Walter Hövel & Ursula Resch
Demokratie beginnt bei den Kindern
Freinetpädagogik von Anfang an
Eine Geschichte beginnt
Nach dem Ersten Weltkrieg, vielleicht als Folge dieses Krieges der heute noch aggressiv um die ökonomische Vorherrschaft
ringenden Großmächte, beginnt ein Volksschullehrerehepaar in einem kleinen französische Dorf eine neue Sichtweise von Kindheit zu leben.
Célestine und Elise Freinet sind als Weltveränderer Kinder ihrer Zeit. Als französische Intellektuelle sind sie anarchistisch-denkende Mitglieder der Kommunistischen Partei. Aus dieser fliegen sie, weil für sie immer klarer wird, dass Parteidisziplin und Stalinismus nichts mit ihrer Auffassung von Menschenrechten zu tun haben. Sie suchen Demokratie, Frieden, Kooperation, Freiheit und Glück, um Menschenrechte und Leben aller, auch benachteiligter Bevölkerungsteile, lebenswerter zu machen. Sie sehen Kindheit als Ausgangspunkt einer anstehenden gesellschaftlichen Veränderung.
Aber sie wollen nicht warten bis Staat und Gesellschaft die Welt und das Verhältnis zu den eigenen Kindern verändert haben. Sie beginnen die Veränderung sofort, in ihrem Dorf, an ihrem Arbeitsplatz.
Die entstehende Freinetpädagogik sieht sich nicht als Didaktik großer Pädagogikgründer, nicht als demokratische Rezeptur einer Erziehung. Vielmehr hat die Freinetpädagogik seit ihrer Entstehung an sich selbst den Anspruch formuliert, Ziel und Verwirklichung einer „École moderne“ zu sein. „Schule“ beginnt damals wie heute in Frankreich mit drei Jahren in der Schule als „école maternelle“. Einen speziellen Kindergarten gibt es nicht.
Die Charakteristika einer Freinetpädagogik entstehen
1918 endet bei Freinet das erhöhte Katheder im Böllerofen. Die Klassentür wird für
Exkursionen und Erkundungen geöffnet. Die „Spaziergangsklasse“ entsteht. Nicht mehr das getaktete Abmalen von Bildern, das Auswendiglernen von Liedern und Gedichten, das Abschreiben vorgegebener
Texte oder das Einüben von Aufsatzformen ist die Aufgabe der Kinder, sondern das Erzählen und Schreiben von „Texten des Lebens“.
Anstelle von Schulbüchern entstehen Sammlungen eigener gedruckter Texte, die schon bald als Lernmittel von Klassen ausgetauscht werden. Wer noch nicht schreiben kann, findet einen „Kindersekretär“ oder einen Erwachsenen, der dies für ihn macht.
Célestine Freinet führt das Forschen, die tastende Versuche und das eigene Fragen vor allem in naturwissenschaftlichen Bereichen ein. Elise Freinet legt mehr Wert auf die Bilder und Texte, auf den freien Ausdruck. Sie erkennen, wie etwa die spätere Bauhauspädagogik, die Reggio-Pädagogik oder die Lernwerkstättenbewegung, die Bedeutung zweier Motoren des Lernens, der Wahrnehmung und der Ästhetik.
Sie wenden sich ab von der volkstümlichen Erziehung hin zur fachwissenschaftlichen Erneuerungen, ohne die Ganzheitlichkeit der Bildung aus der eigenen Praxis zu verdrängen. Was sie die „methode naturelle“ nennen, das eigen-willige und selbstaktive Lernen des Kindes, das Finden eigener innerer Wissenschaftsmodelle, eigener Lernwege und der eigenen Lernerpersönlichkeit bleiben in der Freinetpädagogik Ausgangspunkt aller Lernprozesse. Das Lernen wird als Prozess erkannt.
Die Lernumgebung wird entdeckt. Die Tristesse des Kindergarten- und Schulräume verwandelt sich mit der Einrichtung von Ateliers. Das frontale von Erziehern gelenkte Unter-Richten weicht der Individualisierung des eigenen Themenfindens und der Bearbeitung im Atelier. Das kindereigene Dokumentieren und Präsentieren zeigt die Richtung zu einem neuen Leistungsbegriff.
Die Kooperation entsteht durch die Präsentation der Arbeit, die gemeinsame Planung, und die Auswertung im Klassenrat, der bald das Herz der Demokratie einer Freinetklasse wird.
Die Bedeutung als eigenständige pädagogisch-politische Bewegung wächst
Diese Ideen gehören vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, in der
Dunkelheit der Pädagogik der frühen bürgerlich-industriellen, obrigkeitshörigen Erziehung, zu einem Assemblee heller Lichtblitze. Sie kündigen, wie die weltanschaulichen Schulen in Deutschland,
Korczaks Waisenhaus, Summerhill oder Ideen Deweys eine neue menschliche Pädagogik an. Heute werden die Freinets von der Europäischen Gemeinschaft zu jenen Pädagogen gezählt, die die Grundlagen
der weiteren Entwicklung des europäischen Bildungswesens lenken sollen. Sie sollen einer Denkrichtung im Bemühen um eine kindernahe und demokratische europäische Bildung der Zukunft entscheidende
Anstöße geben.
