Walter Hövel
Brauchen Kinder Demokratie?
Jedes Kind ist ein kompetenter Mensch
Überlegungen zum Thema
Kürzlich schimpfte auf einer Weiterbildung eine Kollegin. Sie konstatierte, sie habe bei vielen Hospitationen feststellen
müssen, dass viele Schulen in ihrer Praxis überhaupt nicht halten, was sie behaupten zu tun. Sie sagte „Die lügen alle!“ Hatte Sie nicht Recht? Erlebe ich es nicht genau so?
Ich würde vielleicht noch einschränken, dass „viele übertreiben“, ihnen „die Lehrkräfte zur Umsetzung des Anspruchs fehlen“ oder „das noch kommen wird, was sie schon formulieren können“. Aber die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist in der Regel riesengroß. Es wird viel geschrieben, was in der Wirklichkeit nicht so gehandhabt wird.
Zu vielen Menschen in Schule tätig, fehlt einfach die Sichtweise, dass an ihrem Hadeln etwas nicht in Ordnung sein könne. Sie schreiben ihre Zeugnisse, ihre Förderbedarfsberichte, ihre Elternbriefe. Sie beschreiben die Defizite der Schüler*innen. Sie diskutieren Busfahrpläne statt Pädagogik, wie kürzlich ein Schulleiter über andere berichtete.
Sie kennen ein System, das die Fähigkeiten jedes Menschen einfach nicht sieht. Sie glauben sich im Recht. Wie sagte die Schimpferin später: „Ich arbeite für den Staat. Meine Aufgabe ist es, möglichst viele Menschen durch die Prüfungen zu bekommen.“
Lehrerinnen und Lehrer vertreten in ihrer übergroßen Zahl das staatliche System der belehrenden Schule. Sie sehen nicht den Auftrag der Menschenrechte, den sogar der Staat in seinen Richtlinien und Lehrplänen formuliert: „Erzieht Menschen, die selber lernen, damit sie mündige Bürger*innen werden“. Sie produzieren sich stattdessen immer wieder nur selbst.
So bleibt die Schule In der Regel die gesellschaftliche Rutschbahn in ein vorhandenes Kastenwesen Deutschlands. Die Macht bleibt nicht nur in diesem Land bei den Lehrer*innen. Die Inhalte des Lernens geben Schule, Staat und die Schulbuchverlage mit ihrem Bildungssystem vor. Das äußere und innere Selektionssystem und die Existenz der Förder- und Sonderschulen widersprechen dem Anspruch der Menschenrechte für alle und der Inklusion. Selbst die finnische Schule besteht in ihrem Zentrum frontal unterrichtend aus „aus Disziplin, Leistung und Ordnung“[1]
Es wird zur Mitte hin gefördert. Unten die bleiben eh draußen, und oben die werden meistens als „aufsässig“ eingeordnet. Nur bei viel Geld und Bildung im Hintergrund oder dem Zufall „eines guten Lehrers“ kann das „hoch begabte“ Kind Glück haben. Schulbehörden und Wissenschaften reden von Heterogenität, Diversität, Nachhaltigkeit, Partizipation und lebenslangem Lernen. In ihrer Praxis aber bleiben Schulen unterversorgt und praktizieren das tägliche Überleben des gleichschrittigen Lehrers und Lehrplan bestimmten Unterrichtens.
Nun ist es so, dass die Grundschule Harmonie nicht mehr so arbeitet, wie sie es zwischen 1996 und 2014 tat. Es ist also nicht mehr durch eigenen Augenschein überprüfbar, ob das Geschriebene stimmt.
Zu unserem Glück haben über 1000 Kinder, die doppelte Zahl von Eltern und abertausende wöchentliche Besucher die Wirklichkeit dieser Schule mit eigenen Augen 20 Jahre lang gesehen. Sie haben es selbst erlebt. Wir lassen gelten, was sie berichten.
Sie schrieben manch einen Aufsatz über ihre Eindrücke, in sehr vielen, auch wissenschaftlichen Büchern, drehten Filme und behielten einen bleibenden Eindruck, über den sie auch berichten.
Wir, die wir dort arbeiteten, wissen um unsere Entwicklung. Wir wissen, wie wir uns eine Praxis eroberten, die das Lernen aller immer selbst bestimmter, offener, demokratischer und freier werden ließ. Wir wissen wie wir Unterschichtler „nach oben“ oder überhaupt halfen. Wir kategorisierten sie nicht in „schwache“ und „starke“ Schüler*innen. Wir lernten mit allen, um sie nach vorne zu bringen.
