorgane wie Klassenrat, Schulversammlungen und Kinderparlament hatten sie zu erfahrenen Demokrat*innen gemacht, die wussten was und warum sie etwas taten. Sie waren zu sich selbst gestaltenden Lerner*innen geworden (vgl. Grundschule Harmonie 2016; Hövel 2016a).

 

Zur Philosophie der Schule

Erwachsene wissen oft nicht (mehr), wie Kindheit geht. Dabei waren alle einmal Kinder. Zwar waren sie dies in einer anderen Zeit und in einem anderen Gesellschaftsraum, aber alle Menschen haben ihre Kindheit lernend erfahren. Eigentlich ein Grund genau zu wissen, was Kinder fühlen, was sie denken, wie sie lernen, wie sie sich entwickeln, wie sie sich wehren und warum sie so oft etwas anderes tun, als von ihnen erwartet oder erwünscht. Da kann Jesper Juul schreiben: „Die Kinder gehören prinzipiell sich selbst. Aber das hat die Erwachsenen noch nie interessiert“ (Juul 2013: 44).

 

Erwachsene laufen gerne Gefahr ‚kindgerechte‘ Programme zu entwickeln, ohne die Kinder einzubeziehen. Entsprechend werden sie von diesen nicht zwangsläufig akzeptiert oder genutzt und bringen nicht die gewünschten Erfolge. Das vertraute System Schule hat sich bewährt und wird ‚am Laufen‘ gehalten. Erinnerungen und Schlüsse aus den gebliebenen Erlebnissen werden selten berücksichtigt und unterscheiden sich von aktuellen Konzepten. Nationale oder regionale Herrschaftskonzepte mit dem Flair des globalen Zeitgeistes setzen sich in Familien, Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Betrieben, Medien, Wissenschaften und Altenheimen durch.

 

In Schule, Kindergarten und Familie lernen Erwachsene immer besser, Kinder zu beobachten (vgl. Knauf in diesem Band). Dabei finden sie Erklärungen dafür, warum Kinder was tun oder eben nicht. Immer mehr sehen die Fachkräfte, womit Kinder sich beschäftigen, was sie annehmen und was sie ablehnen. Immer mehr erkennen sie, auf welche Angebote, Materialien, Situationen und Verhaltensweisen Kinder sich einlassen und ziehen ihre Interpretationen daraus.

 

Obwohl das Wissen über Kinder sich zu festigen scheint, gelingt es nicht, Kindheiten und Kinder vollständig zu durchdringen. Kinder bleiben den Erwachsenen zugleich überlegen. Während pädagogische Fachkräfte ihre Beobachtungen professionalisieren, üben auch die Kinder sich im Beobachten und kopieren deren Verhalten. Sie beobachten sie, um so zu werden, wie sie sind. Sie wollen erwachsen werden. Sie werden so erwachsen wie ihre Vorbilder, nämlich wir. Daher vergessen Erwachsene auch, wie sie als Kinder waren. Schließlich haben sie ihre Kindheit lang darauf hingearbeitet erwachsen, also wie die anderen Großen, zu werden. Das Erwachsensein ist das, worauf es ankommt, das Kindsein das zu Überwindende, das Minderwertige.

 

Wie wahr ist Korczaks Satz: „Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest […]. Unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du zunächst einmal erkennen, erziehen und ausbilden musst“ (Korczak 1967: 156).

 

Zum Schulkonzept

Die Grundschule Harmonie beschloss, Bildung als Prozess der Selbstbildung von Kindern hin zum Erwachsenwerden zu verstehen. Lernen sollte nicht mehr vorgegeben werden, um es nicht auf unbeabsichtigtes Kopieren der Erwachsenen zu reduzieren.

 

Wenn Kinder zu dem werden sollen, was ihnen selber eigen ist und innewohnt, so brauchen sie möglichst viel Gelegenheit zum eigenen Erproben, zum eigenen Forschen, zum eigenen Lernen. Schule hilft dabei, die Lerngelegenheiten zu finden. Sie kreiert – mit den Kindern – den Alltag. Eine Schule als Lernort (neben Kindergarten, Hort, Familie) entsteht, wenn Lernen nicht Imitation des Erwachsenseins ist. Die Kinder müssen ihr

 

Lernen selbst organisieren, selbst lernen, selbst leben.

