Falko Peschel

Demokratielernen in der Schule entscheidet sich in der Anlage des Unterrichts

- Wider eine Inszenierung demokratischer Alibiaktionen in der Schule

Gerade in letzter Zeit tut sich sehr viel in der Schullandschaft. Nach der intensiven Arbeit der Kollegien, der eigenen Schule durch ein Schulprogramm eine gemeinsame Basis zu verschaffen, werden nun immer mehr Schulen zu selbstständigen Schulen. Schulen, die sich selbst verwalten – bürokratisch und pädagogisch. Projekte zum demokratischen Lernen und zur schülereigenen Streitschlichtung sind genauso angesagt wie gemeinsame Überlegungen zur Qualitätssicherung durch parallel geschriebene Arbeiten. In den Richtlinien wird immer stärker ein Unterricht konkretisiert, in dem sich Schüler mit für sie selbst bedeutsamen Gegenständen auseinandersetzen und selbst planen, entdecken, erkunden, untersuchen, beobachten, experimentieren, dokumentieren und ihre Arbeiten bewerten. Schule im Umbruch!

Auch die Wissenschaft bekommt ein neues Gesicht: Renommierte Untersuchungen wie die PISA-Erhebung erfassen nicht mehr nur den Ausschnitt rein fachlicher Leistungen, sondern versuchen auch soziale Kompetenz und selbstreguliertes Lernen zu messen. In der Lehr-Lern-Forschung werden behavioristisch orientierte Fragestellungen nach direkten Lehr-Lern-Zusammenhängen abgelöst von Untersuchungen zu interessegeleitetem Lernen und der Frage nach der Bedeutung impliziter und inzidenteller Lernprozesse. Schule im Umbruch!

Schule im Umbruch? Betrachtet man das näher, was da so vielversprechend aussieht, so bekommt man ein anderes Gefühl. Das selbstregulierte Lernen wird nicht nur in wissenschaftlichen Erhebung sondern auch in Fortbildungen auf ein kleinschrittig lehrbares Methodentraining reduziert, das neue Tricks liefern soll, die Schüler zum Arbeiten zu motivieren. Auch bei der Untersuchung der Effektivität interessenorientierter sowie impliziter und inzidenteller Lernprozesse gerät man schnell ins Staunen: Trotz vielversprechender Ergebnisse in der Praxis werden diese Lernformen entweder wissenschaftlich ignoriert oder aber in Versuchsanordnungen evaluiert, in denen gar nicht das wirklich untersucht werden kann, was untersucht werden müsste.

Aber auch in der Schule muss man zwischen Aktionismus und Entwicklung unterscheiden. Die meisten der in den Schulen obligatorisch abgefassten Schulprogramme entpuppen sich nicht nur für den Insider schnell als ein oberflächlicher Abklatsch der gängigen Richtlinien, ergänzt durch die Nennung der schuleigenen Besonderheiten wie den jährlichen Martinsumzug oder die Weihnachtsfeier mit den Eltern. Und auch die gemeinsamen Überlegungen zur Qualitätssicherung durch verabredete Leistungsüberprüfungen führen nicht etwa dazu, dass Unterricht und Leistungsmessung individualisiert werden, sondern eher zu Überprüfungen, in denen die verschiedensten Klassen und Lehrer nun über einen Kamm geschoren werden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Wandel der Schule in Richtung demokratischer Strukturen trotz aller Bemühungen durch Verordnungen und Projekte genau dort stecken bleibt, wo es mit der Demokratie konkreter wird: Eben da, wo es um wirkliche Veränderungen im Unterricht geht.

Und genau das spiegeln auch die Untersuchungen wider, die sich näher mit Lernformen befassen, die eigentlich einmal einen demokratischeren Unterricht grundlegen sollten. Lern- und Arbeitsformen, die durch methodische und inhaltliche Freiräume bei der Aneignung des Lernstoffs als hochgradig selbstbestimmt (und in diesem Sinne „demokratisch“) gedacht waren – primär aus lernpsychologischen Gründen, aber sicherlich auch mit einer politischen Komponente. Vielleicht ist es sogar gerade diese zwangsläufig enthaltene Komponente der Demokratie, die die Verbreitung offener Unterrichtsformen auf einem kaum wahrnehmbaren Niveau zum Versiegen gebracht hat?

