Walter Hövel
Demokratie im Klassenraum


Die Rechte der Kinder und der Klassenrat
Vor Jahren waren Freinet-Pädagoginnen und -Pädagogen oft verlachte oder mißachtete
Exoten im (noch) funktionierenden Schulbetrieb in unserem Lande.
Heute hüten sich sogar Ewiggestrige, im Schuldienst allzu unbedacht und offen
etwas gegen freies Arbeiten, offene Schule, handlungsorientiertes Lernen oder
Lernen mit allen Sinnen zu sagen. Die.se Begriffe, die u.a. durch die Praxis jener
Ereinet»exoten« erprobt wurden, sind unterdessen für »diensttauglich« erklärt worden.
Auch freinettypische Lerntechniken erfreuen sich zunehmender Beliebtheit: das
Drucken, freie Texte und freies Schreiben, freier Ausdruck, tastende Versuche,
natürliche Methode, Klassenrat, Korrespondenz, die Demokratisierung der Klassenkommunikation
und -kooperation durch Arbeitspläne und Arbeitsverträge und
last not least die Kooperation von Lehrern und Lehrerinnen.
Aber viele Kolleginnen sind mit der Einführung einzelner »Techniken« gescheitert,
sie waren für sie nicht praktikabel, oft waren sie falschen Propheten gefolgt, die
sich nur etwas angelesen hatten, ohne es selbst zu erproben, oder die alten Krempel
(zum Beispiel Üben, Eestigen, Wiederholen) nur neu (in beispielsweise Karteienform)
verpackten und es »Ereiarbeit« nannten.
Begriffe wurden aufgegriffen, wie »Klassenrat« oder »freie Texte«, um sie absichtlich
mit einem anderen Inhalt zu besetzen.
Viele Kolleginnen rieben sich an äußeren Bedingungen auf, oder aber es veränderte
sich kaum etwas. Der Durchbruch zu einer anderen Pädagogik blieb
aus.
Ereinet-Pädagogik blieb ein Rätsel, das zwar auf Treffen oder Portbildungen der
Preinet-Leute erfahrbar, in Klassen oder Schulen hospitierbar, aber nicht einfach
anwendbar war wie eine Gebrauchsanweisung oder begreifbar in einem systematischen
Lehrgang.
Dies brachte den »Preinis« zunächst den Ruf der »Unwissenschaftlichkeit« ein.
Aber auch dies verändert sich zum Beispiel durch ein universitäres Erwachen,
durch die Bereitschaft zu komplexen ganzheitlichen Denkweisen oder etwa durch
den Ruf großer Teile des Industriemanagements nach dehierarchisierten Arbeitsund
Lernformen.
So leben wir in einer Phase, in der die herkömmliche Lern- und Lehrschule
zunehmend in Existenzkrisen gerät und scheitert, während erprobte Alternativen
mehr und mehr Anerkennung, Raum und Chance bekommen. So manch eine
Freinet-Klasse ist Vorzeigeklasse, oft sogar Alibi für richtlinienkonforme pädagogische
Innovation.
Manchen alten Freini befällt die Sorge, ob wir »noch alles richtig machen«, wenn
unsere Arbeit diesen Grad (un)reflektierter öffentlicher oder staatlicher Anerkennung
erfährt. Und in der Tat denke ich, daß unsere Arbeiten oft so etwas wie
Vitaminspritzen und Kraftinjektionen für den kranken Körper »staatliches Bildungsmonopol
« sind, wir helfen ihm beim Überleben.
Doch sollten wir uns nicht täuschen lassen, unsere aktuelle Anerkennung ist
keine Stärke, sondern die Schwäche der alten Buch- und Paukschule, und jene
Kräfte, die glauben, Kinder lernen nur unter Druck, sind nicht weniger geworden.
Freinetpädagogische Gesinnung wird von wirklich reaktionären Bildungsgeistern
nur geduldet, weil sie mit der Errettung ihrer Pädagogik genug beschäftigt
sind. Jene »geschickten« Bildungsgeister, die auf die Absorption innovativer Kräfte
setzen, erproben uns noch und werden uns fallenlassen, wenn sie sicher sind,
genug von uns gelernt zu haben. Es gibt die Gruppe der Resignierten und Ausgebrannten,
die uns offen ablehnt. Aber es gibt auch jene »Bildungsgeister«, die
wirklich verändern, verbessern, lernen wollen.
Ihnen müssen Ereinet-Menschen klarer sagen können, was Freinet-Pädagogik
eigentlich ist, in Zusammenarbeit mit ihnen, in der Auseinandersetzung und in der
Begegnung mit ihnen können wir selbst lernen.
Die Rechte der Kinder sollen exemplarisch aufzeigen, was diese Pädagogik will,
als Versuch, einen ganzheitlichen Zugang anzubieten. Freinet-Pädagogik ist eine
symbiotische Pädagogik. Sie funktioniert nur, wenn die Kinder wirklich selbst ihre
Rechte formulieren, ... und die Lehrerinnen die ihren auch.
Rechte der Kinder und Freinet-Pädagogik
Die UNO hat im Jahre 1959 in einer Erklärung zehn »Rechte der Kinder« verabschiedet,
30 Jahre später eine neue Deklaration, die 54 Artikel umfaßt.
Diese Rechte sind für alle Kinder auf der Welt gemacht. Sie sind eine Spezifizierung
der Menschenrechte für den vielleicht rechtlosesten, ungeschütztesten Teil
der Menschheit.
Vor allem unter Gewaltherrschaft, in Zwangsstaaten, in Kriegs-, Not-, Hungers-,
Seuchen- und Katastrophengebieten leiden Kinder, bedürfen sie des Schutzes, der
Einhaltung von Rechten.
Die größte Zahl der betroffenen Länder trägt die Eolgen einer patriarchalen
Eroberungspolitik, die die reichen Länder über viele Jahrhunderte betrieben. Den
Hauptteil dieser historischen und oft auch noch gegenwärtigen Verantwortung
tragen europäische Länder.
In unserem Land ist die Einsicht in diese geschichtliche Verantwortung existent.
Richtlinien und Lehrpläne aller Schulformen fordern zur Behandlung dieses
Aspektes auf. Der Tabu-Bereich beginnt erst dort, wo in Schule herausgearbeitet
wird, daß große Weltkonzeme mit Unterstützung der Banken und ihrer Regierungen
diese Politik der Ausbeutung der Menschen in Afrika, Asien und Südamerika
fortsetzen.
Schule widmet sich zunehmend - ähnlich wie die Kirchen - der Aufgabe aufklärerischer
Informationsarbeit und den spendenorientierten Unterstützungsaktionen.
Hierbei wird der historische »Schuld«-Aspekt zunehmend durch den zukunftsorientierten
Blick ersetzt. Mehr und mehr wächst die Einsicht, daß diese Welt eine
Welt ist, daß die Zukunft der anderen Kinder auch die Zukunft unserer Kinder
ist.
Im Mittelpunkt stehen hier aber ökologische Aspekte der Entwicklung von Natur,
Mensch und Welt. Kinderrechte sind eherein Nebenprodukt, deren Behandlung
zum Beispiel entsteht, wenn Kinder zur Solidaritätsarbeit für Kinder motiviert
werden. Hier entstehen Vergleiche, Empörung und Wille zur Hilfe.
Eine lernzielorientierte Schule behandelt heute diese Themen im Religions-,
Politik-, Sach-, Geographie-, Deutsch-, Sprachen-, Fremdsprachen-, Geschichts-,
Kunst- und/oder -Wirtschaftslehreunterricht.
Schulen laufen Gefahr, durch didaktisch stereotype, belehrende Unterrichtsmethoden,
in Fächern aufgesplittert und scheinbar verwissenschaftlicht Kinder und
Jugendliche mit diesen Themen zu überfüttern.
Natürliches Interesse schlägt um in Desinteresse, gegenüber den Lerninhalten
und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ein Desinteresse, das eigentlich der Schule
gelten sollte.
Das Steckenbleiben in der Fingerzeigepädagogik, die Unglaubwürdigkeit der
Wortepädagogik vor dem für die Schülerinnen erfahrbaren Wirklichkeitshintergrund
von der konkurrenz- und selektionsorientierten Schule und der ebenso
orientierten Gesellschaft bewirkt eher das Gegenteil des formulierten Fernziels.
Eine schülerorientierte Schule behandelt diese Themen heute in Formen des
offenen Lernens, fächerübergreifend, projekt- und handlungsorientiert, die Schule
verlassend, außerhalb des Klassenraumes lernend. Sie bietet den Kindern das breite
Spektrum dieses Themas an. Freinet-Lehrerlnnen arbeiten wie andere auch in
Formen des ganzheitlichen und projektorientierten Arbeitens.
Die UNO-Kinderrechte beziehen sich aber auch auf die Kinder der reichen Welt.
