Walter Hövel
Schulsport
Immer noch nicht schneller, höher und weiter

 

Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.
Bertolt Brecht

 

Als ich 1960 gerade einmal 12 Jahre alt wurde, gab es an „meiner“ Schule, wie an anderen Schulen auch, zwei Stunden Sport a 45 Minuten minus Umkleidezeit. Die Lehrer –schon seit zwei oder drei Jahrzehnten im Schul-dienst - sagten damals, dass ein deutscher Junge (und wir waren eine „reine“ Jungenklasse) „mehr körperliche Ertüchtigung“ brauche.


Der begründende Spruch hieß „Mens sana in corpore sano“. Dieser Satz war eine bösartige Falschinterpretation dessen, was der römischen Dichters Juvenal[1] viele Jahrhunderte zuvor sagte.

 



[1] Vergleiche: https://neueswort.de/mens-sana-in-corpore-sano/

 

Die Sportstunden „meiner“ Schule wurden auf den Samstag gelegt, womit die Lehrerschaft (auch sie war „rein“ männlich) vielen besorgten Eltern entgegen kam. Wie heute fürchteten sie, dass der „Stoff“ der Schule zu kurz käme und ihre Sprösslinge nicht genug lernten. Da sie seit Kaisers Zeiten im Sportunterricht auch das Handgranatenwerfen, Strammstehen und Riegenturnen gelernt hatten, wollten sie trotzdem, dass es ihre Kinder einmal besser hätten. Und das ging für sie natürlich über das Lernen in der Schulbank, wie es seit Bestehen der Schule schon ihre Urgroßväter predigten.

 

Much Ado About Nothing?
Als ich 1985 Schulleiter wurde, standen immerhin 3 Sportstunden pro Woche in der Stundentafel. Aber keine, wirklich keine Schule der Umgebung hatte mehr als zwei Stunden Sport im Stundenplan. Dafür gab es im dritten Schuljahr „Schwimmen“. Fakt war, dass alle diese Stunden gerne ausfielen. Auch ließen Kommunen die Sporthallen und Schwimmbäder ungeniert in der Schulzeit „stilllegen“, wenn sie renoviert oder repariert oder für Feste oder Vereine „genutzt werden mussten“.

Sie klagten alle lauthals, dass sie ja gerne mehr Sportstunden zur Verfügung stellen würden, aber „die Finanzminister regierten“, es stünden „zu wenig kommunale Sportkapazitäten für all die Vereine und Schulen zur Verfügung“ oder „das leider schon immer so“ gewesen sei.

Hinzu kam und kommt, dass Schulleitungen sehr schnell Sportstunden im Krankheitsfalle der Lehrkräfte ausfallen lassen: „Ich kann doch keinem Kollegen zumuten sich für die Sportstunde einen Trainingsanzug anzuziehen“.

Dabei ist „Sport“[2], so etwas von unumstritten. „Jede Wirtschaft braucht gesunde Arbeitskräfte“. Jedes Sozialwesen spart, je „gesünder die Bevölkerung“ ist. Das Militär ist froh, wenn sie „fitte Menschen begrüßen dürfen“.

Viele Menschen fühlen sich wohl, wenn sie sich bewegen. In den 1980er Jahren begannen Wissenschaften gar den Zusammenhang von Bewegung und Lernen zu entdecken. Keine politische Richtung sprach sich jemals gegen Sport aus, egal ob sie Demokraten, Rechte, Linke, Monarchisten, Nazis oder Kommunisten waren oder sind.

Sie propagierten in der Bundesrepublik Deutschland „Bundesjugendspiele“ und Sportler dienten immer „als Vorbilder für die Jugend“. Doch der frühe Bundeskanzler nahm selbst Sport nicht besonders ernst und spielte lieber Boccia. Weil die in der DDR besser dopten, gab es dort mehr erfolgreiche Vorbilder. Ihr Staatschef gab schon 1959 die Losung aus: „Jedermann an jedem Ort - einmal in der Woche Sport“!

Heute 2017 hat die Kultusministerkonferenz den Sport wiederentdeckt. Sie empfehlen mehr Sport…. Österreich beschließt immerhin eine tägliche Stunde Sport.

In Deutschland herrscht in Bildungsfragen Länderhoheit, die einheitlich so aussieht, dass „Sport“ ein „Neben“fach ist. Und generell gibt es eh nur wenige vergleichbare Länder auf der Welt, das prozentual so wenig für Bildung ausgeben.

Österreich ist auch ein Bundesland, auch hier ist die Bildung nicht erstrangig. Aber traditionell haben Sport, Musik, Handwerk und Textiles einen höheren Stellenwert und es gibt einen staatlichen Bildungsrahmen durch ein entsprechendes Bundesministerium. So gibt es keinen Schulneubau ohne „Turnsaal“.

