Walter Hövel
Vom Durststillen der Pferde,
Vom Lernenlernen der Kinder und
Vom Freinetstudieren in Studiengangen
Rede zur Eröffnung des Hochschullehrgangs zur Freinetpadagogik des österreichischen Ministeriums fiir Unterricht und kulturelle Angelegenheiten als Projekt der Europaischen Union durch die Pädagogische Akademie des Bundes in Kärnten in Kooperation mit der Universität Bremen im Janner 2000 in Klagenfurt gehaltem am Ende des Lehrgangs.
Die Geschichte vom Pferd das keinen Durst hat
Der junge Städter wollte sich auf dem Bauernhof nutzlich machen, wo er zu Gast war:
- Bevor ich das Pferd auf das Feld führe, so sagte er sich, werde ich es trinken lassen. Das ist gewonnene Zeit. Wir werden den Tag über Ruhe haben...Aber, was denn! Führt jetzt etwa das Pferd das Kommando? Wie bitte? Es weigert sich, zur Tränke zu gehen und sieht und wünscht sich nur das nahe Kleefeld! Seit wann führen denn die Tiere das Kommando? Du trinkst jetzt gefälligst!
Und der neue Landbewohner zieht am Zügel, geht dann um das Pferd herum und schlägt mit aller Kraft zu. Endlich! ...Das Tier bewegt sich vorwärts...Es ist schon an der Tränke.
- Es hat vielleicht Angst...Wenn ich es streicheln würde?...Siehst du, das Wasser ist klar! Schau her! Mach deine Nüstern nass...Wie? Du trinkst nicht? Na gut!... Und der Mensch stößt unvermittelt die Nüßtern des Pferdes in das Wasser der Tränke. - Diesmal trinkst du! Das Pferd schnaubt und prustet, aber es trinkt nicht. Plötzlich kommt der Bauer mit ironischer Miene hinzu.
- Ach, glaubst du, dass man so mit Pferden umgeht? Weißt du, es ist nicht so dumm wie ein Mensch. Es hat keinen Durst... Du könntest es umbringen, aber trinken wird es nicht. Es wird vielleicht so tun als ob; aber das Wasser, das es geschluckt hatte, wurde es wieder ausspukken...Verlorene Liebesmuh, mein Lieber!... - Wie also soll ich's machen?
- Man merkt, dass du kein Bauer bist. Du hast nicht begriffen, dass das Pferd zu dieser Morgenstunde keinen Durst hat, sondern dass es guten frischen Klee braucht! Lass es sich am Klee satt fressen. Danach hat es Durst, und du siehst es zur Tränke galoppieren. Es wartet nicht darauf, dass du ihm die Erlaubnis dazu erteilst. Ich rate dir sogar, ihm nicht zu sehr in die Quere zu kommen … Und wenn es trinkt, kannst du ihm am Halfter ziehen! So unterliegt man stets einem Irrtum, wenn man sich anmaßt, den Gang der Dinge zu ändern und jemanden zum Trinken bringen will, der keinen Durst hat ...
Erzieher, ihr steht am Scheideweg. Beharrt nicht auf eurem Irrtum einer "Pädagogik des Pferdes,
das keinen Durst hat". Geht mutig und weise den Weg einer "Pädagogik des Pferdes, das zum
Klee und zur Tränke galoppiert"…1
Wir haben in der Geschichte vom Pferd, das keinen Durst hat, ein Kapitel vergessen. In dem Augenblick, als der junge Landwirt, das Maul des Pferdes, das keinen Durst hat, in das Wasser der Tränke stieß, und als - brrr! - das storrische Prusten des Tiers das Wasser in Kaskaden um den Brunnen spritzte, taucht ein Mann auf, der schulmeisterlich erkärt: Aber wechselt doch den Inhalt der Tränke!
Was augenblicklich befolgt wird, denn man sollte - auf höheren Befehl - das Pferd, das keinen Durst hat, tränken. Vergebens. Das Pferd hatte keinen Durst, weder auf trübes, noch auf klares Wasser. Es...hatte...keinen...Durst! Und es tat dies deutlich kund, indem es sein Halfter den Händen des jungen Landwirts entriss und zum Kleefeld trabte.