Auch sie sind vielen, vielen Verletzungen und Diskriminierungen ausgesetzt.
Einige Stichworte seien aufgezählt, um das erschreckende Ausmaß der möglichen
Bedrohungen und ihre Folgen für unsere Kinder zu schildern:
- Prügel, Ohrfeigen und Schläge, körperliche Züchtigung
- Demütigung durch Anschreien, Strafe und Einsperren, Schuldzuweisung
- sexueller Mißbrauch
- Streßangst in und durch Schule
- psychische Verwahrlosung durch die Abwesenheit von Eltern
- unzählige Medienkonsumverbrechen an Kindern
- Kinderalkoholismus
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- Drogensucht
- Computerkrankheitssymptome bereits bei Kindern
- Lieblosigkeit
- ungesunde und gesundheitsschädigende Ernährung
- umweltbedingte Allergien und Immunschwächen
- Benachteiligung von Mädchen und jungen Frauen
- Technikfetischismus
- Reizüberflutung
- Benachteiligung behinderter und kranker Kinder
- menschenfeindliche Bauten von Wohnungen bis hin zu Schule, Kunstlicht, giftige
Baustoffe etc.
- Gewalt im Kinderalltag, Kinder- und Jugendkriminalität
- Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsstörungen
- kinestetische und vestibuläre Schäden
- Lemstörungen, Desinteresse, Zukunftsangst
- Hyperaktivitäten, psychische Störungen
- Vandalismus, Hooliganismus, Rassismus, Neofaschismus
- Sektentum
- noch immer Kinderarbeit und zunehmend wieder Analphabetentum.
Die lemzielorientierte Schule greift einzelne dieser Themen heraus. Drogen, gesunde
Ernährung, die Warnung vor Alkohol und Nikotin werden wie andere
Themen unterrichtet.
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß das Warnen und Aufklären vom
Katheder herab nicht vor Sucht schützt oder Kriminalität verhindert.
Ratlosigkeit entsteht in lemzielorientierter Schule. Mehr und mehr bestimmen
viele der aufgezählten Stichworte den Alltag dieser Schule selbst, machen herkömmliches
Unterrichten immer schwieriger oder gar unmöglich.
Lemzielorientierte Schule geht den Weg der Sozialdifferenziemng in verschiedenen
Schulformen, Kursen und Leistungsgmppen, um die »Spitzen« zu retten.
Die Kinder selbst werden in diesem System immer rechtloser. Diese Schule kommt
nicht auf den Gedanken, mit ihren Schülern die Rechte eben dieser Schüler zu
behandeln, sie würde sich sonst selbst in Frage stellen müssen.
Diese Schule braucht Reglement, Pflichten und Einschränkungen, sie überläßt
die Behandlung der Gmndrechte der entsprechenden Politikunterrichtseinheit, sie
beläßt sie im Abstrakten.
Die schülerorientierte Schule kann hier vieles anders leisten. Selbst wenn sie
einen themenzentrierten, lehrzielorientierten Ansatz in Projekt- oder Epochenform
handlungs- und wissenschaftsorientiert sucht, eröffnet sie den Lernenden viele
Möglichkeiten der Mitbestimmung bei Lemformen und -inhalten. Hier können die
Lernenden tiefer in Zusammenhänge und Erkenntnisebenen Vordringen, hier wird
das Lernen in einem hohen Maße affektiv, also auch erfolgreich bleiben.
Über eigene Wege des Lernens - als Interaktion mit Welt - und des Erkennens -
als Widerspiegelung und Schaffung von Wirklichkeit - wird sich zwangsläufig das
Selbstbewußtsein und somit das »Rechtsbewußtsein« der Kinder und Jugendlichen
entwickeln. Aber der »Orientierung auf Schülerinnen« werden durch die Schule
selbst viele Grenzen gesetzt, die die Rechte der Kinder eingrenzen, selbst wenn das
Thema die »Rechte der Kinder« ist. Die Lernenden können begründet nicht an die
Wahrhaftigkeit der Schule und die Ehrlichkeit der Lehrerinnen bezüglich der Rechte
von Kindern glauben, wenn zum Beispiel
- die Umsetzung formulierter Rechte in der eigenen Klasse nicht möglich ist;
- die Nichtumsetzbarkeit von Rechten in oder außerhalb von Schule nicht selbst
erfahren und erklärt werden darf, sondern in unterrichtlicher Theorie abgewürgt
wird;
- die Ergebnisse der Arbeit nur der vergleichenden Leistungskontrolle und
-bewertung dienen, nicht aber der Dokumentation, der Veröffentlichung oder der
ästhetischen Gestaltung;
- die Weiterverfolgung des Themas nach der Beendigung eines Projekts oder einer
Unterrichtseinheit nicht möglich ist;
- Orte, Zeit, Regeln, Institutionen und Vereinbarungen in der Klasse fehlen, durch
die formulierte Rechte materialisiert werden können;
- Stundentafel, Lehrerwechsel, 45-Minuten-Rhythmen die Bearbeitung des Themas
ständig stören;
- die Einstellung der Lehrerinnen eine Mitbestimmung zwar zuläßt, aber kein
selbstbestimmtes Lernen, da sie nicht wissen, wie das geht oder dies nicht
wollen, da sie offene Formen des Lernens nur als Mittel sehen, ihre Lehrinhalte
»moderner« an ihre Klientel zu bringen, weil »alte« Formen des schulischen
Lernens nicht (mehr) funktionieren, oder sie die »moderneren« Formen als effektiver
erkannt haben;
- die Lernenden handlungsorientiert außerhalb der Schule in Form von (politischen)
Aktionen auf Grenzen, auf ihre »Machtlosigkeit« gegenüber der Welt der
Erwachsenen gestoßen sind. Projekte gehen oft an die Grenzen des schulisch
»Machbaren«, um dann abzubrechen, um wieder im Schulalltag unterzutauchen.
Dies hinterläßt bei den Lernenden mit der Zeit Resignation, Lernunlust, Projektfeindlichkeit
(Projektwocheneffekt);
- die Lehrerinnen nicht in der Lage sind, die Kinder und Jugendlichen durchgängig
ernst zu nehmen, sie als kompetente Partner mit einer eigenen kindgemäßen
Wahrnehmung und einem eigenen »Rechtsverständnis« zu akzeptieren und ihnen
ihre eigene Verantwortlichkeit zuzugestehen;
- die Lehrerinnen nicht in der Lage sind, sich selbst auch in der Rolle der Lehrerin
ernst zu nehmen und für das eigene Tun verantwortlich mit den Kindern zu
kooperieren;
- die Lehrerinnen die Lernenden nicht loslassen können und letztendlich doch nur
selbst entscheiden wollen, was die Kinder lernen müssen, welche »Rechte sie
schon ausüben« können;
- ein solches Thema Ausnahme bleibt und nicht integrativer Bestandteil des gesamten
Unterrichts ist.
Freinet-Pädagogik basiert auf der Vorstellung,
daß die Kinder Rechte haben
1. Die Freinet-Bewegung formulierte die »Charta der fundamentalen Rechte der
Kinder und Jugendlichen« (s.u.), um selbst ein Fundament des eigenen gemeinsamen
Handelns als Freinet-LehrerInnen zu haben, um sich eine eigene demokratische
Einstellung als »Lehrerin« zu erarbeiten.
Diese Charta ist allerdings kein Produkt einer pädagogischen Vision, die am
Anfang der Arbeit stand, sondern die Zusammenfassung der Erfahrung von
Tausenden von Lehrerinnen, von vielen, vielen Jahren konkreter Arbeit in unzähligen
Freinet-Klassen.
Sie ist auch Selbstdarstellung der Freinet-LehrerInnen.
2. Die Freinet-Pädagogik gibt den Kindern das Wort. Hierzu entwickelte sie Techniken
und Mittel und übernimmt von anderen alle Mittel und Erfahrungen, die es
den Kindern möglich machen, sich selbst zu artikulieren, zu organisieren, zu
entfalten und zu lernen.
In der Freinet-Klasse entsteht ein für alle verbindliches Geflecht von Arbeits-,
Lern- und Lebensmöglichkeiten. Die Lehrerinnen sind Begleiter und Animateure
in diesem Prozeß. Die Kinder müssen sich diesen lebenden Organismus
»Klassenkooperative« selbst schaffen. Wird diese Demokratie durch die Schule
oder Lehrerinnen institutionell vorgegeben, so wird aus einem Kanon von Rechten
bald ein Katalog von Vorschriften, Verboten und Sanktionen. Aus dem, was
Regeln und Werte sein sollten, werden Reglement und Bewertungen.
