Walter Hövel
Maddam und Musjö „Frei-Net“
Es ist natürlich der pure Zufall, dass sich der Name von Elise und Célestin Freinet aus dem deutschen Wort „frei“ und dem englischen „net“ zusammensetzt.
Da sind der freie Ausdruck, der freie Text, das freie Fragen. Da sind die gesamten Freiheiten der Ästhetik, der Literatur, der Sprache, des Denkens und der Vielfalt der Menschen. Da ist das Mittel des eigenen freien Lernens. Da sind das freie Experimentieren, die Freiheit Fehler machen zu dürfen und das freie Forschen. Da ist das freie Tasten und Versuchen. Da ist die Befreiung der Schule des Volkes durch ein anderes Lernen, durch das Abgucken der natürlichen Methode. Da sind die Freiheit eines demokratischen Lernens. Da ist die Freiheit Kinder zum Konzept zu machen und nicht das Konzept zum Kind zu bringen.
Das „net“ finde ich auf der anderen Seite des Wortes. Da sind die Netze dieser Befreiungen, die Vernetzung der Menschen zu immer mehr Menschenrechten. Da ist die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Kooperation zum Voranbringen der Bildung und zum guten Leben aller. Da sind die Ateliers, die die Themen der Welt, das Fühlen, das Erkennen, die Erkenntnisse und Kenntnisse der Menschen und ihre gemeinsamen Kompetenzen. All das zieht mich an wie die Motte das Licht.
Mein Weg im eigenen Frei-Net
Als ich 1982 meine erste Freinetfortbildungswoche besuchte,
gefiel mir keines der Angebote. Ich ging in eine Gruppe von „Revoluzzer*innen“ und lernte hier von Toni Lane, Monika Bonheio und Ute Geuß meine ersten Techniken zum Schreiben Freier Texte. Hier
traf ich unter anderem Paul le Bohec als Referent, und eine Zukunfts-Theater-Tanz-Gruppe eines Herrn Mühl1.
Ich fand heraus, wie dieses Freie Schreiben aus dem Kreis und Klassenrat sich zum eigenen Ausdruck und dann zum individuellen kooperativen Lernen entwickelte. Ich spürte, dass die Beherrschung und Benutzung von eigener Sprache in ein auch neues Denken und Handeln von Schichten- und Klassenüberwindung führte. Ich lernte das Denken und Schreiben zu lieben.
Ich lernte, dass es Menschen gibt, die versagen, immer wieder heulen, nicht wollen oder können, etwas anderes wollen, oft nicht wissen was sie wollen, nicht viel aushalten, sich für dumm oder unfähig halten. Ich traf ältere und sehr junge Menschen, die trotz bester psychologischer Betreuung, nicht in unsere Gesellschaft fanden. Einige brachten sich um, andere wurden „arbeitsunfähig“ depressiv, eigen oder „gestört“ - oder sie waren „erfolgreich“. Wissen sie, wie ich sie bewundere! Wissen sie wie ich sie schätze, mutig darin finde, wie sie ihren eigenen Weg gehen, stehenbleiben oder tanzen.
Wie sagte kürzlich jemand zu mir: „Eigentlich bist du mit deinen spleenerten Ideen und deinem unmöglichen Wollen der geborene Loser. Aber irgendwie setzt du dich durch.“ Wer weiß denn, ob es mir gut damit geht wie ich bin?
Ich lernte an staatlichen Grund- Haupt- und Gesamtschulen durch die Selbstfindung der Kinder und Jugendlichen mich als Lehrer, Lerner und Mensch zu befreien. Ich lernte zunehmend weder mich selbst noch die Lernenden zu konditionierten und domestizierten. Ich lernte mit Unvermögen und Fähigkeiten, mit Stärken, Schwächen und Durchschnittlichkeiten, mit mir selbst und manchmal sogar der Welt umzugehen.
Heute, nach 70 Jahren Lernen als Lerner und Lehrer, weiß ich, dass Lernen ganz anders geht als Bildung oft will, erst recht ich es wollte. Ich weiß, dass ich aus dem mir Angebotenem, dem mir Verständlichem, mein Eigenes erschaffe. Ich weiß, dass ich die Zeit konstruierend von diesem Zeitgeist gemacht werde. Neues und Altes kreiere ich in der Regel aus bereits Vorhandenem.
Ich lernte, wie Menschen sich mit oder ohne ihre Krankheiten, Überforderungen und Ablehnungen immer zur eigenen Systemveränderung durchsetzen.
Zukunft gestalten?