So ist das eigentliche Problem unserer Erziehung keineswegs - wie man es uns heutzutage gerne weis-machen möchte - der "Inhalt" des Unterrichts, sondern unsere Hauptsorge muss es sein, das Kind durstig zu machen.
Die Qualitat des Inhalts wäre demnach unerheblich?
Sie ist nur für diejenigen Schüler unerheblich, die in der alten Schule darauf abgerichtet worden sind, ohne Durst jedes beliebige Gebräu zu trinken. Wir hingegen haben unsere Schüler daran gewöhnt, zunächst jegliches Getränk als nicht ganz geheuer anzusehen, es zu prüfen und zu untersuchen, sich ihr eigenes Urteil zu bilden und überall eine Wahrheit einzufordem, die keineswegs in den Worten liegt, sondern im Wissen um die richtigen Zusammenhange zwischen Fakten, Personen und Ergebnissen.
Wir bilden keine Menschen, die einen Inhalt - sei er nun richtig oder falsch - passiv akzeptieren, sondern Bürger, die morgen ihr Leben mit Tüchtigkeit und Mut anzupacken verstehen und die verlangen können, dass das klare und reine Wasser der Wahrheit im Becken fließt.
Das Kind durstig machen
Habt ihr schon Gluckenmütter gesehen, die versuchen, ihr Kind zum Essen zu bewegen? Mit dem Löffel in der Hand warten sie darauf, dass der Patient den noch vollen Mund ein wenig öffnet, damit sie die nächste Portion Suppe hinein schieben können...Noch einen für Papa!...Und einen für die Miezekatze! . . . Am Ende läuft es über. Das Kind spuckt seine Nahrung wieder aus, wenn es nicht gar eine Verdauungsstörung bekommt!
Bringt das Kind in ein lebendiges, möglichst gemeinschaftliches Umfeld, das es ihm erlaubt, sich seinen natürlichen Aktivitäten hinzugeben. Es kommt dann hungrig zu den Mahlzeiten oder erscheint schon davor. Das Problem der Nahrungsaufnahme ändert sich in seinem Sinn und Wesen nach. Ihr musst nicht mehr einen schon im voraus verschmähten Brei heimlich hinein schieben, sondern nur ausreichende und wertvolle Nahrung bereitstellen. Der Vorgang des Schluckens und Verdauens ist nicht mehr eure Angelegenheit.
Man tränkt also das Pferd, das keinen Durst hat, überhaupt nicht?
Wenn es sich satt gefressen hat oder schwer arbeitend den Pflug gezogen hat, wird es von selbst zur vertrauten Wasserstelle zurückkehren, und dann konnt ihr ihm am Halfter ziehen, schreien oder schlagen,. . . das Pferd wird so lange trinken, bis es keinen Durst mehr hat und dann zufrieden wegtrotten.
Es sei denn, euer Zwang und die Schläge, die es dazu bringen sollten, an diesem Brunnen zu trinken, hatten eine Art physischen Ekel vor dem Brunnen bewirkt, und das Pferd weigert sich von nun an, das Wasser zu trinken, das ihr ihm anbietet und sucht lieber ungezwungen anderswo die Wasserlache auf, die seinen Durst stillt.
Wenn euer Kind keinen Wissensdurst hat, wenn es keinerlei Lust auf die Arbeit hat, die ihr ihm vorsetzt, ist es auch verlorene Mühe, wenn ihr ihm die Ohren mit den sprachgewaltigsten Beweisführungen vollstopft. Ebenso konntet ihr mit einem Tauben reden. Ihr könnt streicheln, schmeicheln, versprechen oder schlagen, das Pferd hat keinen Durst. Und seid auf der Hut. Durch eure Hartnackigkeit oder eure Brutalität lauft ihr Gefahr, bei euren Schülern eine Art physischen Ekel vor intellektueller Nahrung zu erzeugen, und ihr werdet vielleicht für immer die Königswege blockieren, die zu den fruchtbaren Tiefen des menschlichen Lebens führen.