Manipuliert der/die Lehrerin die Kinder zu bestimmten Organisationsformen
und Regeln, so werden die Kinder diese nicht benutzen. Der/die Freinet-Lehrerin
kann die Erfahrungen der Freinet-Pädagogik, die über viele Jahrzehnte zu Werkzeugen
einer kooperierenden Klassengemeinschaft gereift sind, nur anbieten.
Er/sie darf der Klasse keine Rechte wie ein aufgeklärter Monarch übergeben.
Erziehung besteht darin, sagte Freinet, daß der Mensch lernt, seine Fähigkeiten
als menschliches Lebewesen selbst zu organisieren.
Er/sie muß die Macht abgeben.
Er/sie kann nur den Prozeß der Artikulation von Rechten und deren Umsetzung
in Arbeit und Lernen unterstützen.
3. In einer solchen Klassenkooperative sind die Lernenden auch fähig, ihre eigenen
Rechte als Kinder oder Jugendliche zu formulieren. Freinet-Pädagogik kann
nicht anders, als das Thema »Rechte der Kinder« mit der Selbstartikulation der
Betroffenen zu beginnen und diese im Mittelpunkt der Arbeit stehenzulassen.
4. Von hier aus ist es nun möglich, in alle Richtungen des Themas zu arbeiten. Die
Lernenden haben das Fundament zur kompetenten Behandlung aller Aspekte der
Gesamtthematik.
Charta der fundamentalen Rechte und Bedürfnisse
der Kinder und Jugendlichen
1. Die Geburt und die Aufnahme des Kindes in dieser Welt
- Das Kind hat das Recht, kein Produkt des Zufalls zu sein.
- Das Kind hat das Recht, um seiner selbst willen gewollt zu werden und nicht
im Interesse irgendeiner Politik.
- Das Kind hat das Recht, um seiner selbst willen gewollt zu werden und nicht
allein im Interesse seiner Eltern.
- Das Kind braucht eine Schwangerschaft und eine Geburt ohne traumatische
Schädigung.
- Das Kind hat das Recht, angenommen zu werden, so wie es ist - wie auch
immer seine körperliche Konstitution sein mag.
- Das Kind hat das Recht, angenommen und geliebt zu werden ohne Rücksicht
auf sein Geschlecht.
2. Die Entwicklung des Körpers
- Das Kind hat das Bedürfnis nach einer ausgewogenen Ernährung.
- Das Kind hat das Bedürfnis, nach seinem eigenen Rhythmus zu leben und sich
auszuruhen.
- Das Kind hat das Recht, daß die Bedürfnisse seines Körpers berücksichtigt
und auch nicht unbewußt mißachtet werden.
- Das Kind hat das Bedürfnis, sich aller Möglichkeiten seines Körpers bewußt
zu werden.
- Das Kind hat das Recht, nicht dauernd sauber und untadelig sein zu müssen.
3. Die Achtung vor der Person des Kindes
- Das kleine Kind braucht den Kontakt mit der Mutter oder dem Vater.
- Das Kind braucht den Kontakt mit Erwachsenen beiderlei Geschlechts.
- Das Kind braucht den Kontakt mit Kindern beiderlei Geschlechts.
- Das Kind braucht gefühlsmäßige Geborgenheit.
- Jedes Kind ist einzigartig und hat ein Recht darauf, daß seine Persönlichkeit
respektiert wird.
- Das Kind braucht Vertrauen.
- Das Kind hat ein Recht auf Würde.
4. Die volle Entfaltung des Kindes
- Jedes Kind hat das Recht auf die maximale Entfaltung aller in ihm angelegten
Möglichkeiten; es hat das Recht auf Genuß und Vergnügen.
- Das Kind hat das Recht auf Selbständigkeit und Verantwortung.
- Das Kind braucht das Erlebnis des Erfolgs.
- Das Kind hat das Recht auf Irrtum.
- Das Kind hat das Bedürfnis, erfinderisch und kreativ zu sein.
- Das Kind hat das Bedürfnis, sich auszudrücken.
- Das Kind hat das Bedürfnis, mit anderen zu kommunizieren.
- Das Kind hat das Bedürfnis nach ästhetischen Empfindungen.
5. Der Zugang zum Wissen
- Das Kind hat das Recht auf wahre und plausible Antworten auf die Fragen,
welche es sich stellt.
- Das Kind hat das Recht, sich jedes Wissen anzueignen.
- Das Kind hat das Recht, die sozialen und wirtschaftlichen Phänomene zu
verstehen, die es umgeben.
- Das Kind hat das Bedürfnis, sich seiner sozialen Umwelt bewußt zu werden.
6. Die Umwelt
- Das Kind hat das Recht auf ein Minimum an Raum.
- Das Kind hat das Bedürfnis nach lebendigem Kontakt mit der Welt.
- Das Kind hat das Bedürfnis, mit sehr verschiedenen Materialien zu experimentieren.
- Das Kind hat das Recht, auf seine Umwelt Einfluß zu nehmen.
7. Das soziale Verhalten
- Das Kind hat das Recht, weder indoktriniert noch konditioniert zu werden.
- Das Kind hat das Recht, nicht den jeweils wechselnden Moden unterworfen zu
sein.
- Das Kind hat das Recht, Kritik zu üben.
- Das Kind hat das Recht, am Berufsleben teilzunehmen, bevor es selbst in die
Produktion eingespannt ist.
- Die Kinder haben das Recht, sich demokratisch zu organisieren und für die
Respektierung ihrer Rechte und die Verteidigung ihrer Interessen einzutreten.
(In: Dietrich, Ingrid [Hrsg.] 1982, S. 54-56)
Kinder haben ein anderes Verständnis von ihren Rechten
»Kinder haben das Recht, abends genauso lange wie ihre Eltern aufzubleiben«, so
formulierte Chotera, ein afghanisches Mädchen, das erste Recht.
Am liebsten wäre ich sofort dazwischengegangen: Ich war zu diesem Zeitpunkt
Vater von drei Kindern, 10, 4 und 1 Jahr(e) alt. Wenn sie abends ins Bett gingen,
hatten meine Frau und ich zum ersten Mal am Tag Ruhe.
Und da fordert Chotera ausgerechnet als erstes Recht, daß Kinder genauso lange...
Der nächste Gedanke beruhigte mich. Chotera kommt aus einem Kulturkreis, wo
es üblich ist, daß die Kinder mit den Erwachsenen aufbleiben. Die Kinder können
dies, die Erwachsenen wahrscheinlich auch.
Weiter dachte ich an diesem Morgen nicht, denn das nächste Recht wurde schon
formuliert, ich mußte es mitschreiben und schon beschäftigte es mich in seiner
Art.
Auch später vertiefte ich den Gedanken nicht sonderlich, da die Umsetzung
dieses Rechts nicht in der Klasse stattfindet.
Was ich in diesem Augenblick zu begreifen begann, vielmehr erst ahnte, war, daß
Kinder ein vollkommen anderes Verständnis von Rechten haben als wir Erwachsene.
Rechte sind für viele Kinder etwas, das sie schon durften, oder kindgerechter
formuliert, das sie schon können, wie wohl in diesem Falle.
Andere Male sind Rechte Hoffnungen, Wünsche, Phantasien, Hilferufe, Erfahrungen,
Forderungen, Erkenntnisse oder Rechte, die sie bereits durchgesetzt
haben.
Meistens steckt hinter den Formulierungen nicht das, was Erwachsene verstehen,
wenn sie das Recht hören.
Einige Beispiele:
»Kinder haben das Recht, Geschwister zu haben.«
Ein ganzer Stammtisch empörte sich lauthals in der Gemeinde über diesen Unsinn,
der an der Grundschule an der Wand hing, sie alle hätten genug Kinder, es würde
reichen.
Wenn man allerdings Tinos Begründung liest, ist leicht zu verstehen, daß er
zunächst etwas anderes meint: Er hat bereits eine kleine Schwester, er will sie
wickeln, schmusen und versorgen dürfen. Dies durfte er zunächst nicht. Die kleine
Schwester nervte ihn nämlich nur, weil sie immer schrie und ihm die Mutter
wegnahm.
Da mehrere Kinder in der Klasse unter kleinen Geschwistern »litten«, gründeten
wir einen »Baby-Gesprächskreis«.
Hier beschloß Tino gegenüber der Mutter zu fordern, daß er die Schwester
wickeln, schmusen und versorgen dürfe. Er hat es zu Hause durchgesetzt.
Jetzt ist es sein Recht.
Ob er mit der Formulierung des Rechts auch das Recht auf Geschwister meint, ist
wohl das Problem von uns Erwachsenen. Ich neige dazu, ihm recht zu geben.
Das Recht, Angst zu haben:
Der Junge hat Angst, Angst alleine zu sein, Angst vor vorbeifahrenden Autos,
Angst vor dem Schreiben. Er wird blaß wie eine Wand, ihm verschlägt’s die
Stimme, ihm wird schlecht, er hat Magenschmerzen.