Nicht nur die von mir im reichen Deutschland geführte Grundschule hatte keine eigene Sporthalle. Es war und ist eine gerne gehandhabte Praxis.     

        

Sport: Opium für das Volk
Percy Clummings

 

Probleme mit dem Sport
Dabei scheint es all überall einen vollkommenen Konsens in Sachen Wichtigkeit des Sports zu geben. Doch mindestens drei Probleme tauchen auf.

Fast alle Schulen, Schulverantwortlichen und Lehrkräfte vernachlässigen den Sport. Sie reden alle dafür, aber handeln dagegen. Die Politik tritt als Förderer des Sports auf. Gleichzeitig unterstützen sie eine hoch ungesunde Nahrungsmittelindustrien, die zur Nichtbewegung herausfordernde Medienpolitik, ein bequem machendes Konsumangebot, ungesunde Luft und Lebensumgebung und psychisch und physisch verschleißende Arbeitsplätze und einiges mehr. Politiker stehen nicht nur im Ruf für die „Reichen“ Geld sie fördernde und unterstützenden Gesetze und Bedingungen zu schaffen.

Und last but not least sind es gerne militaristische und konservative Kräfte, die zuerst für „Sport“ eintreten oder in den Medien „Boxen und Wrestling“ zeigen, wo es darum geht andere Menschen „auszuschalten“, stundenlange Biathlonrennen zeigen, wo es um militärische Ausbildung geht oder möglichst schick gedopt ein Radrennen zu gewinnen.

Nicht zuletzt erleben „Muckibuden“, „Miss-Sporty-Hallen“, Trimmgeräteverkauf oder das „gute sportliche körperliche und modische Aussehen“ ihren Höhepunkt in Werbung und Konsum.

Wie heißt es in England: „Not the Few, but for the Many“.

Und im schulischen Sportbereich klagen dann alle(!), dass ja viel zu wenig passiert. Da sagt ein ministerieller Kenner im Deutschlandfunk: „Und mit der Pensionierung von Fachleuten und im Sport engagierten Schulleitungen verschwinden auch die positiven Beispiele wieder aus unserer Schullandschaft!“ Eine andere beschwert sich zurecht, dass „viel zu wenig und viel zu wenig qualifizierte Sportlehrer*innen ausgebildet werden“.

Und dann die „Spezialisten“ mit dem „Früher-war-alles-besser“, „Ja und die Helikoptermütter“, die bei jeder Bewegung die Verletzung ihrer Kinder fürchten, die Schulmöbelfanatiker, die „Walking-Bus-Fans“ oder die Gegner und Befürworter des Kopftuchs mit und ohne Sport- und Schwimmunterricht. Gerne und viel sollen sie diskutieren, so lange reale Veränderungen in der Praxis nicht bezahlt oder möglich gemacht werden müssen.

 

Was hat Sport mit Demokratie zu tun?
Immer wenn Lernen ohne Schule oder Schule mit menschenwürdigem Lernen gedacht und umgesetzt wird, ist dies ein Lernen in Bewegung. Die Schullandschaft bewegt sich, die Schulen, die Kinder und Jugendlichen, sogar die Lehr- und Ganztagskräfte. Nicht der Erhalt der Verwaltung von Schulpflicht und Schulsystemerhalt als soziale Kasteneinrichtung sollte das Ziel sein, sondern eine Entwicklung der Schule zu einem besseren qualifizierten Lernen.

Dass solch eine Schule – selbst wenn sie von kommunalen Mehrheiten nicht gewünscht wird – möglich ist, hat u.a. die Grundschule Harmonie in ihrer 20jährigen Existenz bewiesen[3].

Diese Schule setzte „den Sport“ in den Mittelpunkt ihres Lernens. Die Kinder, nicht die Erwachsenen, entschieden, wann welches Kind wie viel Bewegung brauchte. Sie konnten zum Lernen und Pausieren, jederzeit ihren Arbeitsplatz verlassen, im Klassenraum, im Schulgebäude und im sehr weit läufigen Schulgelände. Sie stellten zum Lernen ihre Stühle und Tische vor die Klassen. Jede Klasse hatte einen eigenen Zu- und Ausgang nach draußen. Sie lasen im Gehen oder beim Schaukeln, sie schrieben im Gras liegend oder auf dem Holzstamm sitzend. Sie waren im Forum auf den Treppen, auf der Theaterbühne, im Hochsitzhäuschen, auf dem Fußboden oder saßen auf großen oder kleinen Stühlen und Sesseln.