Erwachsene dürfen anwesend bleiben – auf Augenhöhe –, aber als Unterstützende, die nicht mehr für das Lernen der Kinder verantwortlich sind. Das sind die Kinderselbst, während Erwachsene verantwortlich für das eigene Können sind. Sie sind verantwortlich für ihr Auftreten, für ihre Vorbildwirkung, die menschlichen, demokratischen, pädagogischen Fähigkeiten, vielleicht auch für die Unterstützung des Lernens. An der Grundschule Harmonie entwickelte sich ein Lernen, das die Kinder selbst bestimmen, organisieren und wertschätzen. Dieses Selbst-Lernen wurde zum Allerwichtigsten.

 

Erst nach der Selbstbestimmung des Kindes – egal, wie lange sie dauert – kommt das Angebot der Erwachsenen. Kinder und Erwachsene lernen, dass das Signal für die Richtung des Lernens vom Kind und nicht von den Lehrenden ausgeht. Erwachsene beraten die Kinder und ihre Entwicklung in den Klassen. Sie tun dies nicht immer zurückhaltend, sondern nur, wenn – im Sinne Wygotskys (vgl. Feuser in diesem Band) – das Kind das Wissen der Anderen sucht. Sie überzeugen, werben für Inhalte, unterstützen. Sie verabschieden sich aber von der Macht der Lehrenden, dem Helfersyndrom und dem Kontrollwahn durch Tests, Klassenarbeiten, Noten, Versetzungen und den anderen Werkzeugen des herkömmlichen Bildungssystems. Sie halten ihr Wissen und Können zurück, bis es aus dem Kreis ihrer Klasse, dem Klassenrat heraus angefragt wird. Kinder entscheiden sich für ihre Lerngänge. Sie bieten ihre Themen und spannende Inhalte z.B. in der Kinderuni oder in ‚Ateliers‘ (vgl. Hövel 2011) an. Nur die Kinder entscheiden, an welchem Thema sie arbeiten und welche*r Erwachsene sie dabei begleitet. Im Zweifelsfall arbeiten sie an den eigenen Themen weiter.

 

Die Schule lädt Eltern zum Lernangebot ein. Hospitierende und Praktikant*innen geben als Besucher*innen ihr Wissen an die Kinder weiter. Die Kinder finden bei ihrer Suche nach Lerngelegenheiten Studierende und andere Erwachsene (vgl. Hövel 2014a, 2016).

 

Die Schule wird im Regelfall zum Lernen verlassen (vgl. Hövel/Schulte 2016, Hövel 2014), Expert*innen kommen in die Schule. Sie sind Mathematiker*innen, Ärzt*innen, Arbeitslose, Pensionist*innen, Kinder anderer Schulen, Hausfrauen oder Angehörige von Minderheiten (vgl. Hövel 2014a). Da wird „das ganze Dorf“ zur Schule! So erleben sie ihre Kindheit als Lerngelegenheit, mit Freunden, in der Kooperation der Klasse, in der Schule und in der Region. Sie erleben das Dorf in der sich ständig verändernden Welt!

 

Zum Beispiel: Kinder der Schule

Ulli1 ist ein echter Autist. Die ‚für Inklusion zuständige‘ Schulrätin empfahl einen weiteren Verbleib im Kindergarten, danach die Überweisung in die ‚Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung‘. Die Eltern wollten diese Selektion ihres Kindes nicht. Da keine Regelschule in der für das Kind zuständigen Gemeinde bereit war es aufzunehmen, landeten die Eltern bei der Grundschule Harmonie. Hier gelten für alle die Regeln: Die Eltern hospitieren und sie entscheiden über die Einschulung ihres Kindes. Die Eltern informierten das Kollegium darüber, was aus ihrer Sicht für eine Beschulung nötig sein würde. Ulli wurde von den Kindern und Erwachsenen einer unserer altersgemischten Klassen aufgenommen. Die Mutter entschied, während des gesamten Schultages bei ihrem Kind zu bleiben. Dem wurde zugestimmt mit der Perspektive, zusätzlich eine qualifizierte professionelle Integrationsbegleitung für das Kind zu finden.