So stellt z. B. Gervé in seiner Befragung zur Umsetzung Freier Arbeit fest, dass weniger als 5% der Freiarbeit praktizierenden Lehrer mindestens eine Stunde Freie Arbeit pro Tag zulassen. Im Grund existiert Freie Arbeit als durchgehendes Konzept auch in „Freiarbeitsklassen“ also gar nicht. Bedenkenswert ist auch das Verständnis, das die Lehrer von „Freier Arbeit“ haben: Für nur 4% der Lehrer war Freie Arbeit eine Zeit, in der die Kinder nach Belieben einer Beschäftigung ihres momentanen Interesses nachgehen können – 96% der frei arbeitenden Lehrer empfanden Freie Arbeit als durchaus lehrergesteuert. Nur 1% (!) der Lehrer ließ (in der sowieso nur auf einzelne Stunden beschränkten Freiarbeitszeit) bei den Kindern überwiegend Aufgaben zu, die nicht direkt in dem vom Lehrer vorbereiteten und selbst eingeführten Angebot enthalten waren (vgl. Brügelmann 1996/1997; Gervé 1997a, b). Hanke (vgl. 2001, 382ff.) konnte in ihrer Untersuchung alle Selbsteinschätzungen der Lehrer, sie würden häufig/immer Freie Arbeit machen, nach der überprüfenden Beobachtung nicht aufrecht erhalten, und auch Wagener kommt zu dem Schluss:

Die Anwendung der Kriterien auf den „offenen“ bzw. „schülerorientierten“ Unterricht aus der Fachliteratur im Vergleich mit dem beobachteten Unterricht machte deutlich, dass in dieser Untersuchung nicht die Rede davon sein kann, dass Unterricht in der Grundschule überwiegend „offen“ oder „schülerorientiert“ ist. Kernpunkte „schülerorientierten“ Unterrichts wie Freiarbeit, entdeckendes Lernen und Projektarbeit wurde während unserer Anwesenheit überhaupt nicht praktiziert. (Wagener 2002, 112)

 

Demokratie kennen lernen ...

Als was lernen Kinder Demokratie in einer Schule kennen, in der sie nicht wirklich mitbestimmen können? In der andere immer besser wissen, was für sie gut ist? In der sie als die wahren Experten ihres Lernprozesses nicht agieren, sondern nur reagieren können? In der sich die Möglichkeit des Kennenlernens der eigenen Bedürfnisse und die anderer vorwiegend auf fremdinszenierte Situationen beschränkt? In der Demokratie reduziert wird auf einzelne vom Lehrer vorher festgelegte Teilbereiche? In der das Leben und Zulassen von Demokratie verwechselt wird mit Abstimmungsprozeduren, nach denen die (sich meist am Lehrer orientierende) Mehrheit immer Recht hat? In der Abstimmungsrituale stattfinden, in denen sich der Einzelne nicht oder nur schwer selber wiederfindet? In der Demokratie, Sozialerziehung, Gewaltprävention und Lernen als voneinander isolierte Bereiche ohne Zusammenhang gesehen werden?

Könnte es nicht sein, dass Demokratie mehr ist als ein formales Ritual schneller Regelfestsetzung? Sieht man sich Schulen an, die schon länger eine demokratische Tradition aufweisen, so faszinieren diese nicht (nur) durch ihre Abstimmungsverfahren, sondern scheinen ein weit darüber hinaus gehendes Geheimnis zu wahren. So besuche ich seit Jahren regelmäßig die bekannte „Summerhill School“ in England, die seit mittlerweile über 80 Jahren basisdemokratisch von Kindern, Lehrern und Hauseltern geführt wird, und ich bin immer wieder gefangen davon, wie diese Schule auf Hospitanten wirkt: Es ist die Atmosphäre des friedlichen Zusammenseins der dort lebenden Menschen, die gegenseitige Wertschätzung und Achtung, die beeindruckt. Diese äußert sich natürlich auch in den gemeinsamen Versammlungen von Groß und Klein, aber dort wird auch zugleich deutlich, dass sich Demokratie nicht auf ein festgelegtes Abstimmungsritual beschränken lässt, sondern gemeinsam gelebt werden muss.