Bald merkten die Freinets, dass sie sich in Haltung und Handlung von anderen “Reformpädagogen” der Zeit unterschieden. Sie sehen die Bildung der Menschen deutlicher eingebettet in die demokratisch-politische Entwicklung unserer Gesellschaft, bei gleichzeitiger Notwendigkeit, die eigene Pädagogik für das Kind sofort, noch hier und heute als konsequente Veränderer der eigenen Praxis umzusetzen.
Freinetpädagogik wartet von Anfang an nicht auf die Verbesserung der Bedingungen. Sie verändert vor Ort, was veränderbar ist und lässt, was unveränderbar ist. Sie setzt „das Neue“ mitten in bestehende Strukturen. Sie fragt nicht, ob sie verändern kann oder darf. Sie fragt, wie Veränderungen gehen. Sie verstehen früh, dass jedes Kind auf die eigene Art und Weise hier und jetzt erfolgreicher lernen können, als durch Imitation von abzulernenden Vorgaben oder Empfehlungen.
Sie wollten nicht nur die Kooperation von Erzieher*innen zur Veränderung der Erziehung, sondern eine Kooperation (– heute würden wir von Vernetzung und Regionalisierung sprechen –) der Notwendigkeit der Veränderung der gesamten Gesellschaft. Sie gründeten eigene Kooperationen mit Verlagen, Treffen, Tagungen und Korrespondenz. Sie versuchten sich mit dem Gesundheitswesen, alternativer Ernährung, der Landwirtschaft, dem Handwerk und der Politik zu verknüpfen. Sie begannen eine Bildung und Ökonomie für das Volk innerhalb eines neuen demokratischen Gemeinwesens aufzubauen.
Einen Grund für die Ablehnung der alten Erziehung nannte Freinet „Scolatismus“: „Widerwille vor intellektueller Ernährung, der bis zur totalen Verweigerung gehen kann, Verkrüppelung des Individuums, Lebensuntüchtigkeit, Feindseligkeit gegenüber der falschen Kultur der Schule. Diese Mangelerscheinungen nenne ich Scolatismus“
Freinetpädagogik wird eine Pädagogik der Menschenrechte
Die Freinetpädagogik ist zu allererst eine eindeutige Haltung von
Erzieherpersönlichkeiten zu Kindern und ihren Menschenrechten. Freinetpädagog*innen entwickeln und entfalten ein sich ständig erweiterndes Knowhow demokratischer Praxis des täglichen Lernens. In
der Freinetpädagogik ist jeder Mensch, ob Kind oder Erwachsener, kompetent und wichtig für die lernende Gruppe. Lernen kann nur das eigene Lernen jedes einzelnen Individuums in Kooperation mit
seiner menschlichen und natürlichen Umgebung sein. Die Freinetpädagogik fordert von sich selbst das „Zurückgeben der Macht“ an die Kinder, sie „gibt den Kindern das Wort“. Erwachsene hören auf zu
unterrichten, damit Kinder ihre eigenen individuellen Lernwege gehen können. Elise und Celestin Freinet propagierten eine „Erziehung ohne Zwang“.
So formulierte die französische Freinetbewegung in der Mitte der 70iger Jahre eine Charta der Modernen Schule, die sich gegen Indoktrination und Verschulung und für die Entfaltung und Bildung
jeder Persönlichkeit in demokratischer Kooperation ausspricht:
„Wir erkennen das Recht der Kinder auf Vergnügen an, das schon immer von Schule verdrängt wurde. Das Recht auf Vergnügen wird von jenen als etwas Ungeheuerliches angesehen, die die Menschen von
Kindheit an auf die Entfremdung einer von ‚oben‘ auferlegten Arbeit vorbereiten. Leben sollen sie erst in Konsum und Freizeit erfahren. Die Bestrebungen der Kinder aus eigenem Antrieb zu lernen,
werden von uns nicht durch willkürlichen Zwang zu fremdbestimmten Zielen umgeleitet. Wir akzeptieren den Wunsch, aus eigenem Interesse ein frei gewähltes Ziel zu erreichen. Dieser Weg wird nicht
ohne Mühe und Enttäuschungen sein. Aber die Erfahrung der eigenen Leistungsfähigkeit garantiert Vergnügen. Für uns gibt es keine andere Formung des Willens als die Erziehung zu freien Menschen
durch die Übernahme von Verantwortung.“
Die Freinetpädagogik will die freie Entfaltung der Persönlichkeit
Menschen lernen durch die Kraft und Realisierung ihres freien Ausdrucks das
selbst gewollte Lernen. Durch das freie Forschen, Fragen zur Welt, Tasten, Versuchen, Erzählen, Schreiben, Malen, Zeichnen, Anfassen, Gestalten, Bewegen, Hantieren, Bauen, Musizieren, Spielen und
Theaterspielen lernen die Kinder aus eigener Lernmotivation und Lebenskompetenz heraus sich zur eigenen Lernerpersönlichkeit zu entfalten. Sie sammeln eigene, kritische Erfahrungen mit sich
selbst, anderen, der Welt, der Natur, der Technik, den Medien bis hin zur Politik.