Macht durstig, auf welchen Wegen auch immer! Stellt wieder Kreislaufe her! Ruft ein inneres Verlangen nach der erwünschten Nahrung hervor. Dann strahlen die Augen, die Münder öffnen sich, die Muskeln bewegen sich. Dann ist Sehnen da und nicht Schlaffheit und Widerwillen. Der Erwerb von Kenntnissen erfolgt von nun an ohne regelwidriges Eingreifen eurerseits und in einem Rhythmus, der mit dem Maßstab der klassischen Schulnormen nichts gemein hat. Jede Methode, die sich anmaßt, das Pferd, das keinen Durst hat, zu tränken, ist bedauerlich. Jede Methode, die den Wissensdurst reizt, und das starke Bedürfnis nach Arbeit anregt, ist gut.
Diese Texte des Herrn Freinet, sind...
...für den einen unwissenschaffliche Metaphern, die ein Bauernsohn sich ausdachte, der Lehrer wurde, der ein früh-grüner Romantiker mit seltsam linken politischen Anspruch war. Für die anderen war er ein genialer Kopf, der in simplen Geschichten erzählt, was Herr Professor und die Erziehungswissenschaften in 20 Büchern und lebenslangen Vorlesungen nicht 'rüberbringt.
Mich schert es wenig, ob er ein altmodischer halbgenialer Unwissenschaftler war, der sich das Beste der Pädagogik seiner Zeit zusammen suchte, um es mit seinen idealistischen sozialistischen Ansichten einer neuen kooperierenden Gesellschaft in Demokratie und Menschlichkeit zu einem Konzept einer pädagogischen Bewegung zu vereinen.
Oder, ob er ein modem-wissenschaftlicher Ganzheitler war, der sich in genialer Intuition hemmender wissenschaftlicher Bildungs- und schulpolitischer Strukturen entledigen konnte, und so nicht nur seiner Zeit voraus war, sondern dessen pädagogische Nachfolger heute noch interessant ist, wenn ein neuer Staat wie die Europaische Union vor mehr als 20 Jahren eine "moderne Schule" für ganz Europa skizzierte, plante und beschloss. Wenn heute die Realisierung dieses politischen Inputs durch die nationalen und regionalen Regie-rungen für die Schulen und Hochschulen ansteht2, ist der Begriff "Freinet" dabei, selbst wenn man noch nicht genau weiß, was er dieser "Schulentwicklung" bringen soll oder kann. Wie wird mit diesem Begriff "Freinet" umgegangen werden?
Ich gehe mit ihm um, wie es bereits die Gründer der österreichischen und deutschen Freinet-Kooperativen taten:
Wir interpretieren ihn für uns, für das, was wir tun. Und wir lassen uns von ihm und vieler seiner Weg-begleiter, wie seiner Frau Elise oder Paul le Bohec, inspirieren. Wir holen bei ihnen ab, was uns gefällt und ignorieren gerne seine Gedanken, die wir nicht brauchen konnen.
Wie etwa jene über das fiir ihn sympathische Krieg-Spielen der Kinder3 oder sein zeitgemäßer Glaube an die Lösung von Wissensvermittlungs- und Lernproblemen Dank "programmierter Bücher" und "unserer Techniken"'* analog zum Glaube an den Sieg des technischen Fortschritts.
Und selbst bei dieser - internen - Kritik, weiß ich nie, ob er selbst bei abstrusen Vorstellungen vielleicht nicht doch recht hat, wir also in unserem Zeitgeistverständnis falsch liegen, oder er eben doch ein Gefangener seiner anarchistisch - bäuerlich - kommunistisch Zeiteinbindungen war, wo es Beschreibungen seines hoch engagierten demokratischen Handelns genau so gibt, wie,Erzählungen von Zeitgenossen, die ihn in die Nähe stalinistischen Verhaltens rücken konnten, wenn sie von Ausschlussverfahren gegen Anders-denkende in der franzosischen Freinetbewegung in der Nachkriegszeit berichten4.
Lieber genieße ich,...