Demokratie ist Empathie, ist Hineinversetzen in die Bedürfnisse und Sichtweisen des anderen, ist weitmögliches Zugestehen von Freiheit und Individualität. Regeln gibt es erst dann, wenn sie von den Betroffenen als notwendig empfunden werden – und auch dann sind sie auf einzelne Situationen bezogen. Es werden keine „vorbeugenden“ Regeln verabschiedet, „weil es denn so sein muss“. Jederzeit können Absprachen des Zusammenlebens hinterfragt, überprüft, geändert werden. Oft fühlt man dabei eher, was richtig ist, als dass kluge Argumentationsweisen eine Chance der Mehrheitsgewinnung hätten.

Gelebte Demokratie in der Schule ist dabei ein Faktor, der nicht nur Auswirkungen auf den sozialen und politischen Bereich hat, sondern vor allem auch auf den zentralen Bereich von Schule: das Lernen. So werden in der wissenschaftlichen Literatur im Anschluss an die Selbstbestimmungstheorie der Motivation (vgl. Deci/ Ryan 1993) immer häufiger die folgenden Dimensionen als die zentralen für menschliche Lernmotivation benannt:

·         das Erleben von Autonomie,

·         das Erleben von Kompetenz

·         und das Gefühl sozialer Eingebundenheit.

 

Alle drei Dimensionen lassen sich ohne zwangsläufige Abstriche nur in einer gelebten Demokratie wirklich erfahren. Es wird offensichtlich, wie weit entfernt davon der Unterricht ist, den wir in der Regel in der Schule antreffen – auch an den wenigen Schulen, die angefangen haben, einzelne Formen demokratischer Bausteine zu praktizieren. Spätestens dann, wenn es darum geht, wann ein Kind seinen Pausenkakao trinken darf, sind die Grenzen der Demokratie schnell erreicht ...

Demokratie leben, nicht lehren ...

Natürlich ist ein Unterricht, der Demokratie und damit alle am Unterricht direkt Beteiligten wirklich ernst nimmt, auf den ersten Blick ein anspruchsvolles Unterfangen – wähnt man sich doch als Lehrer in einem doch nicht allzu freien Rahmen von Vorgaben und Ansprüchen anderer. Aber ist dies wirklich so? Sind die unterrichtlichen Ziele von Schülern, Eltern, Lehrern, Schulaufsicht, Bildungsministerium etc. wirklich so unterschiedlich? Unsere Richtlinien und Lehrpläne sprechen mittlerweile schon seit Jahren bzw. Jahrzehnten eine andere Sprache und gewähren Freiräume, die an den wenigsten Schulen wirklich genutzt werden.

Sind es nicht eher die Lehrer selbst, die die eine hochgradige Individualisierung ermöglichenden offenen Curricula wieder schnell in für unterschiedliche Klassen verbindliche geschlossene „Standortpläne“ umwandeln? Und sind es wirklich immer die Eltern, die lehrplanwidrig Diktate und Rechtschreibübungen einfordern – oder fühlen sich nicht viele Lehrer eigentlich ganz wohl bei dem Gedanken, sich durch eine entsprechende Praxis gegenüber Eltern und Kindern zumindest formal absichern zu können? Sind es wirklich die Kinder, die die vermeintliche Strukturierung durch klein- und gleichschrittige Lehrgänge benötigen – oder sind nicht die Lehrer diejenigen, die nicht auf diese „Krücken“ verzichten wollen, auch wenn sie immer wieder miterleben, dass Kinder besser in ihren eigenen Strukturen lernen? Könnte man Schule nicht schon jetzt wesentlich stärker an den direkt Beteiligten orientieren, ohne Angst vor Machtverlust oder Chaos – oder Demokratie – zu haben?