Der Freie Ausdruck bietet den Kindern nicht zu erlernende Gegenstände an, sondern Mittel sich selbst auszudrücken, sich selbst und die Welt zu erfahren, sie zu „bearbeiten“, zu begreifen und zu verändern. Dieses Selbst-finden und Erarbeiten des eigenen freien Ausdrucks wird zum Mittel des Lernens.
Die ersten tastenden Versuchen ('Le tâtonnement experimental') geben jedem einzelnen das Recht auf Irrtum und Genialität auf den eigenen Lernwegen und Lernumwegen. Das Ziel ist die Selbstständigkeit des Denkens, des Handelns und des Lernens im gesamten Leben. Sie werden Fachleute und Meister in den von ihnen gewählten Gebieten.
Die „methode naturelle“ des freinetpädagogischen Lernens unterstellt den Menschen ihre eigene Lernfähigkeit ohne die Vorgaben einer erziehenden Belehrung. Sie wendet sich gegen den Zwang in einer herrschenden Didaktik, gegen Fütterung, Darbieten von Kleingehacktem und Vermittlung von Trichterwissen. Sie fordert zur Eigenkonstruktion, zur Autopoesie in Sprache und Lernen auf.
„Die Schüler sollen lernen, nicht nur die eigene Situation einzuschätzen und die Arbeit nach selbstgewählten Maßstäben zu organisieren, sondern auch die persönliche Identität und die Verschiedenheit der Mitschüler zu respektieren.” Sie lernen die Heterogenität ihrer selbst zu schätzen, die der anderen, auch die der Erwachsenen zu erfassen und die Vielfalt aller Inhalte des Lernens und ihrer Formen gestalten und erfahren zu können.
Die Schülerinnen und Schüler lernen, das Recht auf eigene „Fragen zur Welt“ zu haben, den eigenen Fragen nachzugehen, sie überhaupt stellen zu können, zu philosophieren und das Recht auf eigene Antworten. Sie lernen schon in frühester Kindheit den eigenen Sinn des Lebens und Lernens auch oder gerade in und trotz Kindergarten und Schule, finden zu dürfen. Sinnfindung und die Übernahme eigener demokratischer Verantwortung stärken das eigene Lernen und Handeln.
Freinetpädagogik ist eine Pädagogik ohne Zwang und Strafe. Sie entspringt dem Vertrauen in die schöpferischen, friedlichen Entwicklungskräfte des Menschen. Die Quelle ist der Mensch selbst. Neugierde und intrinsische Motivation sind der Motor des Lernens. Die Einführung von Klassenrat, Schulversammlung oder Kinderparlament führen zu einer Demokratisierung der Schulentwicklung, wenn das Lernen selbst konsequent in die Hände der Lernenden gelegt wird.
Die Techniken des Lernens selbst müssen demokratisch sein. Sie müssen so vom Lernenden einsetzbar, benutzbar sein, dass er selbst sein Lernen bestimmt, nicht mehr der Erzieher, nicht die Pläne des allgewaltigen Materials.
Last but not least ist der Kreis der Kinder nicht der Ort, wo Kinder die Probleme und Konflikte lösen, die Erziehung und Bildung selbst schufen und nicht lösen konnten. Er ist vielmehr der Ort, wo das eigene Lernen und Zusammenleben, das Essen und Spielen in Selbstbestimmung und demokratischer Verantwortung gemeinsamer Gegenstand der Planung, Umsetzung und Auswertung wird. Diese Versammlung ist das Herz, die Seele, die Mitte.
Freinet heute
Freinetelemente sind heute in jeder entwickelten Pädagogik jeder demokratischen Bildungseinrichtung vom Kindergarten bis zur Uni
vorhanden. Spezielle Freinetkindergärten gibt es hier zu finden:
http://www.zentrum-prinzhoefte.de/20.html
http://www.balance-freinet-paedagogik.de/
http://www.kindergartenpaedagogik.de/403.html
https://freinetgruppewien.wordpress.com/freinetpadagogik/
https://www.kooperative-freinet.at/
Lesetipps zum Thema:
http://www.balance-freinet-paedagogik.de/index.php/literatur?start=60
http://freinet.paed.com/freinet/blog/category/literatur-med