 

Im Schulnetzwerk fand sich eine Mutter, die im Zusammenleben mit ihrer damals 40-jährigen Tochter eine große Expertise (zum Autismus) erworben hatte und die als qualifizierte Begleiterin eingeschätzt wurde. Ärzte hatten dieser eine mehr als düstere Lebensprognose gestellt, die sie durch ihre Arbeit und ihre Erfahrungen widerlegen konnte. Das zuständige Jugendamt war professionell genug, diese Lösungsrichtung zu unterstützen. Die ‚Expertin‘ beschrieb Ullis Mutter ihre Arbeitsweise, die im Wesentlichen darin lag, vermeintliche Auffälligkeiten auf Seiten des Kindes nicht kompensieren zu wollen, sondern diese als Ausdruck des persönlichen Entwicklungsstandes und seiner Bearbeitungsversuche zu sehen, um von dort aus mit dem Kind seinen eigenen Weg zu finden. Die Eltern hatten nicht die Kraft, diesen Weg zu gehen.

 

Die Mutter bevorzugte es, selbst bei dem Kind zu bleiben. Immerhin gelang es aber, sie zu überzeugen, aus einem „Token-Erziehungs-System“2 auszusteigen, wozu ein renommiertes Beratungsunternehmen sie aufgefordert hatte. Immer wenn das Kind etwas (für die Mutter) Richtiges tat, wurde es von ihr mit einer Süßigkeit belohnt. Sie schaffte es schon nach kurzer Zeit, diesen Unsinn ersatzlos zu streichen. Ulli ‚matschte‘ mit Farben, versuchte Kontakt durch Beißen aufzunehmen und war mitten in der Gemeinschaft der Klasse und der Schule.

 

1 Alle Namen sind geändert.

2 Token-Systeme oder auch Belohnungssysteme dienen vor allem in der Ergotherapie dazu Kindern ein gewünschtes

 

Die Mitschüler*innen und Ulli lernten über ein Jahr lang sich selbst, einander und ihre Gemeinschaft einzuschätzen und zu schätzen. Es bestätigte sich: Wenn eine Gruppe lernt, sich inklusiver zu verhalten, wächst Verständnis für Auffälligkeiten, die vorher als ‚störend‘ galten. Ulli ging weiter über die Grenzen der Mutter, der Kinder, deren Verhalten nahe zu bringen und sie in ihrem Verhalten zu bestärken und zu motivieren Erwachsenen und seiner selbst. Jede*r konnte zuschauen, wie Ulli sich von Tag zu Tag Welt und Lernen eroberte. Wie sehr er uns und seine Situation liebte, wurde mir spätestens an dem Tag bewusst, als er über den Gang auf mich zulief und kräftig in meinen dicken Bauch biss.

 

Michis Eltern wählten die Harmonie in der Hoffnung, hier keinen offensichtlichen oder versteckten Lern- oder Verhaltenszwängen ausgesetzt zu sein. Sie trauten ihrem Kind. Es begann schnell zu lesen, eigene Texte zu schreiben, sich die Mathematik, Musik und das Denken zu erobern. Es lernte eigener Ästhetik, eigenen Fragen und Forschungen zu folgen. Es hörte nicht auf zu spielen, zu träumen oder zu tanzen. Es lernte im eigenen Tempo, schnell, individuell, kooperativ, gründlich, kreativ und nachhaltig. Es begann nicht, sich am Durchschnitt zu orientieren, ehrgeizig oder unterfordert und desinteressiert zu werden. Es ging einfach seinen Weg des eigenen Erfolgs beim Lernen.

 

So hat jedes Kind seine eigene Lebens- und Lerngeschichte. Jedes Kind findet in einem inklusiven, demokratischen Lernsystem den Weg des Lernens in einer Gemeinschaft. Lehrer*innen der Grundschule Harmonie schrieben 2016 in einem Aufsatz zu jedem Kind, das ihnen in der Retrospektive einfiel, einen bezeichnenden Satz (vgl. Gilde et al. 2016). In diesem Aufsatz wird deutlich, wie jedes Kind in seiner eigenen Welt lebt und die Lerngelegenheit der Kindheit ausschöpft:

Das Kind, das bei uns die erste Zahnbürste in seinem Leben bekam und jeden Tag voller Stolz benutzte.

Das Kind, das so gerne in der Ecke saß und Lexika las.

Das sehr begabte Kind, das so oft Basketball spielte und bemerkte: „Das darf ich hier doch, oder?“

Das Kind, das, wenn es sein Ritalin vergessen hatte, vollkommen durchdrehte und andere angriff. Wir waren bis dahin verschworene Ritalingegner*innen!

Das Kind, das das Schneeballverbot in der Pause bekam und das Kind, das dies nach drei Monaten in der Schulversammlung noch wusste. Es war eines der wenigen je ausgesprochenen Verbote.