Ich zumindest habe gute Erfahrungen gemacht mit einem Unterricht, der sich sehr eng an den beteiligten Personen orientiert – meine Vorstellung gelebter Demokratie. Wenn die Kinder die einzigen sind, die für sich selber lernen können, dann muss man ihnen und den Eltern dies als Lehrer auch ganz offen sagen. Aber danach müssen die Kinder doch wiederum überhaupt die Gelegenheit bekommen, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen, ohne dass sie dauernd jemand davon ablenkt oder dabei unterbricht: Durch den Verzicht auf vorgegebene Lehrgänge oder Arbeitsmittel, die man einfach aberledigen kann, ohne sich wirklich auf die Sache selbst einzulassen, werden sie dazu gezwungen, sich jeden Tag aufs Neue für das Lernen in der Klasse zu entscheiden. Und durch den Verzicht auf vorgegebene Regelstrukturen werden sie jeden Tag aufs Neue dazu gezwungen, sich für das gemeinsame Leben in der Klasse zu entscheiden – es gibt keine Regeln, die entweder unreflektiert angenommen oder aber unterschwellig mit der entsprechenden Gegenwehr als fremder Eingriff in die eigenen Belange empfunden werden können. Alle Regeln, die entstehen, sind situativ begründet und im Klassengeschehen bedeutsam – so können sie nicht einfach abgetan werden.

Ein solcher Unterricht gestaltet sich didaktisch relativ einfach (vgl. ausführlich Peschel 2002a&b). Arbeitsform für alle Fächer ist das Erstellen von Eigenproduktionen. Die Kinder arbeiten nicht an Vorgaben, sondern gestalten ihren Lernweg selbst. Dazu bekommen sie einerseits „weiße Blätter“, andererseits „Werkzeuge“ in der Form möglichst einfacher Hilfsmittel, die sinnvoll und gezielt für eine bestimmte Arbeit bzw. ein Lernvorhaben eingesetzt werden können: eine Buchstabentabelle zum Schreibenlernen, ein Wörterbuch zum Nachschlagen, einen Computer zum Aufschreiben, ein Punktfeld als Strukturierungshilfe zum Rechnen, Sach- und Geschichtenbücher zum Lesen und Forschen usw. Sie alle enthalten von sich aus keinen Lehrgang, sondern passen sich dem Lernweg des Kindes an. Neben dem Verzicht auf eine Abfolge bestimmter Unterrichtsstunden oder -fächer gibt es zunächst keine Regeln für das gemeinsame Leben und Lernen: diese Strukturen müssen erst gemeinsam entwickelt bzw. gefunden werden – und zwar dann, wenn sie wichtig werden.

 

Demokratie ist zusammen leben und lernen lernen ...

Wie hat es angefangen – und was ist draus geworden? Erfahrungen aus der Praxis zur Diskussion ...

Da kamen die Kinder dann irgendwann voller Stolz von der gemeinsamen Einschulungsfeier in die Klasse, gespannt und neugierig auf das, was sie nun als frischgebackene „Schulkinder“ erwarten würde. Da sich die Kinder direkt in der Klasse wohlfühlen sollten, hatte ich die Klasse schon eingerichtet, obwohl ich das gerne erst mit den Kindern zusammen gemacht hätte: Da gab es in einer Ecke einen festen „Sitzkreis“, viele Kisten mit Sach- und Geschichtenbüchern, eine Buchstabentabelle, mehrere alte Computer und einen Menge an Papier und Stiften. Da ich mich dann eher unbeteiligt auf einen der ringsum an der Wand aufgestellten Tische setzte, nahmen die Kinder die Klasse schnell selber in Beschlag. Ein paar machten Gebrauch von den großen Blättern Papier, legten sich auf den freien Klassenboden und fingen an Bilder zu malen. Andere schrieben (nein, „malten") ihre Namen auf. Wieder andere irgendwelche Zahlen. Einige guckten den anderen nur zu. Eine kleine Gruppe stand vor der Buchstabentabelle und erklärte sich gegenseitig, was es damit wohl auf sich haben könnte. Da sich die meisten Kinder noch nicht kannten, trafen wir uns dann irgendwann im Sitzkreis und stellten uns einander vor. So fing alles an. Mit einem Lehrer, der nichts zu tun hatte, außer ansprechbar zu sein. Und Kindern, die ganz schnell ganz viel lernen wollten. In „ihrer“ Klasse und auf ihre Art.