Was nach all den Jahren bleibt, ist die Frage, ob Kinder zum eigenen besseren Lernen die Demokratie des Lernens und der Lernumgebung brauchen?
Ein Ja würde bedeuten, dass das, was wir taten, Einfluss auf die Zukunft des Lernens hat.
Überlegungen zu historischen Entwicklungen
Soweit ich es mit meiner eigenen Geschichte überblicken kann, überlebten meine Vorfahren einen Kaiser Wilhelm und die Herren Ebert und Hindenburg. Sie überlebten die selbst gewählte Schreckensherrschaft eines Hitlers. Es folgten Ulbrichts Mauer und Honeckers Stasi. Auf der anderen Seite saß manch ein Andersdenkender oder Schwuler in Adenauers Gefängnissen oder bejubelten Ex-Nazis wie Kiesinger.
Alle Systeme gehen unter. Alle veränderten sich. Und in welche Richtung? Die Menschen wurden freier. Sie entwickeln Stück für Stück eine demokratische Haltung.
Ist nicht sogar die Veränderung hin zu mehr Demokratie, bei scheinbar ewigen Rückschlägen, die Triebfeder nationaler und internationaler Entwicklung?
Gibt es in den USA nicht trotz Eisenhauer, Reagan oder Trump immer mehr Demokraten. Gibt es keine Entwicklung in der Gleichheit der „Farbigen“, der Frauen, der „Behinderten“ und derer, die anders sind?
Gibt es in der Türkei keine Entwicklung von einem Herrn Demirel, über eine korrupte Frau Ciller hin zum Religionsfanatiker Erdoğan. Sicherlich muss man sehr genau hinsehen, um Entwicklungen zu sehen. Aber das „dumme“ Volk ist „agiler“ geworden.
In Südamerika gibt es mehr „linke“ Regierungen denn je. Die USA putschen nicht mehr so einfach in Chile, Brasilien, Grenada oder Mittelamerika. Die Kräfte der Demokratie sind stärker geworden.
Ob in Britannien, China, Indien, Russland, in Vietnam, dem Iran oder Afghanistan, es gibt Entwicklungen. Sie haben immer mit Demokratie zu tun. Zu leicht vergessen wir, dass es eine Entwicklung über die Zaren, über Stalin und Breschnew zu Gorbatschow und Putin gegeben hat!
Sie alle gehen nicht unbedingt unsere Wege. Aber sie gehen.
Selbst die deutsche Automobilindustrie, die chemische Industrie, die Banken, der Deutsche Fußballbund müssen trotz Aggression und Betrug, trotz nie erfolgter Entnazifizierung Wege gehen, bei denen sie – ob sie wollen oder nicht – über Umweltschutz, Rassismus, Armut und Demokratie reden müssen. Selbst rechte Parteien wie eine CSU müssen für den Frieden eintreten, für die Abschaffung des Wehrdienstes oder der Konfessionsschule, für Inklusion, für die Rechte aller Menschen, für die Ehe für Schwule und Lesben. Das haben sie wirklich nicht immer getan!
Schließlich hat sich sogar das gesellschaftliche Standardsystem Schule dem Zeitgeist anpassen müssen. Das Schlagen ist verboten. Jeder lernt Englisch. Jeder geht zur Schule! Die Zahl der Gesamtschulen steigt. Die Inklusion wächst trotz erbitterter Gegenwehr. Die Ausbildung der Lehrer*innen ist nicht mehr in Händen der Kirchen. Das Sitzenbleiben wird abgeschafft. Die Schulzeit wurde verlängert. Die Rechte der Eltern steigen. Aus einer volkstümlichen Bildung für das einfache Volk wurde der Anspruch einer immer besseren Bildung für alle.
Diese Liste wäre durch all das zu konterkarieren was an erheblichen Mängeln noch immer eine falsche Bildung macht. Aber diese Liste der Verbesserungen ist fortsetzbar!
Und das alles trotz Demokratie? Nein, wirklich alle Veränderungen sind Produkt der demokratischen Arbeit unzähliger Menschen. Welch eine Veränderung gibt es doch seit Kaiser Wilhelm bis heute!