Er hört Sätze wie »Du mußt aber keine Angst haben«, »Er hat jetzt schon viel
weniger Angst«, »Wir wissen auch nicht, warum unser Kind immer so viel Angst
hat«.
Sein Hilferuf: »Kinder haben das Recht, Angst zu haben.«
»Kinder haben das Recht, alles zu machen.«
Die Kinderzeichnung auf dem dazugehörigen Plakat zeigte, daß die Erwachseneninterpretation
vollkommen daneben liegt.
Das Bild zeigt, wie Marco hoch über einer Stadt in einem Raketenauto sitzt, das
über ein Stahlseil fährt. Er darf eben alles machen.
»Kinder haben das Recht, Auto zu fahren.«
Der Junge, der dies sagte, fährt wirklich das Auto seines Onkels auf dem Feldweg
seines Dorfes. Er darf eben wirklich Auto fahren.
So hat jedes Kinderrecht seine Geschichte, seine noch ganzheitliche Angebundenheit
an die eigene Lebenswirklichkeit.
Diese Erfahrung fand ich wieder in einem Zitat von Reinhard Fatke, wo er Jean
Piagets neue Sicht des Kindes beschreibt:
»Das Kind als ein aktives Wesen, das sich entwickelt, indem es in eine Auseinandersetzung
mit der Welt eintritt, diese Welt strukturiert und dabei sie und sich
selbst verändert.
Das Kind als ein kompetentes Wesen, das zunehmend über Fähigkeiten zur
Weltaneignung verfügt und im Vergleich zum Erwachsenen nicht als mangelhaft,
sondern als qualitativ andersartig angesehen werden muß.
Das Kind als ein Interaktionspartner, der nicht ausschließlich nach den Vorstellungen
des Erwachsenen geformt, gebildet, sozialisiert wird, sondern seinerseits
auch auf den Erwachsenen einwirkt und somit die Prozesse der Sozialisation und
Erziehung aktiv mitgestaltet.« (Piaget, Jean hrsg. von Fatke 1993, Einleitung Fatke
S. 19/20.)
Kind- und Lernbegriff der Freinet-Pädagogik werden durch diese Definition gut
beschrieben.
Eine Unterrichtseinheit zu den Rechten der Kinder
1. Schritt;
Im Morgenkreis fragte ich an diesem Tag die Kinder »Was sind für euch Rechte,
welche Rechte habt ihr?« Chotera meldet sich: »Kinder haben das Recht, abends
genauso lange wie die Eltern aufzubleiben.«
Ich schrieb den Satz in meine dicke Notizkladde. Patrick meldete sich: »Kinder
haben das Recht, nicht angeschrieen zu werden.«
Weitere von den Kindern meiner Klasse formulierte Rechte:
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Kinder haben das Recht,
Musik auf einer guten Aniage zu hören
alleine spazieren zu gehen
alleine auf die Kirmes zu gehen
Fahrrad zu fahren
sticken und nähen zu lernen
in einem Sportverein zu sein
anzuziehen, was sie wollen
etwas Neues zu haben
schwimmen zu lernen
gesunde Zähne zu haben
nicht rausgeschmissen zu werden
ihre eigene Frisur zu bestimmen
jederzeit ihre Meinung zu sagen
sich hinzusetzen, wo sie wollen
in die Schule zu gehen
auf Feste zu gehen
alles zu lernen, was sie wollen
zur Toilette zu gehen, wann sie wollen
mit wem sie wollen zu spielen
jederzeit ihre Freunde zu besuchen
Angst zu haben
nicht ausgelacht zu werden
zu arbeiten
Deutsch zu lernen
mit Freunden Urlaub zu machen
zu Hause mit Luftballons zu spielen
zu basteln
alleine etwas zu kaufen
mit ihrer Mutter oder ihrem Vater zu schmusen
ihren Eltern einen Streich zu spielen
zu schenken
zu singen
zu tanzen
Bäume zu pflanzen
So folgte ein Satz dem anderen, ich schrieb alle mit. Nach über einer halben Stunde
meldete sich Patricia zu Wort: »Ich kann nicht mehr zuhören!« Andere stimmten
zu.
2. Schritt:
Alle Kinder, die nicht mehr zuhören konnten, etwa die Hälfte meiner 28, verließen
die Morgenkreisecke und begannen, am Wochenplan und in den Arbeitsecken zu
arbeiten. Die anderen wollten weitermachen, was sie bis zur ersten großen Pause
durchhielten.
3. Schritt:
Nach der Pause einigten wir uns auf folgende Arbeitsweise: Wir machen Plakate,
für jedes Recht eins. Jedes fertige Plakat wird im Flur aufgehängt. Wer will, kann zu
jedem Recht auch ein Bild malen, das mit auf das Plakat kommt.
4. Schritt:
Alle Kinder »holten sich« bei mir »ein Recht ab«, das heißt, sie suchten sich aus
meiner Kladde ein Recht heraus, um es dann aufs Plakat zu bringen. Es mußte also
nicht ein Recht sein, das sie selbst gesagt hatten, sondern eins, das sie wirklich als
Plakat darstellen wollten. Diese Arbeit machten sie über eine Woche lang. Die
Kinder meiner Klasse haben 12 Arbeitsstunden pro Woche, in denen sie am Wochenplan
(freie Texte, Mathe, Laufdiktate, Lesen), an individuellen oder Kleingruppen-
Projekten und am Gesamt-Projekt der Klasse (in diesem Falle also »die
Rechte«) arbeiten. An den Plakaten arbeiteten sie allein oder zu zweit, einige
machten nur ein Plakat, andere zwei, drei oder vier
5. Schritt:
Wir hatten grobes Tonpapier in vielen verschiedenen Farben. Die Schrift machten
wir verschieden:
- mit weißer Kreide,
- mit bunter Kreide, jedes Wort in einer anderen Farbe oder immer die gleiche Zahl
Buchstaben mit einer Farbe oder nur gerandet, innen »hohl« oder zum Beispiel
rosa Kreide auf orangem Papier oder den Außenrand der Buchstaben in verschiedenen
Formen,
- mit ganz dickem Faserschreiber,
- mit ganz feinen Faserschreibern, große Buchstaben ganz bunt ausgemalt,
- mit 6 cm großen Holzbuchstaben, die mit Faserschreiber umrandet wurden,
- mit Wachsmalstiften,
- mit Wasserfarben ausgemalte Buchstaben,
- mit aufgeklebten Buchstaben, die wir aus Bildern ausgeschnitten hatten (das
Bild war also auf den Buchstaben),
- mit Schreibmaschine geschrieben (hätten wir auf dem Kopierer noch vergrößern
können),
- mit verschiedenen Druckereien und Stempeleien
- Freinet-Druckerei,
- Holzbuchstaben,
- Flexipress,
- Schaumgummibuchstaben.
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Dazu wurde dann sehr oft ein selbstgemaltes Bild geklebt, in einigen Fällen auch
ausgeschnittene Fotos.
6. Schritt:
Als alle Plakate auf dem Flur hingen, sah sich jedes Kind unsere Galerie mit den
Kinderrechten an und suchte sich nun ein Recht heraus, das für es nun das
Wichtigste war.
7. Schritt:
Jedes Kind hat nun sein wichtigstes Recht in einem Text begründet. Diese
Begründungen haben wir im Kreis vorgelesen.
8. Schritt:
Auf einem Freinet-Lehrertreffen wurden die Plakate wieder aufgehängt.
Was wir sonst noch hätten tun können
Wir hätten eine Zeitung machen können, mit der Druckerei, Schreibmaschine,
Computer etc.
Wir hätten sie verkaufen und verschicken können.
Wir hätten die Plakate im Ort aufhängen können mit Aktionen... mit anderen
Kindern.
Wir hätten ein Buch machen können, zum Beispiel ein Bilderbuch mit Marmorieren,
Selbstbinden etc.
Wir hätten Briefe mit unseren Rechten schreiben können, zum Beispiel an Bundestagsabgeordnete
und sie fragen können, warum die UNO-Kinderrechte im
Bundestag nicht verabschiedet sind.
Wir hätten große Bilder zu unseren Rechten malen und eine Kunstausstellung
machen können.
Wir hätten alle Rechte in kleine Theaterstücke umwandeln können, mit Schattenspiel,
Schwarzlicht, Tanz, Puppenspiel, Pantomime, Maskenspiel etc. etc.
Wir hätten unserer Partnerklasse in Brandenburg schreiben und uns über die
Rechte austauschen können.
Wir hätten überlegen können, was konkret in unserer Gemeinde für Kinder
verändert werden muß. Dies hätten wir in einem Beschwerdebuch zusammenfassen
und es der Gemeinde übergeben können.
Wir hätten Kontakt zu Kindern in der Dritten Welt, zum Beispiel Brasilien,
aufnehmen können.