Nun, um es kurz zu machen: Die nächsten eineinhalb Jahre wurden ziemlich chaotisch, denn wir entwickelten die Regeln für unser Zusammenleben in der Schule gemeinsam. Vorgaben gab es nicht, aber – wenn der Bedarf geäußert wurde - gemeinsame Überlegung zur Lösung von Problemen. Schnell bildete sich allerdings eine Tagesstruktur heraus, die ungefähr folgendermaßen aussah:

Nach dem offenen Anfang ruft der alle zwei Tage wechselnde „Kreischef“ die Kinder in der Sitzecke zusammen, um einen gemeinsamen Austausch zu ermöglichen. Er fragt nach, ob jemand „etwas Wichtiges zu sagen hat“. So können Kinder oder Lehrer Anliegen vorbringen, Ideen loswerden oder Termine für gemeinsame Unternehmungen absprechen. Nach dieser Runde sagt jedes Kind vor dem Gang aus dem Kreis, was es jetzt tun will: B. möchte schwierige Rechenaufgaben angehen, S. möchte in ihrem selbst verfassten „Bibi-Bloxberg-Buch“ weiterschreiben, K. möchte mit M. einen Vortrag über das Kriegsgeschehen im Nahen Osten vorbereiten und W. und H. an ihrer Wetterstation weiterbauen ... Und im Nu sind alle in der Klasse und auf dem Schulgelände verteilt und mit ihren Vorhaben beschäftigt.

Aufbauend auf ihren eigenen Ideen und denen der anderen haben sie genug Anregungen für sinnvolle Lerntätigkeiten gefunden – denn Lernen steht bei ihnen hoch im Kurs. Da die gewährte „Offenheit“ Grundprinzip des Unterrichts ist, haben die Kinder keine Zeit, dem Lernen aus dem Weg zu gehen. Dazu ist die mitreißende Ausstrahlung der anderen Kinder, die ihren Aktivitäten in der Regel sehr engagiert nachgehen, zu groß. Natürlich arbeiten nicht alle Kinder die ganze Zeit auf vollen Touren, aber die Phasen, in denen sie dann „herunterschalten“, erscheinen als notwendige Zeiten der Entspannung und Vorbereitung auf nächste Intensivphasen. Zeit, um Aufgaben „abzuarbeiten“ oder „abzuerledigen“ hat hier wirklich niemand.

Nach der „Rausgehpause“ wird meist auf Bitte einiger Kinder ein „Vorstellkreis“ einberufen, in dem Geschichten vorgelesen, Vorträge gehalten oder Mathematikerfindungen präsentiert werden. Wer lieber an seinen Sachen weiter arbeiten möchte, spricht das mit dem Kreisleiter ab. Je nach Notwendigkeit fragt dieser die Kinder vor dem Verlassen des Kreises noch einmal nach ihren Vorhaben für die zweite Hälfte des Tages. Neben dem Weiterführen der morgens begonnenen Arbeiten sind durch die neuen Anregungen weitere Kleingruppen entstanden, die sich direkt im Anschluss an den Kreis intensiver mit einer Sache auseinandersetzen wollen.

Nach der darauf folgenden Arbeitsphase und rechtzeitig vor Ende des Schultages findet dann der sogenannte „Schlusskreis“ statt, in welchem sich die Kinder noch einmal Sachen gegenseitig präsentieren und dann der Reihe nach kurz berichten, mit was sie sich am Tag beschäftigt haben. Dabei bewerten sie ihre eigene Leistung mit einem selbst erdachten System, das von „Super“ und „OK“ über „ich hätte heute mehr schaffen können“ bis hin zu „war heute nix los mit mir“ geht. So gehen Würdigung der Leistungen anderer und Reflexion der eigenen Leistung ineinander über – ohne normativen Druck von außen, denn ob jemand arbeitet oder nicht, bleibt letztendlich ihm selbst überlassen.

 

Demokratie ist das Zulassen individueller Strukturen in einer Gemeinschaft ...