Und natürlich gibt es starke gesellschaftliche Kräfte, die gegen Demokratie auftreten. Natürlich wären Betriebe, Schulen, ganze Völker ohne sie leichter zu führen. Natürlich ist die ständige Demokratisierung ein Vorgang ständiger Anstrengung und Kosten.
Da wird von den einen mit Sicherheit, Ängsten und Überfremdung an Vergangenheit festhaltend argumentiert. Andere sprechen von Freiheit, Würde und internationaler Verantwortung. Sie wissen, dass die Vergangenheit nicht mehr veränderbar ist, aber unsere Zukunft.
Und Schule, als exaktes Abbild unserer Gesellschaft, fördert und produziert das gesamte Denken. Eine demokratische Schule aber, selbst im Tempo einer Schnecke, bewegt sich durch Demokratie hin zu mehr Demokratie.
Die Demokraten entscheiden mit ihrer Arbeit die Richtung der Entwicklung! Wir haben keinen anderen Motor hin zu mehr Menschlichkeit, weg von unwürdigem Leben in Krieg und Armut.
Fakten zur Grundschule Harmonie, Fakten zu einem Lernen in Demokratie
Wer die Grundschule Harmonie nicht kannte, sollte mindestens das Folgende wissen.
Lehrerinnen und Lehrer unterrichteten hier nicht. Es sei denn, sie kündigten an, es zu tun, und dann entschieden die Kinder, ob sie überhaupt hin, und zu wem sie, gingen.
Kinder lernten hier selbst, aber nie alleingelassen. Sie lernten gemeinsam, mit anderen Kindern, den Erwachsenen und ihrer Welt. Sie lernten ohne Vorgaben durch Wochenpläne, Lernbüros, Anweisungen von Erwachsenen oder anders hergestellten Plänen. Sie entschieden jeden Tag, was sie, bei wem, mit wem, in welcher Zeit - und warum arbeiteten.
Dies erzählten sie in der Regel morgens im Kreis des Klassenrates, wo sie auch ihre Ergebnisse vorstellten, alle Ergebnisse, und fast alle waren welche, würdigten und evaluierten. Sie arbeiteten alleine oder in von ihnen ausgesuchten Gruppen und Verabredungen, altersgemischt und oft genug über ihre Klasse oder die Schule hinaus.
Sie lernten ihre Sprachen. Sie lernten sich auszudrücken, sich zu erklären. Sie lernten mit ihrer Sprache ihre Welt zu machen. Wir kreierten die Normalität der Eigenverantwortlichkeit des Lernens.
Dabei machten Kinder, Lehrerinnen, Eltern, Integrationshelfer oder Gäste, Angebote für einzelne, auch schon einmal für kleinere oder größere Gruppen. Sie wurden täglich von maximal zwei bis fünf Kindern pro Klasse angenommen. Die anderen arbeiteten an den eigenen Fragen, Themen und Aufgaben. Sie fanden diese über Materialien oder Medien, meist durch eigene Wahrnehmung, Fragen und Forschung.
Alle 14 Tage fand die Kinderuni statt. Sie dauerte von einen bis zu drei Tagen, manchmal auch die ganze Woche. Hier suchten die Kinder sich aus, in welche Vorlesungen oder Seminare sie gingen, oder – ob sie sich weiter der eigenen Arbeit hingaben. Die Angebote machten mal Erwachsene, auch Fachleute aus der Region, oder die Kinder selbst.
Die Kinder reflektieren ihre Leistungen im Kreis, mit Selbsteinschätzungsbögen und in Gesprächen mit den eigenen Eltern und Lehrkräften. Im Alltag gab es weder Tests, noch Klassenarbeiten, noch Noten oder Smileys.
Nie hat die Schulleitung die Einschulung eines Kindes abgelehnt. Es war in der Verantwortung der Eltern und Kinder, ob sie bei uns lernen wollten oder nicht.
Wer mehr über den täglichen Betrieb und die Grundsätze der Schule wissen will, findet ausführliche Aufsätze und Dokumentationen auf der Homepage www.walter-hoevel.de
Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Kindern, Demokratie und Lehrkräften.
Das Verhältnis von Lehrerinnen und Lehrern zu Kindern der Grundschule Harmonie wurde bestimmt durch das Verhältnis von Demokratie und Lernen.