Das Kind, das eine andere Lösung wollte und für einen Tag das Rückwärtsgehen in Gängen und Forum durchsetzte.

Das Kind, das nie ‚richtig‘ lernte und auch später jeden Schulabschluss verweigerte.

Das Kind, das so schnell beleidigt herumgrölte, aber die lustigsten und intelligentesten Geschichten in der Dichterlesung vorlas.

 

Die Kinderkonferenz

Um einen systemischen Blick auf Kinder zu erlernen, traf sich das Kollegium 20 Jahre lang jeden ersten Montag im Monat in einer selbst organisierten Supervision oder Fallberatung.

 

Man stellte einander die Kinder und die Erlebnisse mit ihnen vor. Es ging nicht mehr um ‚Problemkinder‘, die etwas ‚falsch‘ machten, sondern darum zu verstehen, was uns da gerade mit einem Kind passierte, oder – dem Kind mit uns. Eine der ersten neu entwickelten Fragestellungen war: „Was hat das Kind davon, dass es sich so verhält, wie es sich verhält?“ Das Kollegium lernte, das Kind nicht als ‚versagend‘, ‚fehlerhaft‘, förder- oder verbesserungsbedürftig einzuordnen. Die Kolleg*innen begannen Kinder zu verstehen, zu verstehen, was Kinder von ihnen verstanden. Die Kolleg*innen wollten begreifen, was in der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen passierte, was in ihrer Bindungsgeschichte geschehen war. Sie lernten zu erkennen, was sie eigentlich mit Kindern und was die Kinder selber machten. Sie begriffen, dass sie nicht alle Probleme lösen, nicht alle Lernenden und Situationen im Griff haben können.

 

Sie lernten, nicht mehr Sozialarbeiter*in, Therapeut*in und Kinderpsycholog*in sein zu wollen. Sie lernten für ihr eigenes pädagogisches Handeln verantwortlich zu sein. Sie lernten die Lernumgebung zu sehen. Sie lernten jede Kindheit als eine eigene Geschichte der kindlichen Lerngelegenheit zu begreifen (vgl. Hövel 2014b).

 

Lehrkräfte sind keine Herrscher*innen über Kinder. Sie sind nicht die allmächtigen Vermittler*innen von Wissen und Inhalten. Ihre Aufgabe ist es, jedes Kind beim erfolgreichen Verstehen seiner selbst, seines Lernens und seines Lebens zu begleiten. Lehrkräfte sind Lernkräfte! „Nicht mehr das lernende Kind hat sich auf die lehrenden Lehrer einzustellen, sondern der Lehrer lernt sich auf den Standpunkt des Kindes zu begeben, um diesem bei der Entfaltung seiner eigenen Theorien zu helfen“ (Mützelfeldt 2005).

 

Schule als Lerngelegenheit?

Die Grundschule Harmonie zeichnet sich dadurch aus, dass die Kinder ihr Lernen selber in die Hand nehmen und verantworten. Sie gibt den Rahmen dafür, dass ihre Schülerinnen und Schüler Lerngelegenheiten entdecken und wahrnehmen, damit Kindheit zur Lerngelegenheit wird. Ist nicht gerade das die ureigene ursprüngliche Aufgabe von Schule – und kann Pädagogik sich in dieser Richtung verändern? Können wir Kindern eine Chance zur Lerngelegenheit Kindheit an institutionalisierten Lernorten geben?

 

Franz Kühmayer vom Wiener Zukunftsinstitut3 kam nach jahrelanger Arbeit zu der Erkenntnis, dass Industriebetriebe, ob klein oder groß, bodenständig oder global, sich nur schwer verändern lassen. Er machte den wichtigsten Widerstand in den Systemen selbst fest. Es sind die Mitarbeiter*innen, die begreifen, dass anstehende, notwendige Veränderungen ihre Position, ihre eigene Machtstellung im Betrieb in Frage stellen könnten. Sie sorgen ‚von oben‘ und ‚von unten‘ dafür, dass Neuerungen nicht durchsetzbar sind.

 

 In Schule ist das nicht anders, obwohl sie staatlich finanziert keinen Umsatz macht und keine Gewinne ausweisen muss. Den Kern der heutigen Schule bildet das Verhältnis zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen. Dieses Verhältnis ist klar und deutlich dadurch geprägt, dass Lehrer*innen ‚oben‘ und Schüler*innen ‚unten‘ sind. Schule ist mit diesem Kern eine der deutlichsten auf Machtunterschieden aufbauenden gesellschaftlichen Einrichtungen (vgl. Ntemiris in diesem Band).