Sie fuhren Rad und Roller. Sie lagen in großen Rollen, die einst Teppiche beherbergten. Sie gruben und pflanzten im Garten. Sie kletterten auf Hochbetten, Hügel und Bäume. Sie pumpten Wasser, schnitzten Hölzer und zerhämmerten Steine. Sie erprobten Feuer, Bachläufe, bauten Mauern und Ruinen.

Niemand sagte ihnen, dass sie in „ihrer Schulbank sitzen müssen“. Sie gingen im Schulgebäude wie in einem Dorf herum. Sie liefen im Schulgelände. Sie waren auf den Wiesen, dem kleinen Sportplatz, im „Verbotenen Wald“, auf Brücken, in Sandkisten, auf Bäumen oder balancierten auf Baumstämmen.

Sie lagen nichts tuend auf der Wiese, sie balgten oder spazierten und striffen durch das Schulgelände oder ihr Gebäude.

Das Spielen und Bewegen, vorher Pause von Arbeit, wurde Bestandteil des Lernens selbst. Sie fuhren mit kleinen Tretautos, saßen in Kullerkegeln oder bewegten sich auf ihren Einrädern. Sie druckten, drehten Filme, spielten alle erdenklichen Spiele, steckten Logix und Lego zusammen und bauten hohe Türme aus Kapplasteinen. Sie erfanden und bauten eigene Spiele, sie bauten Hütten und spielten Fangen und Verstecken.

Sie lagen messend, schreibend und malend auf den Bäuchen. Sie versteckten sich zum Arbeiten in Büschen. Sie bewegten sich. Sie bewegten sich selbst, sich selbst entscheidend, die eigene Entscheidung lernend. Bewegung war Bestandteil ihrer Bewegungs-Freiheit die zu ihrer Selbstverantwortungs-Freiheit wurde.

Und all das taten sie nicht nur in den Pausen. Sie taten es immer. Der ganze Körper lernte im Leben in einer Schule, die täglich 5 bis 10 Stunden dauerte.

Nicht die Absicht der Erwachsenen ihre Kinder flinker, härter, zäher, gesünder, schlanker oder ausgeglichener zu machen führte in die Bewegung, sondern das individuelle Bedürfnis des Menschen sich zu bewegen, sich selbst und die Welt zu erkunden. Versammlungs-, Bewegungs-, Spiel- und Lernfreiheit sind der Kern gelebter Demokratie.

 

Nutzung der Sporthalle
Zum Inneren des Gebäudes, zu Schulgelände und Minispielfeld kamen die traditionellen Sportstunden. Leider hatten wir keine eigene Halle, die wir selbst als Lern- und Bewegungsraum integrieren konnten. Wir mussten mit dem Bus zur weit entfernten Sporthalle gefahren werden.

Dies hätte für uns im Regelfall bedeutet, dass vielleicht 60 Minuten Sport in der Halle übrig geblieben wären. Da es sich um eine große Halle handelte, griffen wir zu einem einfachen Trick. Wir fuhren mit zwei Klassen gleichzeitig und zwei bis drei Erwachsene begleiteten die Kinder. So hatten wir weit über zwei volle Zeitstunden für jedes Kind, also die im Plan vorgesehene Zeit von drei Sportstunden.

 

Die Sportstunden
Die Sportstunden folgten einem Muster, das dem sonstigen Lerntag sehr ähnlich war. Nach einem ersten ruhigen oder langsamen Ankommen, bei anderen Austoben in der Halle, setzten wir uns in den Kreis auf den Hallenboden. Ein Kind leitete den Kreis und es wurde abgesprochen, was in der Folgezeit stattfand.

War Balltag, gingen einige bei besserem Wetter zum Fußballspielen raus, andere spielten Basket- oder Volleyball, wieder andere Hockey oder Ballfangspiele. An den anderen Tagen wurden die „Burg“ aus vielen Geräten, die „Sprungschanzen“, die „Kegelbahn“, die großen und kleinen Mattenschaukeln, die Rollbrettrennbahnen oder auch ganz klassisch, Reck, Barren oder Böcke aufgebaut. Es gab das Schwingen an den Seilen, das Klettern an der Stange oder das Rennen in der Halle.

So etwa alle zwei Monate wurde die Halle zu einem Parcours aufgebaut. Hierin konnten die Kinder sich bewe-gen, herumtollen und Angebote der Stationen, anderer Kinder oder der Erwachsenen annehmen. Die Stationen-arrangements hießen z.B. „Im Land der Regentrude“, „Eine Reise durch Afrika“, „Über den Dächern von Paris“ oder „Zirkus in der Stadt“.