Wir hätten einen Videofilm oder eine Fotoserie zu Kinderrechten machen können.
Wir hätten ein Kinderparlament gründen können.
Wir hätten eine Kinderrechts-Sinfonie komponieren können.
- Wir hätten unsere Eltern wieder einmal einladen können. Das letzte Mal haben
sie wie wir gearbeitet. Jetzt hätten wir über unsere Kinderrechte sprechen können.
- Wir hätten Interviews zu unseren Kinderrechten maehen können.
- Wir hätten in der Kirche einen Gottesdienst zu diesem Thema organisieren
können.
- Wir hätten ein großes Kinderfest organisieren können mit vielen Kindern, die
auch bei uns ihre Probleme haben.
- Wir hätten alte Menschen in die Schule einladen können und uns erzählen lassen,
wie das mit den Kinderrechten früher war.
- Wir hätten eine Traumreise in ein Kinderland machen können.
- Wir hätten auch einen Film drehen können.
Die Freinet-Klasse ist ein lebendes Rechtswesen
Um den Umgang der Lernenden in einer Freinet-Klasse mit ihren eigenen Rechten,
um den Umgang der Lehrenden mit den Rechten der Lernenden und den eigenen zu
verstehen, muß zunächst der Umgang der Freinet-Klasse mit sich selbst verstanden
werden. Oder um es anders - als Frage - auszudrücken: »Wie funktioniert die
Demokratie in einer Freinet-Klasse?«
Viele Lehrerinnen haben die Erfahrung gemacht, daß sie mit dem Versuch der
Demokratisierung, »dem Zulassen« freierer Verhaltens- und Arbeitsformen irgendwann
stehengeblieben, wenn nicht sogar gescheitert sind, an Systemen (Schule,
Elternschaft, Kollegium, Schulaufsicht) und den Reaktionen der Betroffenen
(Schülerinnen).
Sie haben mit besten Absichten begonnen, um mit Schmerzen, Ärger und Wut
ihre Versuche einzustellen und sich jedem System anzupassen oder sich mit dem zu
arrangieren, das um sie herum herrscht.
Resignierend suchen viele nach Schuldigen: das gesellschaftliche System, das
verkrustete System Schule, die Kolleginnen, die Schulleitung, die Schülerinnen
oder eben der Mensch an sich. Es fällt nicht schwer, Bestätigungen für diese
Schuldzuweisungen zu finden.
Viele Lehrerinnen finden sich damit ab, daß sie in einem System Schule arbeiten,
das sie eigentlich als undemokratisch ablehnen; aber sie finden nicht den Weg, es zu
verändern. Die einen passen ihr Demokratieverständnis den herrschenden Verhältnissen
an, die anderen werden zu Einzelgängern.
Dies führt aber auch zu einem fatalen Vorgang. Die Lehrerinnen geben sich
selbst die »Schuld« für ihre berufliche »Unfähigkeit«, ihren Unterricht so demokratisiert
zu haben, wie sie es sich vorstellten. Hieraus entstehen Verdrängungen,
Verbitterungen, Konkurrenzspiele, innere Kündigungen, Burn-outs, Jobmentalität.
Hieraus entsteht eine tiefe Skepsis, Mißtrauen, eine übergroße Vorsicht gegenüber
allen, die behaupten, sie könnten den Unterricht demokratischer gestalten.
»Aber das mit den Rechten ist Augenwischerei, aufgesetzt, gar nicht möglich,
wo bleiben die Pflichten, ja bei Ihnen klappt das vielleicht, das ist ja vielleicht...,
aber ich nicht; Ihr Freinis habt wohl den Stein der Weisen gefunden, ich würde
Ihnen ja gerne glauben, aber...«
Für Freinet-Pädagoginnen ist es sehr schwer zu erklären, warum »es« in ihren
Klassen mal gut, mal weniger gut funktioniert.
Zum einen ist das Umgehen mit einer Klassendemokratie nicht einfach eine
Frage der Formulierung in Lehrbüchern oder Vorträgen. Es ist eine in Jahrzehnten
zu Erfahrung geronnene Praxis, die sich Freinet-Pädagoginnen selber und gegenseitig
auf Treffen in Ateliers und Arbeitsgruppen beibringen, wo sie Erfahrungen
und eigenes Lernen austauschen und sich gegenseitig mit Mut und neuem Knowhow
anstecken.
Diese Demokratie wird erst erfahrbar, wenn sie selbst auf Freinet-Treffen und in
der Klasse praktiziert wird.
Zum anderen gibt es Werkzeuge (»outils«) in der Freinet-Pädagogik, die benutzt
werden und in sich demokratisches Potential tragen.
Die Lehrerinnen unterziehen sich nicht einer »Bewußtseinsveränderung«, um
zuerst ein anderes Schülerinnen-Lehrerinnen-Verhältnis einzugehen. Vielmehr
verändern sich Schülerinnen und Lehrerinnen durch den Gebrauch der Werkzeuge,
Arbeitstechniken, Arbeitsmaterialien.
Entscheidend für die Veränderung ist der Gebrauch des freien Ausdrucks, der
tastenden Versuche und der natürlichen Methode des Lernens. Hier spüren Lehrerinnen
und Schülerinnen sich selbst und... irgendwann auch ihre Rechte als
Menschen. Das verändert auch die Lehrerinnen-Schülerinnen-Beziehung.
Das Eehlen dieser Werkzeuge oder Strukturen kann ein entscheidender Grund für
die Nichtumsetzbarkeit der eigenen Demokratievorstellungen beim Unterrichten
sein.
Die Freinet-Klasse ist jenes feine Geflecht solcher Strukturen: Verträge, Verbindlichkeiten,
Absprachen, Sensibilitäten, Zeitrhythmen, Einrichtung des Klassenraumes,
Zulassung von Emotionen, Verantwortlichkeiten, Regeln und deren
Veränderbarkeit, Selbstregulierung, individuelle und kooperative Arbeiten, verschiedene
Lemorte, die alle abhängig sind vom Schlagrhythmus ihres Herzens,
dem Klassenrat.
Der Klassenrat gibt der Klasse immer die Struktur, die sie jeweils braucht. Diese
Struktur ist immer gekoppelt an das Leben in der Klasse, an die Arbeit der Klasse
(wobei der Begriff »Arbeit« wörtlich, als sinnvolle Arbeit zu verstehen ist).
Alles in der Freinet-KIasse dreht sich um die Frage: »Was können wir tun, damit
wir die Arbeit, die wir tun wollen, auch tun können?«
Und damit findet die Veränderung der Lehrerinnen statt!
60
Der Klassenrat
Einmal in der Woche ist er fest mit einer Stunde im Stundenplan verankert. Ausfallen
(zum Beispiel wegen eines Feiertages) tut er selten, er findet dann in einer
anderen Stunde statt. Gegebenenfalls gibt es zwei oder gar drei Sitzungen in der
Woche. Die Präsidentin leitet den Klassenrat.
Präsidentinnen können für eine Sitzung, ein oder zwei Wochen oder einen Monat
amtieren. Sie können auf Vorschlag gewählt, von der Vorgängerin bestimmt oder
durch die Reihenfolge der Klassenliste bestimmt werden. Diese Regelungen ergeben
sich aus der Arbeit der Klasse.
Aufgabe der Präsidentin/des Präsidenten:
- Worterteilung
- Achten auf Einhaltung der Regeln
- Aufrufung der Tagesordnungspunkte
- Abstimmungen durchführen, Beschlußfassung und deren Einhaltung überprüfen.
Aufgabe der Lehrerin
Sie ist Mitglied des Klassenrates ( 1 Mensch, 1 Stimme), muß sich wie alle anderen
zu Wort melden.
Hilfen wie Formulierung eines Antrages oder Unterstützung, z.B. für die Präsidentin
bei der Einhaltung der Regeln, sollen Ausnahmen bleiben, können keine
Regel sein.
Die Lehrerin greift nicht ständig mit Wortmeldungen ein. Es heißt abwarten
lernen! Für sie sind die Beschlüsse des Klassenrates genauso verbindlich wie für
alle anderen.
Grenzsituationen: Sie treten in der Regel selten ein. Aber gerade hiervor fürchten
sich viele Klassenratsanfänger.
Einige Beispiele: Im 2. Schuljahr beantragt eine Schülerin, daß jemand zur Strafe
etwas schreiben muß, weil er nicht mitarbeiten wollte und andere so penetrant
störte, daß sie auch nicht arbeiten konnten. Die Stimmung im Klassenrat läßt
befürchten, daß der Antrag durchkommt. Ich melde mich zu Wort und erläutere
meine Ansichten über’s Schreiben: Schreiben ist etwas Tolles, damit darf niemand
bestraft werden und außerdem hätte jeder das Recht zu schreiben, wann, wo und
wie sie oder er wolle.