Klar, da war schon eine demokratische Grundhaltung bei den Lehrkräften. Bei der einen mehr aus persönlicher Erfahrung, bei der anderen mehr über eine christliche Einstellung, beim dritten aus einer Nachkriegs-Re-Education-Erziehung, bei der vierten durch die Erziehung der Eltern oder die eigenen Erfahrungen in der Schulzeit. Aber sie mussten diese ihre eigene Haltung an der Grundschule Harmonie nicht erst in Handlung umsetzen lernen. Es wurde von Erwachsenen verlangt, dass sie entsprechend ihrer Haltung auch handelten.
Es war nicht zuerst die Demokratie, die Lehrer*innen zur Demokratie in der Schule trieben, sondern der Wunsch, der Wille, dass die Kinder selber lernen. Lehrer*innen wollten, dass Kinder ihre Kompetenz nutzen und die Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen. Das funktioniert nur, wenn sie ihre eigene Art zu lernen gut finden. Sie müssen als „Bündnispartner ihres eigenen Lernens“ und eines „offenen“ Konzepts gewonnen werden.
So entsteht die Demokratie durch die eigen bestimmte und bestimmt eigene Arbeit der Lernenden. Diese prägt das Verhältnis zwischen Kindern, Lehrerinnen und dem selbstbestimmten Lernen, in Kreis und Klassenrat, über die Planung, Vorstellung und Auswertung des Lernens.
Eine weitere Dimension der Entfaltung der gesamten menschlichen Fähigkeiten ermöglicht die Versammlung aller Schulangehörigen, die Montagsversammlung, die Teilversammlungen und last but not least das Kinderparlament. Hier findet keine „Mitbestimmung“ oder partielle Machtabgabe zur Aufrechterhaltung der Macht der Erwachsenen durch Partizipation statt. Es ist keine „Gleichmacherei“ unter den Generationen. Hier lernt jeder seine Bedürfnisse zu finden, zu formulieren und umzusetzen. Es geht um die „Gemeinschaft der Gleichwürdigen“, um einen Begriff Jesper Juuls zu gebrauchen.
Im Kinderparlament um 1998, zwei Jahre nach dem Start der Schule gegründet, wollten die Jungs zunächst nur über Regeln beim Fußballspielen reden. Die Schule oder ihr eigenes Lernen waren nicht das Thema der Kinder. Es war etwa so wie Harriet Beecher-Stowe die Befreiung der Sklaven in „Onkel Toms Hütte“ beschrieb. Einige wollten gar nicht „frei werden“, andere wussten nicht, wie „frei sein“ geht.
Da wir die Themen zur Selbstdemokratisierung nicht vorgeben wollten, machten wir mit der ganzen Schule eine Projektwoche zum Kern unseres Demokratiebegriffs, zum Thema „Die Rechte der Kinder“.
Der Groschen fiel. Seitdem entwickelten sich das notwendige Gefühl für sich selbst und die anderen in der Gemeinschaft, das Wissen um den eigenen und Wert des Anderen und das Selbst- und Fremdbewusstsein. Wir begannen die Achtung der Achtung aller Menschen in einer staatlichen Zwangsveranstaltung Schule so umzusetzen, dass das von humanistischer Pädagogik angestrebte Ziel der Freiwilligkeit des Lernens sich verwirklichen konnte.
Das offene Lernen entsteht nicht durch veränderte Form. Das offene Lernen gibt jedem Kind jeden ihm möglichen Zugang zu seinen eigenen Themen und Inhalten.
Heute ist die Gefahr eher, dass die einstündige Sitzung so etwas wie eine Fortsetzung der Soap „Kinderparla-ment“ wird. Viele, auch Erwachsene (!) spielen „Demokratie“. Da ist es wichtig, dass Beschlüsse in die Schul-versammlung, mit Urabstimmungen, Meinungsbefragungen, Statistiken und Gespräche zurück in die Schul-gemeinde oder zurück in die Klassenräte delegiert werden. Autonomie braucht Kreisläufe, Spiralentwicklungen und Lebensfreude.
Da die Beschlüsse die gleiche Wertigkeit wie Beschlüsse der Lehrer*innenkonferenz und Elternschulpflegschaft haben, wirkt die Umsetzung der eigenen Beschlüsse für die Kinder am meisten.
So wurden seit 2004 z.B. die Klassenräte für alle Klassen hier (!) verbindlich beschlossen. Später wurde die Pause und die Schulzeit verlängert. Das Jahrgangsübergreifende Lernen und die weitere Selbstverständlichkeit der Inklusion wurden bestätigt. Die Kinderuni wurde als fester Bestandteil des Schullebens, als Eigeninitiative der Kinder und dann als Kinder-Kinderuni eingeführt.