Der Abschluss bestand aus mehreren Teilen. Immer wurde ein gemeinsames neues oder bekanntes Spiel mit allen gespielt. Diese Spiele, mal von Kindern, mal von Erwachsenen angeboten, hatten fast immer kooperativen Charakter. Es gab die „Schlaue Jagd“, den „Ausbruch aus den Gefängnis“ oder die „Mattenolympiade“. Auch gab es Spiele wie das Drehen und Loslassen der Holzringe um mit den Ohren am Boden die vollständige Ruhe abzu-warten oder den „Pferdekampf“ mit je drei Personen oder das „Konzentrations- und Reaktionsspiel“.

Es folgte die Phase, in der alle Kinder das vorführten, was sie Neues erfunden oder erprobt hatte. Am gemeinsamen Abbau aller Geräte beteiligten sich alle. In dieser Zeit benutzte niemand Geräte oder Material um weiterzumachen. Den Abschluss bildete wieder der Kreis, wo ausgewertet wurde, was warum Spaß machte, was warum „gut“ war, wo es Probleme gab und was weiter empfohlen oder wie verbessert wurde.

 

Selbstverwaltung
Gerne nahmen unsere besonders gepflegten „Mädchenteams“ an Fußballturnieren teil oder wir luden einmal im Jahr die Nachbarschule zu einem Turnier mit vielen Teams ein.

Allerdings war immer Sporttag. Stoppuhren, Bälle, Skaters, Einräder, Jonglage, Tücher, Rennautos und Meter-maße waren in den Händen der Kinder. Sie hatten mit oder ohne Hilfe des Kinderparlaments die tägliche Aus- und Rückgabe(!) organisiert. Im großen Konfliktfall gab es eine Versammlung aller Sportmaterialbenutzer. Die gerechte Nutzung des schuleigenen Minispielfelds war auch in Händen der Kinder.

 

Nicht Schwimmengehen sondern Schwimmen lernen
Dem von der Gemeindeverwaltung besonders behinderten Teil, dem Schwimmunterricht wurde sehr früh der Charakter des „Spasstags im Wasser“ genommen. Die Becken- und Zeitquantitäten reichten nicht.

Wir stellten bei den Erstklässlern und sehr vielen Seiteneinschulungen fest, wer schon Schwimmen konnte und wer nicht. Jedes Kind kam in eine Schwimmgruppe, die sie oder er verlassen musste, sobald sie oder er Schwim-men gelernt hatte. Dann kam ein Nichtschwimmer in die Gruppe. So konnte bald bei uns jedes Kind schwimmen.

Unsere „Spasstage“ organisierten wir am nahen Fluss, beim Besuch eines Schwimmbads, im schuleigenen Bad unserer englischen Partnerschule oder in einem Schullandheim, das ein eigenes Schwimmbad anbot.

 

Besondere Events
Wir suchten jede Form von Sport denen anzubieten, die es wollten. Das Draußenlernen wurde groß geschrieben. Fast täglich verließ eine Gruppe die Schule.

Am Abend wurden Fledermäuse beobachtet, jährlich Kröten beim Überqueren der Straße geholfen oder einfach im Wald, an kleinen Wasserfällen oder im Schnee gespielt und geforscht. Wir machten viele Fahrradtouren, ob als Verkehrsunterricht, zur Klassenfahrt oder als Lerntour entlang der Ems. Wir machten Sternwanderungen, eigene Wallfahrten oder eine mehrtägige Wanderung bis zum Rhein. Wir kletterten in Kletterparks, legten „Stol-persteine“ zum Gedenken an die Opfer der Nazis oder machten mit den Kindern weite Reisen nach England, Belgien oder Luxemburg.

Die Schule hatte einen eigenen „Matten-“, einen „Musik-und Theater-„ oder einen „Wald-Ruheraum“. Auch die „Kinder- und Jugendbuch-Bibliothek“, der Kunst- und der „Ausgabe-Raum“, die Druckerei-, oder der Wickelraum, wie das Forum, das Schulgelände, das LehrerInnenzimmer, der Schulleiteraum oder jeder Klassenraum kannten die Bewegung und das sportliche Angebot im ganzheitlichen Lernkonzept.

 

Rennen gefallen mir nicht. Ich gehe lieber zu Flussläufen.
Erhard Horst Bellermann

 

Conclusio
Fallen Sie nicht rein auf Sport fordernde Politiker oder Medienfürsten. Versinken Sie nicht vor Ehrfurcht, wenn es jeden Tag eine Stunde Sport im Plan gibt. Bezahlen Sie nicht so viel für Karateclubs, Muckibuden, Ballett-schulen oder Fußballvereine.

Machen Sie ruhig zum Maßstab, ob Ihr Kind beim Lernen in der Schule stillsitzen muss oder nicht.



[1] Vergleiche: https://neueswort.de/mens-sana-in-corpore-sano/

[2] übrigens ein nichtdeutsches, sondern englische Wort