 

Wie viele Lehrer*innen haben – niemals in ihrem Leben die Schulbank verlassend – diesen Beruf ergriffen, damit sie endlich einmal – oft zum ersten Mal im Leben – Macht haben? Und wie viele Lehrer*innen starten dennoch ihre Berufskarriere mit demokratischen Absichten?

 

Die meisten Lehrerinnen und Lehrer und anderen pädagogischen Fachkräfte wurden im bestehenden, zudem noch selektiven, Schulsystem fast zwei Jahrzehnte lang sozialisiert. In der Regel Kinder bürgerlicher Familien, studierten sie drei bis vier Jahre oft fern der Wirklichkeit, wurden zu Expert*innen für Erziehung und Bildung, wurden geschult zum Unterrichten. Sie reflektierten wenig über die eigene Kindheit, über die eigene Lern- und Lehrperson, über das selbstständige Lernen (das

 

3 Das Wiener Zukunftsinstitut gibt jährlich den „Zukunftsreport“ heraus. Vgl. http://www.zukunftsinstitut.de/?gclid=CM7VnaiL8tACFbIW0wodyxAJjg AA

 

ihnen selbst meist nicht begegnet war), über die Motivation und die Aufgabe, Lehrer*in zu werden. Wenn sie dann noch immer Schule öffnen und verbessern wollen – und überraschend viele wollen das – werden sie im Alltag der Schule von den in ihr wirkenden Menschen, Schüler*innen, Kolleg*innen, Eltern oder Leitungen in das laufende System eingepasst. Und sie passen sich an, um nicht zu scheitern.

 

Zugleich gibt es viele Kinder, viele sogar Lehrkräfte, die sich wehren! Aber nur die wenigsten setzen ihre Änderungsideen, Eltern, ihren Fortschritt durch, um das Machtgefüge nicht zu gefährden. Die Macht bleibt auf Seiten der Institution, liegt im Bildungsmonopol des Staates.

 

Die Grundschule Harmonie als Veränderungssystem

Die Grundschule Harmonie hätte sich anders entwickelt, wenn nicht der Machtabbau zwischen Kindern und Erwachsenen, immer mit dem Ziel der Stärkung der Kinder, im Mittelpunkt gestanden hätte. Nicht nur deshalb war sie vielen Verwaltungsmenschen, Politiker*innen und Wähler*innen in der Gemeinde immer ein Dorn im Auge. Diese wollten sie nicht verstehen, nicht zulassen, sie wollten sie niemals haben. Sie wollten keine Veränderung des gesellschaftlichen Machtgefüges zu ihren Ungunsten. Und so drohte der Schule mit dem Weggang des Schulleiters ihre Abschaffung.

 

Genauso hatte die Schule ihre bedingungslosen Freunde. Bürger*innen erfreuten sich an der ‚Machtverschiebung‘ zugunsten der Kinder. Sie wollten den frischen europäischen, menschenrechtlichen und inklusiven Wind des Lernens! Für diese Menschen sind 20 Jahre der konkreten Existenz, der gelebten Erfahrung einer anderen, einer demokratischen und inklusiven Schule nicht mehr auslöschbar.

 

Wenn einmal der Schritt getan ist, Kinder als gleichwürdige Menschen anzuerkennen, beginnen Lehrkräfte das vorgebende Lehren weniger ernst zu nehmen als das Lernen der Kinder selbst. Kinder passen nicht in die planbaren, standardisierten, ‚harten‘ Strukturen einer schulischen Organisation. Pädagogische Fachkräfte beginnen das heterogene, individualisierte, auf Handeln ausgerichtete Lernen, Lehren und Leben von Kindern als die Realität anzuerkennen. Kinder zu verstehen, als (vermeintlich) Lehrende neugierig auf sie zu sein und ihre Lernwege zu erkunden, wird zum Ausgangspunkt pädagogischer Tätigkeit. Das bedeutet für Lehrkräfte selber Lernkräfte freizusetzen und zu verstehen versuchen, was Kinder lernen (möchten) und wie ihnen dabei zu assistieren ist.

 

Es ist die alte Frage, ob eine andere Pädagogik nicht Struktur bräuchte und welche.