So brachte die Schülerinnenschaft ihren absolut eigenen Anteil in das Leben und Zusammenwirken der Schule ein und wichtige Entscheidungen gingen nicht an ihnen vorüber. Sie wurden nicht mit Demokratiehäppchen gefüttert, sondern lernten ihre eigenen Suppen zu kochen.
Das eigene Handeln macht die demokratische Haltung unumkehrbar. Die eigene Haltung führt erst in die Lernhandlung und in echte Lernprozesse. Lernprozesse haben ihren Ursprung also nicht nur in individueller intrinsischer Motivation, nicht nur im kooperativen Wollen der Klassengemeinschaften, sondern auch aus dem Willen und der Verantwortung zur demokratischen Gemeinschaft.
Die Erfahrung unseres Gehirns ist nicht nur, dass ich auch auf Demokratie achten muss, sondern dass die Demo-kratie das Lernen vorantreibt.
Es gibt kein Lernen ohne Gemeinschaft und keine Gemeinschaft ohne die lernenden Individuen. Und je mehr Demokratie herrscht, umso mehr echte Gemeinschaft gibt es. Ich kann Gemeinschaft erzwingen. Irgendwann wird sie sich gegen die richten, die von der Gemeinschaft profitieren. Nur echte Freiheit lässt alle Vorteile von Gemeinschaft leben. Es ist nicht die Gemeinschaft gegen andere Gemeinschaften. Das schafft wieder Aggression und Gewalt. Gemeinschaft lernt Inklusion und das Lernen aller.
Lehrkräfte sind keine Herren über Kinder. Sie sind nicht die allmächtigen Vermittler der Inhalte der Fächer. Ihre Aufgabe ist es, jedes Kind beim erfolgreichen Verstehen zu begleiten.
Lehrkräfte sind Lernkräfte.
An der Grundschule Harmonie muss sich (!) jeder Lehrender als lernender und jeder Lernender als lehrender Mensch verstehen.
Alter, soziale
Herkunft, Vorbildung, Begabung, jede bisher erfahrene Behinderung oder Aufenthaltszeit an der Grundschule Harmonie spielen für alle Kinder und alle Erwachsenen die gleiche Rolle. Jeder dieser
Hintergründe macht jeden Menschen zum Lerner und Lehrer mit seiner Welt- und Selbstsicht! Dies gilt auch für die Institution Schule selbst, ihre Eltern, ihre Vernetzung in Gemeinde,
Wissenschaften und Partnern! Die Grundschule Harmonie ist eine lernende Institution.
Wir warten niemals bis “die Mittel genehmigt“, „das Personal eingestellt“ oder „die Erlaubnis gegeben“. Wir machen alles was möglich ist und lassen alles sein, was hier und jetzt nicht machbar ist. Wir warten nicht mit der Einschulung dieser oder jener Menschen bis der Staat oder die Politik, das an Inklusion umgesetzt hat, was sie vor Jahren bei der UNO schon unterschrieben wurde. Bei uns kann jedes Kind lernen, dass bei uns lernen kann und will!
Den Zwang zum Lernen kann man nicht demokratisieren
Demokratisches
Zusammenleben ist kein abstrakter Unterrichtsinhalt. Demokratie ist für uns nicht Formen und Spielregeln, sondern Inhalt der jetzt zu lebenden Menschenrechte.
Die Techniken des Lernens selbst müssen demokratisch sein. Sie müssen so vom Lernenden einsetzbar, benutzbar sein, dass er selbst sein Lernen bestimmt. Nicht mehr der Lehrer bestimmt, nicht die
Lehrpläne, das Material oder die allgewaltige Schule.
So bringen sich die Schülerinnen und Schüler das Lesen und Schreiben selbst bei. So sind dies die Techniken des freien Schreibens, die es ihnen ermöglichen, ihre eigene Sprache so zu entwickeln, dass sie ihrer eigenen Grundlage eines menschlichen Zusammenlebens wird. Dies gilt für die “Dichterlesung[2], die ihre sprachliche Entwicklung über Jahre begleitet und ermöglicht.