Ein demokratiefördernder Unterricht ist ein Unterricht, der die Selbstregulierung des Einzelnen ermöglicht. Kindern muss dadurch eine ehrliche Auseinandersetzung mit sich und der Gemeinschaft ermöglicht werden. Es darf nicht versucht werden, sie mittels einer trickreichen Erziehung zu schon vorher festgelegten Zielen wie Harmonie, Hilfsbereitschaft, Ordnung usw. hinzuführen, sondern man muss sich zutrauen, 30 Individuen auch 30 Individuen sein zu lassen. Das, was der Unterricht dazu bieten kann, ist die Möglichkeiten des Setzens eigener Ziele innerhalb eines stützenden Rahmens. Eines Rahmen, der selbst mitbestimmt wird. Dabei ist klar, dass das, wozu ich mich als Schüler oder Schülerin aus mir selbst heraus entscheide, die größten Chancen auf Erfolg und Engagement hat.

Das gilt sicherlich in hohem Maße für den kognitiven Bereich der Wissensaneignung, aber in höchstem Maße für den Bereich der Erziehung zur Demokratie, d. h. das Anerkennen von Regeln, das Achten anderer Menschen, die eigene Disziplin, das Entwickeln einer „emotionalen Intelligenz“. Genau wie ich Buchstaben, Zahlen, ja sogar Schreib- und Rechentechniken einfach unverstanden auswendig lernen kann, genauso kann ich eine Demokratieerziehung über mich ergehen lassen, die mich in keiner Weise berührt bzw. nur dazu führt, mich in einem bestimmten Umfeld „sozial“ zu verhalten, sobald ich dieses aber verlasse, auch die ganze Erziehung hinter mir zu lassen - ein Problem, das oft in entsprechend „sozial trainierten“ Klassen auffällt. Kaum, dass die leitenden Strukturen oder die herrschenden „Autoritäten“ wegfallen oder aufgebrochen werden, scheint auch das über die Jahre „anerzogene“ Verhalten weg zu sein. In unserer Klasse gab es eine Akzeptanz eines jeden Kindes in der Gemeinschaft in der Weise, als dass es im Prinzip eine größtmögliche Freiheit besaß, die aber da zu Ende war, wo sich jemand anderes gestört fühlte. Es war keine „indifferente“ Akzeptanz nur um der Harmonie willen. Jeder wurde so genommen wie er war, und ihm wurde dabei nichts beschönigt. Die Gemeinschaft funktionierte in gewisser Weise wie ein freiwilliger Spiegel, den man nutzen konnte, wenn man wollte bzw. wenn man es herausforderte, und der dann sehr ehrliche Antworten gab.

Es war faszinierend mitanzusehen, wie scheinbar „unkontrollierbare“ oder „verhaltensauffällige“ Kinder das annahmen, was andere Kinder ihnen sagten, ihnen aus der Situation heraus vorschlugen. Wie sie anfingen zu reflektieren, mitzureden, Gegenfragen zu stellen, sich selber und ihre Position ergründeten. Und nicht in einem psychologisierten Gespräch wie es ein großer Teil der Kinder aus Spieltherapie oder anderen „Fördermaßnahmen“ gewohnt war. Die Kinder erreichten dabei in Kürze das, was die Professionellen alle nicht erreicht hatten. Nur weil man ihnen den Raum gab, Probleme dann zu lösen, wenn sie auftauchten, und Zusammenhänge dann zu reflektieren, wenn sie individuell wichtig wurden. Und weil man dadurch nicht sie selbst abstempelte, sondern eine Situation durchschaubar zu machen versuchte. Die Heterogenität der Klasse, die Auffälligkeit einzelner Kinder, die vielfältigen Situationen in einem Unterricht ohne Unterrichten, sie alle trugen dazu bei, Demokratie als Schutz der individuellen Rechte des Einzelnen zu verstehen – und nicht als gesichtslose Verordnung einer Gemeinschaft.