Ja, natürlich braucht sie Struktur! Nicht die einengende, verängstigende Schulstruktur, die das Lernen eher behindert als aufblühen lässt. Diese Struktur endet in der Verschulung. Lernen braucht die Struktur jedes einzelnen Lernenden. Das Verstehen von Strukturen, die gelebt werden wollen und sich selber entwickeln, braucht Raum, Zeit, Verständnis und Verstehen. Heute nennen wir das Individualisierung, Kooperation, Heterogenität, Inklusion, Kinderrechte, Demokratie und offenes Lernen.

 

Pädagogische Fachkräfte können sich gemeinsam mit Kindern für die Lerngelegenheiten der Kindheit öffnen. Dafür gilt es, vorhandene Expertisen, Kompetenzen, Qualifikationen und Erfahrungen ‚umzuwidmen‘, in neue Verhältnisse zu überführen – und gemeinsam eine demokratische Haltung zu entwickeln.

 

Die Kinder – und das sehen nicht nur die ehemaligen Kolleg*innen der Grundschule Harmonie deutlich – danken es ihnen. Jahrelang wurden sie wissenschaftlich und unwissenschaftlich beobachtet und eingeschätzt. Das Ergebnis war immer dasselbe: Egal an welche ‚weiterführenden‘ Schulen sie kamen, sie blieben erfolgreiche Lerner*innen, Klassensprecher*innen, Abiturient*innen, herausragende Studierende, Künstler*innen, Handwerker*innen, Ärzt*innen oder wieder Lehrer*innen. Sie blieben auffällig oder unauffällig. Sie blieben verträumt oder neugierig. Sie blieben empfindlich oder mitreißend.

 

Sie wurden die Menschen, die sie werden konnten. Sie nahmen ihre Lernerfolge und Lerngelegenheiten, aber auch ihre demokratischen, inklusiven, menschenrechtlichen, sozial-verantwortlichen und offenen Erfahrungen mit.

 

Literatur

Betriebstechnik Kurzwelle (2007): http://www.afu.andreas-schuermann.de/files/Afu/Downloadarchiv/Betriebstechnik_Kurzwelle.pdf [Zugriff: 24.01.2017].

Gilde, Luzie/Hofmann, Birte/Hövel, Walter/Klaes, Daniela/Morenzin, Martina/Peschel, Falko/Peschel, Steffi/Schaumann, Christine/Schulte, Ulli/Wagner, Heike/Witt, Anne (2016): 20 Jahre Grundschule Harmonie. Jedes Kind, eine Geschichte!! 1000 Kinder sind 1000 Geschichten. http://www.walter-hoevel.de/inklusion/jedes-kind-ist-seine geschichte/ [Zugriff: 24.01.2017]. Grundschule Harmonie (2016): www.grundschule-harmonie.de [Zugriff: 01.11.2016].

Hesse, Hermann (1906): Unterm Rad. Berlin: Fischer.

Hövel, Walter (2011): Kinder-Uni selber machen! Wer forschend und eigenständig lernt, entdeckt die Universität. Eitorf. http://www.walter-hoevel.de/kinderuni/kinderuniselber-machen/ [Zugriff: 24.01.2017 ].

Hövel, Walter (2014a): Draußen-Tage: Kinder erfinden ihre Lernwerkstatt. In: Hagstedt, H./Krauth, I. M. (Hrsg.): Beiträge zur Reform der Grundschule Band 137, Lernwerkstätten.Potentiale für Schulen von morgen. Frankfurt a.M.: Grundschulverband, S. 76–86.

Hövel, Walter (2014b): KinderKonferenz. Eitorf. http://www.walter-hoevel.de/p%C3%A4dagogische-beitr%C3%A4ge/heterogenit%C3%A4t-kinderkonferenz/ [Zugriff: 24.02.2017].

Hövel, Walter (2016a): www.walter-hoevel.de [Zugriff: 24.01.2017].

Hövel, Walter/Schulte, Ulli (2016): Wehe wenn sie raus gelassen. Zum Draußen Lernen. Eitorf. http://www.walter-hoevel.de/inklusion/gelebte-inklusion-am-beispiel-dergrundschule-harmonie/

Juul, Jesper (2013): Krippenplätze. Mischt euch ein! In: TPS 2/2005. Darmstadt: Klett Friedrich, S. 44–46.

Korczak, Janusz (1967): Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Mützelfeldt, Ellen (2005): Das Lernen gestalten. In: „Fragen und Versuche“ 3/2005, Zeitung der Freinetpädagogik.