Oft muss ich an meine Großeltern und Eltern denken. Sie wussten nicht, wie Pferdefuhrwerke plötzlich als Autos fuhren. Woher die Elektrizität kam, die ihre Lampen leuchten ließ. Woher kam das Plastik, das wir noch im eigenen Ofen verbrannten? Was machte den E-Herd, Kühlschrank, die Waschmaschine, die Geschirrspülmaschine, das Telephon, den Fernseher, den Computer, Whatsapp oder Instagram möglich? Sie verstanden das Denken und Fühlen ihrer Kinder, und diese das ihrer Kinder nicht. Sie kapierten nicht, dass Zeit in Nanosekunden ablief, Kinder nicht mehr geschlagen, Fremde nicht mehr ausgegrenztwurden, Abfälle oder Autos die „Um“welt belasteten, Kinder Widerworte geben oder Jugendliche immer mit ihrem Handy spielen wollen.
Ich musste beobachten, dass die Verunsicherung von Eltern und Kindern immer dazu genutzt wurde Bildung zu ökonomisieren und an den Mittelschichten orientiert zu ideologisieren. Und heute sind die Klienten nicht nur über Hunger, Dummheit oder alte Ideologien erreichbar, sondern über möglichst frühe „Bildung“ und elektronische Medien viel schneller und direkter.
Das Netz ist blitzschnell2. Netz-Firmen wollen nicht zuerst Demokratie, sondern ihren eigenen Verdienst. Mächtige und Industrie wollen zuerst Bildung für eigene Interessen durchsetzen. Sie selektieren, nutzen die feudal-autoritäre Macht der Lehrkräfte und geben die zu behandelnden Themen bis heute vor. Sie dirigieren ihre Vorstellung von Bildung durch ihre Stiftungen und Firmen. Sie kaufen Wissenschaften oder verlassen sich auf den vorauseilenden Gehorsam ihrer Angestellten und Beamten.Sie haben ein neues Bildungssystem neben der Schule durch Konsum, Werbung und elektronische Medien.
Die Geldmächtigen bestimmen, welche Informationen und Meinungen in jeden Haushalt transportiert werden. Abermillionen werden in Kitas und Schulen als Mittel zur Ökonomisierung und Elektronisierung über Stiftungen, Schulbuchverlage, Haushaltsmittel und außerschulische Bildung gesteckt.
Viele Eltern suchen „Reformschulen“ als Reparaturanstalt für ihre Kinder. Nun wird aus dem ganzen Bildungssystem eine Reparaturanstalt gemacht. Die Tendenz zur Selbst- und Fremdreparatur der menschlichen Psyche wächst. Die Kinder werden diagnostiziert, um sie dann zu fordern und zu fördern. Da gibt es Bewegungstherapien, Konzentrationsschwächeärzte, Dyskalkuliezentren, Nachhilfe, Logopädie, Förderfachleute und Förderschulen, Elternberatung, Beratungsfachkräfte, „internationale Klassen“, und, und, und. Die Kinder und Jugendlichen von heute werden lernfähiger zum Funktionieren in verbesserten Berufen, in ihren arbeitslosen Warteschleifen oder Abschiebebahnhöfen.
Selbst der Begriff „Freiheit“ wird missbraucht als „Freiheit“ der Industrie, der 'freien Marktwirtschaft', des 'freien Unternehmertums', des Krieges, der Umweltausbeutung, der 'Meinungsvielfalt' der Presse, der Manipulation Andersdenkender, des Hausbesitzes, der Rechten und „Libertären“. Sie fordern ihre „Freiheit“ des Nationalismus, des Rassismus, gegen Frauen, Kinder, Fremde und Linke, die Freiheit der Herrenmenschen. Sie wollen das Verständnis ihrer „Freiheit“ als Unterwanderung jeder Schulbank und jedes Kinder- und Menschengehirns. Sie nennen sich sogar „Freiheitliche“ und fordern die „Freiheit gegen die Freiheit“.
Sie lügen im Namen von Freiheit als Autoindustrie, Bank, als Werbung, der chemischen und elektronischen Industrie und vieler ihrer globalen und regionalen Firmen. Sie wollen die Bildung aller zu ideologischen Mittelschichtlern in ihren Schulen, um Armut wieder erduldbar zu machen.
Sie rüsten auf zu einem nächsten, ihrem vielleicht letzten Gefecht gegen die stetige Erstarkung friedlichen Daseins, Armut und Verdummung ablehnender Kräfte. Sie werden wieder verlieren, weil der Wille zur menschlichen Freiheit stärker ist.
Heute
Die Abschaffung von Armut ist das zentrale, nicht zu lösende Problem unserer Zeit. Armut trennt uns in wenige Reiche, in reiche Nationen und
das weltweite Riesenheer der verarmten Frauen, Männer und vor allem Kinder. Unsere Gesellschaftsordnung kann und will (!) dies weder ökonomisch, gesellschaftlich noch denkerisch beseitigen.