Neben den positiven Entwicklungen, die wir in Bezug auf verhaltensauffällige Kinder zu verzeichnen hatten, die als eigentlich nicht an der Regelschule beschulbar galten, war auch die Leistungsentwicklung der derart selbstgesteuert und selbstverantwortlich lernenden Kinder beeindruckend. In den zur Leistungsmessung durchgeführten Normtests lagen die Kinder, die über ihre Grundschulzeit hinweg in der Klasse waren, in allen Bereichen hochsignifikant über den Mittelwerten der Eichstichproben, oft sogar als Durchschnittswert schon im oberem Bereich (PR 75-100). Entsprechend wechselten trotz der durchschnittlichen Voraussetzungen bei der Einschulung drei Viertel dieser Kinder nach der Grundschulzeit auf das Gymnasium, kein Kind wurde auf die Hauptschule überwiesen. Zudem weisen die geringen Streuungswerte in den Erhebungen darauf hin, dass der Unterricht nicht bestimmte Kinder- oder Leistungsgruppen benachteiligt hat. Selbst die schwächsten Kinder, die ihre ganze Grundschulzeit in der Klasse verbracht haben, erreichten Werte, die nicht im untersten Leistungsbereich lagen. Das hohe Durchschnittsniveau, welches die Klasse erlangt hat, ging also nicht zu Lasten der schwachen Kinder. Vielmehr erschien es so, als ob die Leistungen aller Kinder nach oben verschoben worden wären – und zwar in der gesamten Breite (vgl. Peschel 2003, i. V.).

 

Vielleicht helfen die positiven Ergebnisse dieses Unterrichtskonzepts, dass wir das Praktizieren von Demokratie in der Schule nicht mehr isoliert als ein einzelnes Element politischer Bildung betrachten, sondern als das Erkennen, was es ist: der Schlüssel zu einer effektiveren und gleichzeitig humaneren Gestaltung von Schule. Einer Gestaltung von Schule, die mehr ist als ein bisschen mehr „Schülerorientierung“. Einer Gestaltung von Schule, die den Lernenden die Erfahrung von Autonomie, Kompetenz und sozialem Eingebundensein ermöglicht. Einer Gestaltung von Schule, die die demokratischen Rechte des Einzelnen auch in einem der letzten gesellschaftlichen Tabubereich wahrt ...

 

 

Falko Peschel hat das in diesem Beitrag angesprochene Konzept u. a. in seinen Büchern zum „Offenen Unterricht“ (Peschel 2002a&b) ausführlich und mit vielen praktischen Beispielen dargestellt. Mittlerweile liegt auch eine umfangreiche wissenschaftliche Evaluation seines Konzepts vor – mit beeindruckenden Ergebnissen im Hinblick auf die allgemeinen Ergebnisse des Unterrichts, aber vor allem auch die integrative Förderung von Kindern, für die eigentlich ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorgesehen war (Peschel 2003).

 

Literatur

Brügelmann, H.: „Öffnung des Unterrichts“ aus der Sicht von LehrerInnen. OASE-Bericht Nr. 3 und Nr. 3a. Universität Siegen 1996/1997

Brügelmann, H./ Brinkmann, E.: Die Schrift erfinden. Lengwil, Libelle 1998

Deci, E. L./ Ryan, R. M.: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik. Heft 2/93. Weinheim, Beltz 1993, S. 223-238

Gervé, F.: Freie Arbeit in der Grundschule. Eine praxisbegleitende Fortbildungskonzeption zur Steigerung der Innovationsrate. Dissertation. Karlsruhe 1997a

Gervé, F.: Zur Praxis der freien Arbeit in der Grundschule. Situationsanalyse zur Entwicklung einer innovationswirksamen Fortbildungskonzeption. OASE-Bericht Nr. 39. Universität Siegen 1997b

Hanke, P.: Pädagogik und Didaktik des Schriftspracherwerbs in Theorie und Praxis. Auszüge aus der Habilitationsschrift. Universität Köln 2001

Peschel, F.: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Teil II: Fachdidaktische Überlegungen. Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren 2002a&b

Peschel, F.: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept in der Evaluation. Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren 2003 (i. V.)

Spitta, G.: Sind Sprachbewusstheit und Sprachbewusstsein dasselbe? Oder – Gedanken zu einer vernachlässigten Differenzierung. In: Deutschdidaktische Perspektiven. Bremen 2000

Wagener, M.: Sind Lehrerinnen, die verbal beurteilen, reformorientierter? In: Valtin, Renate u. a.: Was ist ein gutes Zeugnis? Weinheim, Juventa 2002, S. 101-112

Zehnpfennig, H./ Zehnpfennig, H.: Was ist „Offener Unterricht“. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Schulanfang. Ganzheitliche Förderung im Anfangsunterricht und im Schulkindergarten. Kapitel 5.2: Basis „Offener Unterricht“. Soest, Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 1992, S. 46-60

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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