Ich gehe hier nicht hin und verbiete, sondern versuche zu überzeugen. Die
Argumentation kommt an, aber die Erwachsenen haben den Kindern keine positiven
Lösungsmuster vorgelebt: denn so entsteht Ratlosigkeit.
Ich entscheide mich in dieser Situation dafür, bei der Lösung zu helfen. Ich
beantrage, daß S. einen Tag nicht arbeiten darf und andere auch nicht mit ihm
arbeiten sollen.
In anderen Situationen hätte mein Verhalten absolut falsch sein können, es wäre
z.B. wichtiger gewesen, das Kind durch Erzählen oder szenarische Darstellung
erklären zu lassen, was mit ihm los ist, oder es wäre richtiger gewesen, dem Kind
einen Freiraum zu gewähren, da es nicht zu einer Lösung fähig war. Oder es hätte
der Klasse mehr genutzt, den Prozeß zu durchleben und eine eigene Lösung zu
finden.
In einer 9. Klasse, die ich seit einigen Wochen unterrichtete, machten einige
Jungs aus ihren freien Texten Sex-and-Crime-Geschichten. Die Mehrheit der Klasse
stieß dies ab, aber niemand wagte etwa zu sagen. Ich ließ das Vorlesen der Texte
zu, griff aber im Klassenrat die Jungs frontal an und machte sie vor den anderen
lächerlich.
Es gelang mir, die Mehrheit der Klasse gegen die Sex-and-Crime-Texte zu
mobilisieren. Die Klasse beschloß kein Verbot, aber eine Nichtbilligung. Ich halte
dies für ein positives Beispiel eines Mehrheitsbeschlusses. Hier gab es keinen
Konsens oder eine Differenzierungsmöglichkeit.
In einer Kölner Schule mit reformpädagogischem Anspruch zeigte ein Kollege
mir ein Arbeitsergebnis einer 10. Klasse. Es war das Modell eines Konzentrationslagers.
Mit einem undefinierbaren Grinsen zeigte er mir, daß die Schüler die
Kamine der Verbrennungsanlage so gebaut hatten, daß echter Rauch herauskam.
Ich hätte dies als Lehrer schlicht verboten und dies im Klassenrat erläutert.
In Grenzsituationen ist von Lehrern so etwas wie Verantwortlichkeit für das
eigene demokratische Handeln gefragt. Es sollte nicht der Versuch sein, den Kindern
ihre Verantwortung zu nehmen. Kinder sind verantwortungsfähig. Lehrerinnen
auch.
Sitzordnung:
- Sitzkreis am Boden
- Karree hinter Tischen
- Stuhlkreis.
Abstimmung:
Konsensbeschlüsse
Mehrheitsbeschlüsse mit zum Beispiel 50% der Anwesenden, oder %-Mehrheit,
oder qualifizierter Mehrheit...
Differenzierte Beschlüsse, z.B. beschließt der Klassenrat mit % der Stimmen,
eine lange Wanderung zu machen. Die Gegenstimmen beantragen, in der Zeit in
die Parallelklasse gehen zu können, was sie selbst mit den betroffenen Lehrerinnen
regeln.
Oder: Die Klasse beschließt; »Wir schreiben Gedichte und spielen sie«; zwei
Schüler wollen aber drucken, andere wollen malen. Nun wird überlegt, ob dies
integrierbar ist. Die Malerinnen sind bereit, aus Folien Bühnenbilder für Theaterstücke
zu machen, die Druckerinnen wollen aber keine Gedichte dmcken, sondern
eine bereits geschriebene Geschichte. So beschließt dann auch der Klassenrat.
Oder: Jemand will gar nichts machen, ohne Begründung. Der Klassenrat läßt dies
nicht zu. In anderen begründeten Fällen würden andere Lösungen gesucht. Entscheidend
ist, daß der Klassenrat so arbeitet, daß individuelle Bedürfnisse und
Kooperation aller nicht zum Gegensatz werden.
Die Tagesordnung
Die Präsidentin legt die Tagesordnung in Absprache mit dem Klassenrat fest. Die
Sammlung der anstehenden Punkte geschieht in verschiedenen Klassen in verschiedener
Art. Die einen haben einen Briefkasten, andere einen Platz an der Tafel,
eine Wandzeitung, ein Blatt Papier an der Wand und/oder die Punkte werden zu
Anfang des Klassenrates gesammelt.
Hier ein Beispiel der Klasse 3 b:
1. Wie binden wir unsere Bücher?
2. Wie teuer sollen die Bücher sein?
3. Ruhe in der Klasse (Bine hat ein paar Tage in einer anderen Klasse gearbeitet und
will darüber berichten, daß sie ruhiger als wir arbeiteten.)
4. 5-Minuten-Arbeiten von Patrick (Marco beschwert sich, daß Patrick beim Drukken
immer nach 5 Minuten mit der Arbeit aufhört.)
5. Eine Frage an Anatol (ein Konflikt)
6. Was macht unser Kooperationsvertrag mit der Parallelklasse?
Ganz wichtig ist, daß ich als Lehrer - vor allem zu Anfang - Themen in den
Klassenrat bringe. Einige Beispiele: Ich sehe, wie eine Arbeitsgruppe ein Problem
löst. Ich schlage ihnen vor, dies im Klassenrat zu erklären.
Ein Kind beklagt sich über die Lautstärke bei der Arbeit und fordert mich zum
Handeln auf. Ich tue dies nicht, sondern bitte es, dies im Klassenrat zu problematisieren.
In der Pause gab es Streit, ich soll »meines Amtes walten«, wieder verweise ich
auf den Klassenrat und lasse mich nicht zum Sheriff machen.
Ein Kind macht mir einen Vorschlag zur Verschönerung der Klasse. Auch dies
leite ich in das richtige Gremium um.
Fragen aus dem Klassenrat
Was gibt es über unsere Arbeit zu berichten? Was wird allen gezeigt oder erklärt?
Wie war die Atmosphäre bei der Arbeit? Was war uns bei der Arbeit besonders
wichtig?
Welche Zwischenberichte gibt es von der Arbeit und aus den Gruppen?
Welche Arbeit wird z.Zt. zusätzlich zur Projekt- und Wochenplanarbeit geleistet?
Welche Teile der Arbeit kommen in die Korrespondenz?
Welche Probleme können wir lösen? Aus welchen Fehlem können wir lernen?
In welchem Umfang arbeiten wir am laufenden Wochenplan weiter?
Was macht der/die Lehrerin bei der anstehenden Arbeit?
Was machen wir, wenn jemand die Arbeit nicht machen kann oder will?
Wem werde ich wie und wann besonders helfen?
Wie werden wir die Arbeitsergebnisse wo und wem zeigen?
Wo gehen wir wann hin? Wen oder was holen wir in die Schule?
Was wollen wir alle schaffen? Welche Hilfen brauchen wir?
Zu welcher Arbeit verpflichte ich mich? Worauf achte ich besonders?
Wer ist für was verantwortlich? Wer arbeitet an welchem Thema?
Welche Arbeitsmittel und Techniken benutzen wir? Was brauchen wir noch?
Wie haben wir unsere Arbeit organisiert? Was hat sich bei der Arbeit bewährt?
Was können wir verbessern, was müssen wir ändern? Was haben wir gelernt?
Was haben wir geschafft, was nicht? Bist du mit deiner Arbeit zufrieden?
Wie hat deine Gmppe gearbeitet? Arbeitete die Klasse zusammen?
Wie schätzen wir die Leistung ein? Wer hat nicht gut gearbeitet?
Gab es Streit? War es zu laut? Wem habe ich direkt etwas zu sagen?
Wer oder was hat mich bei der Arbeit gestört? Wer arbeitet mit wem?
Gibt es Probleme zwischen einzelnen oder in Gruppen?
Welche Beschlüsse müssen gefaßt werden? Gibt es neue Regeln?
Wo muß eine Ordnung verändert werden? Müssen wir etwas umbauen?
Sind alle Dienste gemacht worden? Wie sieht unsere Finanzlage aus?
Was haben wir ausgegeben? Was fehlte uns? Welche Arbeitsmittel waren gut?
Was wollen wir als nächstes tun? Was muß noch erledigt werden?
Welche Themenvorschläge gibt es? Wollen alle an dem Thema arbeiten?
Wie teilen wir die Arbeitsgruppen ein? Wo arbeiten wir in und außerhalb der
Schule? Wie lange brauchen wir für die Arbeit? Wozu machen wir die Arbeit? Wie
geht es mir dabei? War unsere Arbeit sinnvoll?