Demokratie, Inklusion und Menschenrechte brauchen aber eine Ordnung für alle.
Heute stehen sehr uneinheitliche Menschenrechtler einer sehr uneinheitlichen Rechten gegenüber. Die Mehrzahl der pro-kapitalistischen Kräfte steht
eigen-konsequenterweise in großen Teilen auf Seiten der immer weitergehenden Erschließung der kapitalistischen Nutzungsbedingungen, also auf Seiten einer Rechten.
Denkende Menschen begreifen, was gerade passiert. Hierzu zählt zum
Beispiel Klaus Klemm, deutscher Soziologe: „Kindertagesstätten und Schulen bauen die Spaltung in Gewinner und Verlierer nicht ab, sondern verfestigen
sie.“
Was wir nicht wiederholen sollten
Ein Herr Freinet griff um 1920 zum Entsetzen seiner Frau zu einem Gewehr und schoss auf den Herrn Bürgermeister
seiner Gemeinde. Zum Glück traf er nicht Er musste aber aus dem Staatsdienst ausscheiden und eine „freie Schule“ gründen, die vor kurzem nach fast 100 Jahren (!), wieder verstaatlicht
wurde.
An der Freinetschule in Vence wurde
eine „Freinetpädagogik“ entwickelt, die, ob die Akteure wollten oder nicht, den Gedanken der Entwicklung von gesellschaftlicher Kooperation und der Forderung nach einer neuen modernen Lernen des
Volkes vorantrieb.
Es geht um das Weiterdenken, darum, das Neue zu begreifen. Nicht nur französische Kolleg*innen verbeutelten Freinetpädagogik zu einer angepassteren Form
der „Institutionellen Pädagogik“.
Deutsche
„Fortschrittfreinis“ und selbst ernannte „Individualisten“ vergaben manche Chance der demokratischen Umgestaltung der Bildung. Viele beschäftigten sich lieber mit sich selbst oder den
eigenen Problemen. Einige machten auch lieber Karriere oder gaben schlicht auf.
Modernität wird heute gerne missverstanden als Elektronisierung des Wissens, psychologische Reparatur von Lernenden und Rückzug in eine ökonomisierte Bildungsentwicklung. Wir werden begreifen müssen, dass Menschen nicht in einem Zwangssystem Kita, Schule oder Hochschule lernen werden. Lernen geht auch anders als die Freinets dachten, als sie zur Rettung eines staatlich verkommenen schulischen Lernens eine „natürliche Methode“ des Lernend anboten! Entweder wird eine Linie des freien Schulen obsiegen oder - wider alle Erwartungen - gelingt eine gesellschaftliche Veränderung der Schulen oder es wird eine ganz neue, heute unbekannte Lösung geben.
Unser Weg
Eine Radikalisierung unserer Vorstellungen kann nur – wie es Antonio Gramsci schon 1943 erkannte – über den Weg der
Anerkennung der individuellen Rechte jedes Menschen gehen. Es wird nicht über Gewalt gegen Minderheiten oder Uneinsichtige gehen. Wir werden uns selbst so ernähren und bilden, die Welt so
nachhaltig schützen und lieben lernen, dass es weiter Menschen gibt, die ihrem eigenen Ziel einer Vermenschlichung folgen.
Der Weg dorthin wird unendlich lang und ganz anders sein, wie wir ihn uns vorstellen. Wer so etwas fordert wie ein Gandhi, ein Mandela, ein Luther King oder ein John Lennon ist kein Spinner. Wir haben keine andere Chance. Sonst gehen wir unter. Es ist der einzig denkbare Weg des Lernens und Überlebens.
Die heutigen Freinetmenschen können diesen Weg in ihrer Klasse, in ihrer Familie, in ihrer Kita oder Schule, in ihrem Leben gehen. Andere werden es anders tun. Die Fortsetzung der ersten 200 Jahre einer Entwicklung von Menschen zu Menschen wird anders sein als die 10.000 Jahre zuvor.
Es ist der Weg von Freiheit und zusammen wirkenden Menschen im eigenen freien Netz.
1Herr Mühl war selber gar nicht dabei, und ich begriff erst später, was ich an diesen Leuten nicht mochte.
2 Der Name „Blitz“ machte die deutschen Nazis zunächst zum Sieger in den Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Hitler und seine Regierung rüsteten die Deutsche Reichswehr mit 20.000 LKWS des Typs „Opel Blitz“ aus. Daher waren sie so schnell im mordenden Vorstoß ihrer Angriffe, und zunächst allen Gegnern überlegen. Nach ihrer Niederlage wurde die Firma „Opel“ den US-Amerikanern übergeben. Der Blitz blieb aber, in der englischen Sprache und im Logo.