Dies gilt für handelnde problemlösende Materialien und Techniken in der Mathematik. Dies gilt für das Bearbeiten die Erforschung eigener oder vorhandener Fragen und Themen. Dies gilt für das
eigene Expe-rimentieren, Musizieren, Wahrnehmen, Gestalten, Bewegen, Erkenntnis- und Wissensansammeln. Es sind Themen, die die Lerngelegenheiten machen, nicht Aufgaben und Fächer.
Der Klassenrat ist nicht der Ort, wo Kinder die Probleme und Konflikte lösen, die Schule selbst schuf und nicht lösen konnte. Dies ist vielmehr der Ort, wo das eigene Lernen in Selbstbestimmung und Verantwortung gemein-samer Gegenstand der Planung, Umsetzung und Auswertung wird. Der Klassenrat ist das Herz, die Seele, die Mitte. Der Klassenrat ist kein Mittel zur Konfliktlösung, wenn Lehrern nichts mehr einfällt.
Der Klassenrat[3], Falko Peschel und andere nennen ihn nur „den Kreis“, plant und organisiert das selbst be-stimmte eigene und das gemeinsame Lernen.
Wir geben die Verantwortung des Lernens an die Lerner zurück, indem wir aufhören zu unterrichten. Die ge-samte Zeit steht der Effektivierung des Lernens und Lebens jedes Einzelnen zur Verfügung. Wir revitalisieren das Lernen. Wir verhätscheln und bespaßen Kinder nicht, sie werden nicht beschuldigt oder ihnen misstraut, wir verklären sie nicht als bessere Menschen. Wir nehmen jedes Kind ernst.
Öffnung von Schule ist eine Öffnung zu allen Inhalten der Kinder und der Welt, unter Entfaltung des eigenen Denkens, Lernens und Lebens.
Demokratisches Zusammenleben ist kein abstrakter Unterrichtsinhalt
Stützen dieser Lernbarkeit sind:
Lern- und Arbeitstechniken
Unsere Praxis war es, dass jeden Tag die Lernenden im Kreis ihre Arbeitsvorhaben vorstellten: Wann sie wie, was und
warum schreiben, mit wem sie wo an welchen Experimenten arbeiten werden, womit sie sich unabhängig von Schulbüchern oder schulinternen Verlaufsplänen mit eigenen Problemstellungen in der
Mathematik beschäftigen.
Sie gaben an, zu welchen Themen sie forschen und Vorträge halten, welche Theaterstücke sie schreiben und spielen, welche Kunstwerke sie frei oder zu Themen kreieren, welche Musik sie mit wem machen, was sie lesen, sich aneignen, bereden oder darstellen wollten.
Die Kinder berichten im Klassenrat über ihre Lernstrategien, Erfolge, Schwierigkeiten und weiteren Arbeitsvorhaben.
Damit Kinder in einer Lernkooperative selbst bestimmen und organisieren können, bedarf es des Knowhows von Arbeitstechniken, die das eigenständige Arbeiten möglich machen. Sie entwickeln sich einerseits aus der selbstständigen Arbeit der Kinder, andererseits aus dem Angebot der Erwachsenen.
Lernen geht ohne Zwang und Strafe. Wir vertrauten in die schöpferischen, friedlichen Entwicklungskräfte des Menschen.
Die Quelle ist der Mensch selbst. Neugierde und intrinsische Motivation sind der Motor des Lernens. Klassenrat, Schulversammlung oder Kinderparlament helfen das Lernen selbst konsequent in die Hände der Lernenden zu legen.
Lernen und Demokratieentwicklung scheinen mir zwei Seiten der gleichen Münze der Entwicklung menschlichen Lebens zu sein. Leben ohne Demokratie scheitert. Umgekehrt braucht sinnvolles Leben Demokratie.
[1] Janine Dunsche, Comenius Education and Culture. Finnland. Ein Eindruck. Eitorf 2010. Janine Dunsche war Studentin des Bastei-Studienganges Inklusion der Universität Siegen. Sie nahm an unserem Lehrer*innenaustausch mit einer finnischen Universitätsschule teil.
[2] Walter Hövel. Die Dichterlesung. In: Fragen und Versuche 151/2015
Download: http://www.grundschule-harmonie.de/assets/Uploads/PDF/Artikel/Die-Dichterlesung.pdf
[3] Pia-Maria Rabensteiner, Überlegungen zum Thema Klassenrat, über die Grundschule Harmonie, Comenius Gesamtdokumentation 2, 2005, <
Download: http://www.grundschule-harmonie.de/Dokumentation%20Comenius%202.pdf auf S. 79