...mit den Dingen so umzugehen, wie er es vielleicht selbst tat. Er war ein Eklektiker, er sammelte zusam-men, was ihm in seine Theorie und Praxis passte, ohne großartig auf die theoretische oder praktische Her-kunft zu achten. Ich genieße eben jene Passagen seiner Texte, die mir gefallen:
Der junge Städter will das Pferd tränken, um Zeit zu gewinnen! Ist dieses Zeitgewinnen nicht
sofort eines der zentralen Probleme unserer Schule, Bildung und Gesellschaft?
Michael Ende schrieb mit Momo zur Methode des Zeitsparens wohl eines der lehrreichsten Bücher des vorigen Jahrhunderts. Freinet braucht zwei Satze, um ein solches Kernproblem aus zu drücken: Wie könnt ihr glauben, ihr würdet in der Erziehung und Bildung von Kindern Zeit gewinnen, indem ihr Kinder vor ihrer Zeit zum Durststillen zwingen wollt?
Denn was anderes versuchen die staatlichen Erziehungs- und Bildungsmonopole Schulen, Akademien , Hochschulen und Universitäten mit Unterricht, Seminaren, Lernstoff, Lehrplänen, Programmen, Prüfungs-ordnungen, Abschlüssen, Profilen oder Studiengängen, wenn sie Gleichschrittigkeit, Vergleichbarkeit oder verpflichtende tragfähige Grundlagen einfordern?
Alleine die wirkliche Beschäftigung in der Lehrerinnenbildung mit dem Gedanken, dass diese Form des zwangsweisen Durststillen falsch sein könnte, wurde Generationen von Lehrerinnen und Lehrern verändern können, wenn er dann verstanden, oder zumindest erahnt würde. Wenn sie,Unterricht weiterhin als Ver-mittlungsstätte von sterilen Lernstoffen planen, anstatt die Kinder in ihrem Lernen professionell und liebe-voll zu begleiten.
Immerhin erleben wir hier mit diesem Studiengang den Augenblick, wo ein Staat, nämlich Europa offiziell das Umdenken nicht nur zulässt, sondern dazu auffordert.
Die Frage ist, ob dies zu einer Absorption dieser Gedanken führen wird, der den unbeweglichen, kränkeln-den, zweifellos zu wenig Qualifikation liefernden Koloss "staatliche Bildung" im Sinne von "Schulent-wicklung" wieder etwas beweglicher machen soll oder, ob wirklich eine neue demokratische Bildungs-landschaft entstehen wird, die vielfaltige und verschiedene lebendige Systeme schafft, die vielleicht eher in der Lage sind, bei der Lösung der Probleme der Zukunft der Menschen zu helfen.
Oder, ob nur ein kleines utopisches gesellschaftliches Experiment in seinem Nischendasein weiter existieren darf.
Ein weiterer Satz in Freinets Geschichte beschreibt bereits das alltägliche Problem, was so viele Lehrerinnen und Lehrer der heutigen Zeit in ihrem Berufsalltag haben: "Wir werden den Tag über Ruhe haben!"
Davon träumt fast jeder gestresste Lehrer in Stadt und Land, Ruhe haben, endlich Ruhe und unterrichten dürfen. Dies ist eines der bekanntesten ignorierten Probleme. Lehrerausbildung,wissenschaftlicher Aufsatz, pädagogisches Buch, pädagogische (nicht nur psychologische) Forschung, sie alle erwähnen dieses Problem nicht, verharmlosen es, erklären es zum "Störfaktor" ansonsten korrekt erstellter Unterrichtsplanungen und stellen in der Praxis unbrauchbare Theorien oder Rezepturen her.
Wir haben in der Klasse keine Ruhe mehr, weil, - diese Pferde wollen nicht so saufen wie es die herr-schenden Didaktiken und offiziellen und geheimen Lehrpläne in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer im Sinne des "systematischen Lernzuwachs" geplant haben. Sie geben eben keine Ruhe, diese Kinder, zu-mindest nicht immer, aber immer haufiger. Viele "tun es deutlich kund!"
Und dann Freinet: Jetzt führt das Pferd das Kommando! ! ! So weit käme das noch!