Der Umgang miteinander
Die wichtigste Regel ist die, daß alle einander direkt ansprechen. Sollte jemand
anfangen mit »Die Nina hat...« oder »Der Markus macht immer...«, erklingt ein
Chor aller Kinder: »Petze, Petze ging in’n Laden, wollt’ für’n Zehner Käse haben,
Käse, Käse gab es nicht, (z.B.) Daniel, Daniel ärgert sich.«
Sie sprechen einander in der Regel bei Konflikten oder Fragen direkt und offen
an: »Elmasa, du hast...« Ist eine Situation nicht durch Reden zu klären, so wird sie
in einem Standbild nachgestellt und untersucht (vgl. dazu Boal 1989).
Die Kinder gehen sehr offen, direkt und behutsam miteinander um. Sie hinterfragen
sehr oft ihre Reaktionen und sind so auch in der Lage, ein Gefühl des
Alleingelassen- oder Ausgeschlossenwordenseins zu artikulieren. Alle diese Gespräche
enden in der Regel mit konkreten Beschlüssen, die auf die Arbeit in der
Klasse bezogen sind. Es geht also nicht darum, »Schuldige« oder »Störer« zu
finden, auch nicht um »Gesprächstherapie« oder »Harmonisierungsakte«, sondern
um konkrete Regeln und Regelungen zur Kooperation und Kommunikation in der
Klasse.
Auch die Diskussion selbst hat Regeln wie
- zuhören, nur eine(r) redet
- wenn ich nicht mehr zuhören kann, sage ich es
- keine Außenseiter schaffen
- es gibt keine Eehler
- zum Thema reden
- sollte es zu laut werden, gibt die Dienstverantwortliche ein Gongzeichen.
Verbindlichkeit und Arbeitsverträge
Im Klassenrat wird beschlossen, was, wie, wo, in welcher Zeit gelernt und gearbeitet
wird.
Wochenplan- und Projektaufgabenstellungen werden generell und individuell
gemeinsam beschlossen. Diese Beschlüsse sind verbindlich, es sei denn, der Klassenrat
beschließt Verändemngen.
Hier werden Ziele beschlossen, so daß die Arbeit einen Sinn bekommt und nicht
für den Schnellhefter oder die Lehrerinnen gearbeitet wird.
Organisation der Arbeit
Vor ein paar Tagen machte ich mit meiner Klasse eine Wanderung zum nahen
Zirkus. Ein kleiner Zirkus, ein Familienuntemehmen, wo die Vorstellung von fünf
Personen gemacht wird. Sie überließen uns unentgeltlich für einen ganzen Morgen
ihren Zirkus: Ponys, Manege und den Lassowerfer, der den Kindern einige Seiltricks
zeigte. Ein paar Tage später gaben sie eine Vorstellung auf dem Schulhof.
So entstand der Vorschlag »Wir wollen einen Zirkus machen«.
Es ist nun klar, dies wird der Klassenrat behandeln. Jetzt, wo ich dies schreibe, ist
diese Sache soweit gediehen, was folgt, ist »Planung«. Diese Planung basiert auf
den Erfahrungen der Klasse 3 b.
Wir haben so bereits »Mathestationen«, einen »Gedichteabend«, ein »selbstgemachtes
Buch«, »Kunstwerkstätten« und ein Projekt »Silbentrennung« beschlossenD.
aher wird der Klassenrat zunächst darüber befinden, ob wir gemeinsam ein
solches Projekt durchführen wollen oder nicht. Wenn nicht (fast) alle dafür sind,
wird es nicht stattfinden. Findet sich eine breite Mehrheit, wird sich die nächsten
Wochen unsere Klasse in einen Zirkus verwandeln.
Als nächstes werden wir überlegen, mit welchem Ziel wir das Projekt durchführen.
Ich tippe auf eine öffentliche Veranstaltung in der Gemeinde zur weiteren
Finanzierung unserer Klassenfahrt im 4. Schuljahr. Der Gedichteabend brachte uns
einen Gewinn von über 400 DM.
Dann werden die Kinder darüber nachdenken, was in das Zirkusprogramm kommen
kann: Zaubertricks, Seiltanz hinter der Schattenleinwand, eine Pyramide aus
Menschen bauen. Jonglieren, eine Tiemummer mit Verkleidungen, Clownnummem
etc. etc.
Sie werden beschließen, in welchen Gruppen sie arbeiten, wann die Präsentation
stattfinden soll, welche Eltern mitmachen sollen, wie Plakate und Werbung gemacht
wird, wo es stattfinden wird, ob Marco seine Ponys ins Programm einbaut,
und Dinge, die keine Lehrerin planen könnte.
So bestimmt der Klassenrat das Lernen in der Klasse.
Es wären noch verschiedene Formen des Arbeitens zu unterscheiden. Es gibt -
wie gerade beispielhaft beschrieben - die allgemeine Projekt- oder Epochenarbeit.
Hinzu kommen noch andere Elemente, die alle über den Klassenrat organisiert
werden. Ständig findet die Arbeit auf mehreren Ebenen statt.
Wochenplan
Unser Wochenplan besteht zur Zeit aus folgenden Elementen:
- Freier Text (Jedes Kind verpflichtet sich zu einer bestimmten Anzahl freier Texte
pro Woche.)
- Mathe-Seiten (Zwei bis drei Seiten werden vom Lehrer vorgegeben, den Rest
bestimmen die Kinder.)
- Knips-Diktat (Zweimal in der Woche gibt es einen Morgenerzählkreis, wo die
Kinder ihre Erlebnisse erzählen. Von jedem Kind schreibe ich einen Satz mit.
Am Ende des Kreises bestimmen die Schülerinnen drei Sätze, die ich auf ein
Blatt schreibe. Dies klebe ich unter die Tafel. Die Kinder gehen zur Tafel und
»knipsen« in ihr Gedächtnis einen Teil der Sätze, gehen zu ihrem Platz zurück
und schreiben auf, was sie behalten haben. Das tun sie so lange, bis alles in ihrem
Heft steht.
- Lesen und Verstehen (verschiedener Vorlagen, kurze Texte mit Sinnüberprüfungsfragen.)
Individuelle Arbeit
Neben Wochenplan und Projektarbeit gehen die Kinder weitere Arbeiten an. Hier
hilft die Klassenbibliothek, Arbeitsecken (Ateliers), viele Spiele und Karteien, wie
das 1 X 1-Spiel oder die Schreib-Los-Kartei etc., etc. und viele eigene Ideen, wie
»Wir malen Dinosaurier mit Hilfe des Tageslichtprojektors in Riesengrößen«, »Wir
spielen Schlagzeug«, »Wir malen Mandalas« oder »Wir experimentieren mit Salzkristallen
«.
Das Repertoire der Schülerinnen ist unerschöpflich, wenn sie - mit viel Geduld
der Lehrerinnen - erst einmal gelernt haben, selbständig zu arbeiten.
Exkursionen
Einmal in der Woche verlassen wir die Schule für vier Stunden, mit oder ohne Ziel
oder Absicht. Wir lernen draußen, Freinet nannte dies »die Spaziergangsklasse
«.
Gemeinsamer Unterricht
Er findet selten statt, als Kopfrechen-Training, Traumreise oder kooperative Lyrik.
Der übliche Frontalunterricht findet bei uns individuell statt. Über die Arbeit entwickeln
die Kinder die Fragen, die sie sich selbst beantworten oder den Mitschülerinnen
oder Lehrerinnen.
Alle diese Arbeitsformen - und noch andere - werden im Klassenrat abgesprochen
und beschlossen.
Hier wird selbst entschieden und gelernt!!
Protokoll
Es gibt Freinet-Kolleginnen, bei denen im Klassenrat Protokoll geführt wird, ebenso
gibt es protokollführende Lehrerinnen oder Schülerinnen. Vor einigen Jahren
hatte ich eine Klasse, wo immer die/der letzte, also nicht mehr amtierende Präsidentin
mitschrieb.
Meistens handhaben meine Klassen es so, daß wichtige Dinge, zum Beispiel
wichtige Regeln oder Arbeitsorganisationen, auf Wandzeitungen oder Plakaten in
der Klasse hängend festgehalten werden. Ansonsten sind unsere Köpfe die Protokollbücher,
die übrigens nichts vergessen, nur manchmal, und das dann auch
absichtlich.
Wochenabschlußkreis
Eine weitere Einrichtung des Klassenrates ist der Wochenabschlußkreis, der in der
letzten Unterrichtsstunde der Woche stattfindet. Im ersten Teil können noch nicht
behandelte aktuelle Angelegenheiten der Klasse auf der Tagesordnung sein, hier
wird auch im Rückblick betrachtet, was in der Woche getan wurde.
Die dienstverantwortliche Schülerin für den Wochenplan geht den aushängenden
Plan durch, wobei hier und da Schüler auch nicht erledigte Aufgaben mit ins
Wochenende nehmen. Im zweiten Teil findet eine Rückbesinnung auf die Woche
statt, die auch protokollarischen Charakter hat.
Jede zweite Woche sitzen wir im Kreis und jede(r) von uns beantwortet blitzlichtartig
die Frage; »Was war diese Woche wichtig für mich?«
Alle (auch Lehrerinnen) lernen ihre Erinnerung zu strukturieren, was sicherlich
eine wichtige Art des Lernens ist. Andererseits hören auch alle sehr genau, welche
Arbeitsformen bei wem wie angekommen sind. Dies schafft Selbst-Erfahrung!
Die Woche dazwischen gestalten wir unsere Wochenauswertung anders. Jede(r)
hat ein paar Minuten Zeit, um ein paar Zeilen aufzuschreiben, die anschließend im
Kreis vorgelesen werden.
Der Obertitel lautet »Gedanken über Schule«. Hier wid über den Rand der
eigenen Arbeit in der Klassenkooperative hinausgeschaut, hier wird das System
Schule mit gesehen.
Klassendienste
Ende des Monats werden die Dienste neu eingeteilt, die Umsetzung der alten
Dienste besprochen. Grundgedanke ist der, daß jedes Kind der Klasse eine Verantwortlichkeit
für die Gesamtheit übernimmt.
Hier die Dienste, die meine 3. Klasse kennt (sie sehen woanders zu einer anderen
Zeit anders aus);
- Präsidentin
- Datum
(wird jeden Tag an die Tafel geschrieben)
- Wochenplandienst
(Sorgt dafür, daß der aushängende Wochenplan von allen ausgefüllt wird. Am
Ende der Woche kontrollliert die Verantwortliche.)
- Bringen und Holen
- Verteilen
- Milch und Kakao
(Unser Dienst hat sich ein Namenklammersystem ausgedacht, mit dem jede(r)
ihre (seine) Flasche erkennt.)
- Taschen
(Sorgt dafür, daß die Schultaschen nicht auf dem Fußboden rumfliegen.)
- Tafel
Fensterbänke und Regale
Boden und Regale
Drucken
(Achtet darauf, daß die Druckerei sortiert und gereinigt verlassen wird.)
Stühle
(Zur Unterstützung der Reinigungsfrau werden sie auch bei uns hochgestellt.)
Bücherei (Verwalten die Klassenbücherei.)
Müll (Sorgt für die heute übliche Müll-Aufteilung.)
Waschbecken
(Vor allem das Drucken läßt das Becken oft schmutzig werden.)
Ateliers
(Oder auch Arbeitsecken bedürfen der Pflege.)
Tische
(Auch bei uns bleibt manches liegen.)
Schreibkonferenz
(Bei zwei Schülerinnen kannst du deine freien Texte vorlesen, besprechen und
verbessern.)
Rechenbüro
(Bei zwei Schülerinnen kannst du dir Dinge erklären lassen, von denen du -
aufgrund der Selbstkontrolle - weißt, daß du sie noch nicht kannst. Du kannst
auch zum Lehrer gehen.)
Garten
(Wir haben zwischen ein paar Buchenhecken einen Garten, eine Schülerin ist für
einen Monat verantwortlich.)
Dienstverantwortliche
(Eine Schülerin ist dafür verantwortlich, daß Dienste eingehalten werden.)
Sammlung
(Wir haben eine Sammlung von Steinen, Vogeleiem, Sand, Muscheln, Dinosauriern
etc., die versorgt werden muß.)
Wände
(Immer wieder lösen sich die verdammten Klebe.streifen von der Wand. Dann
muß neu geklebt werden. Es gilt aber auch. Neues aufzuhängen.)
Finanzen
(Hier wird die eigene Kasse verwaltet; bei uns in Zusammenarbeit mit einer
netten Mutter.)
Gong
(Immer wenn es zu laut wird, wird die Gongschale einmal angeschlagen. Wird
sie zweimal angeschlagen, darf nur noch geflüstert werden. Bei dreimaligem
Anschlägen gilt es, jemandem zuzuhören.)
Kreisecke
(Ein Teppichbodenbereich mit Sitzelementen, durch Regale abgeteilt.)
Wetter
(Hier werden täglich Temperatur und Niederschlagsmenge abgelesen.)
Lehrer-Eltern-Kinder-Rechte
Früher herrschte in den Schulen wohl alleine das Lehrerrecht. So kam es mir auf
jeden Fall als Schüler vor; meine Lehrer entwürdigten, straften und schlugen.
Schon damals richteten diese Lehrer wahrscheinlich ihr Verhalten an den Wünschen
der betuchten Eltern aus, aber in der Schule herrschten sie!
Dann wurde den Lehrern das Recht der körperlichen Züchtigung entzogen, ohne
daß der »Rechtgeber« ihnen erklärte, wie sie nun mit ihren »Opfern« umgehen
sollten.
Heute herrscht Elternrecht!
Zumindest, wenn man den Kultusministern Glauben schenken mag,... und den
Grundschullehrern und -lehrerinnen. Sie müssen heute ja den Unterricht so machen,
weil die Eltern auf Leistungsdruck und Vorbereitung aufs Gymnasium und
später auf das Abitur bestehen.
Zumindest ist dies eines der beliebtesten Innovationskillerargumente an Grund-,
Real- und Gesamtschulen und Gymnasien.
Machen wir es uns einmal schwer und überlegen, warum viele Eltern so denken.
Durch zunehmenden Streß wird nicht mehr gelernt, durch mehr Pauken bleibt
nicht mehr im Kopf, beim Frontalunterricht geht 20 % des Gesagten maximal in den
Kopf eines konzentriert zuhörenden Menschen.
Warum zwingt das Elternrecht sie also zur Nichtveränderung des Unterrichts?
Vielleicht ist das Elternrecht gar nicht so erdrückend? Nein, diese These ist
bestimmt falsch, ich habe selbst diese Kraft erfahren. Vor allem, wenn Schulleiter
geschickt oder plump mit »Elternrecht« agieren. Vielleicht haben die Eltern doch
irgendwo recht. Wagen wir mal folgende These: Das Lernen in der Schule ist
»sinnlos«, die Eltern wollen aber einen Sinn darin sehen, darum orientieren sie sich
selbst und ihre Kinder auf selektive Leistung, Gymnasium, Abitur, Studium, gesellschaftlichen
Aufstieg etc. Sie geben sich also der Illusion hin. Schule würde
ihren Kindern die Eähigkeiten zur Schul- und Berufskarriere erlernen lassen.
Wenn man dann allerdings bedenkt, was nach 13 Jahren Schule, also Tag für Tag
5-6 Stunden Unterricht - und das eben 13 Jahre lang - rauskommt? Es ist blamabel!!!
Aber warum glauben Eltern trotzdem an diese Schule?
Weil sie einen Sinn haben muß!
Der Sinn, der allein in den Noten liegt, ist in der Tat sinnlos. Dies kann man mit
etwas Geschick und Geduld auch Eltern klarmachen.
Die Alternative? Ja natürlich gibt es die, in der Community-Education, einigen
freien Schulen und der Freinet-Pädagogik, also jenem Unterricht aus den Wurzeln
der Arbeitsschule.
In der Freinet-Pädagogik gibt es die selbstinitiierte Theatervorstellung, die Korrespondenz,
das Verkaufen der Klassenzeitung oder des Geschichtsbuches, den
Vortrag vor der eigenen Klasse, die Veröffentlichung!
Hier hat Lernen Sinn, weil es eigene anerkannte Arbeit ist. Hier verlieren Eltern
die Lust an der Verfolgung von Pseudozielen. Sie sehen klar, daß eine gute Bildung
für ihre Kinder wichtig ist, aber eben nicht auf Kosten ihrer Kinder. Sie beginnen zu
begreifen, daß ihre Kinder das Recht auf die Bildung einer eigenen menschenwürdigen
Persönlichkeit und Welt haben, daß ihre Kinder Rechte haben.
Die Erfahrung der Freinet-Pädagoginnen ist, daß sie ihr Lehrerdasein wieder
genießen können, daß sie sich wieder als Menschen mit Rechten fühlen, wenn ihre
Kinder mit ihren Kinderrechten leben lernen.
Literatur
Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und
Nichtschauspieler, Frankfurt a.M. 1989
Dietrich, Ingrid (Hrsg.): Politische Ziele der Freinet-Pädagogik, Weinheim und Basel
1982
Piaget, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, hrsg. und kommentiert von Reinhard
Fatke, Frankfurt a.M. 1993
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Zusammenfassung des Buchs von Walter Hövel/Birgitt
Brand: Die Rechte der Kinder - Freinet-Pädagogik, Bremen 1993 (Selbstverlag der Pädagogik-
Kooperative). Dort s. auch umfangreiche Quellensammlung und Literaturangaben.
Redaktionelle Bearbeitung: Ingrid Dietrich.