Klar, alles darf kindorientiert, kindgerecht, freiarbeitlich, offenunterrichtlich, stationsserviert, mitbe-stimmlich sein, aber bitte, die Unterrichtsinhalte, die Länge einer Unterrichtsstunde, den Prüfungsstoff, die Note bestimmen immer noch wir...oder einige Eltern, wie es immer mehr in Mode gekommen sein soll.
Oder dürften die Kinder, pardon, die Pferde, wirklich das Kommando übernehmen?
"Du trinkst jetzt gefälligst!" ist ein Satz der auch aus meinem Mund nach 20 Jahren Freinetpädagogik kommen konnte, wenn ich doch Kevin zum hundertsten Mal gesagt habe, er soll und er soll nicht, und warum er nicht... und doch schon wieder ... Und dann der entsetzlichste aller Gedanken: "Es hat vielleicht Angst", das Kind, ich bin es, der dem Durstigen die Angst machte.
Und schon liege ich falsch, das Pferd war nicht durstig, ich wollte, dass es durstig war... Und dann die Besserwisser: "Ich habe doch immer gesagt, sie sind nicht wissensdurstig, diese Femseh-Computer-ver-sauten Kinder von heutzutage. Sie brauchen Druck, Leistungsstress, Noten, Leistungsvergleich, damit sie überhaupt noch lernen". Und gleichzeitig aus dem Mund der gleichen Eltern: "Sie machen meinem Kind aber Angst, jawohl, das tun Sie, sie sind nämlich Lehrer und sowieso nicht konsequent genug... Sie müssen nämlich dafür sorgen, dass mein Kind rechtschreiben, einmaleinsen, klassenarbeiten und dann abituren oder maturieren kann".
Und schon möchte ich die Kinder doch zur Tränke führen, weil es ja die Eltern wünschen, und ich nicht da stehen möchte, wie ein Lehrer, der nicht erfolgreich ist, die Zeit gewinnen … und … wie das Kind ver-weigert sich???...aber...da ist doch eine Tränke. Und jetzt hab' gefälligst keine Angst ...und...ich streichele dich doch ....und das Wasser ist doch klar. ..und ich stoße doch deine Nüstern nur ganz vorsichtig ins Wasser, damit du endlich kapierst............. Aber es verweigert. Verdauungsstörungen...Wahmehmungsstörungen!...TeilleistungsstörungenI.. Legasthenie!... Dyskalkulie!... vestibulare Störungen!...
Das Kind ist nicht in Ordnung! ! ! ! Es muss wieder funktionieren! ! ! ! ! ! Sonst, Zukunft..
Du brauchst sonderpädagogisch-neurolinguistische-edukinasthetische-kinderpsychologisch-ganzheits-therapeutische-gestaltdiagnostische, aber teure Förderung, nur weil du zu blöd zum Saufen bist, du armes Familien-Gesellschafts-Zeit(und)-Zeitgeist-geschädigtes Kind!
Jetzt haben wir die ironische Miene des erfahrenen Bauern, der wei, dass das Pferd einfach keinen Durst hatte, der weis, das Pferd will zum Klee.......... Nur Frau Kollegin, Herr Kollege, wo soll es hier Klee geben, bitte schön?? Wissen Sie nicht wie eine Schule aussieht?
Dann machen wir ersatzweise eine Traumreise ins Kleefeld, vorbereitet durch ein Stationenfeld mit allen Sinnen zur Erfahrung eines Kleefelds, unterstützt durch ein wenig olfaktorische Wahrnehmung mit Hilfe eines Aromalämpchens und vielleicht etwas Musik aus den Traumstudios der Medienindustrie.
Und was sagt Freinet an dieser Stelle? "Erzieher, ihr steht am Scheideweg....geht mutig und weise den Weg einer Pädagogik des Pferdes, das zum Klee und zur Tranke galoppiert.
Und dann fängt er seine zweite Geschichte an. Er erzählt von den Leuten, die die Lösung des Problems kennen, den Ausbildern an pädagogischen Akademien, Instituten, Hochschulen und Universitäten. Sie sagen nämlich seit Jahrzehnten und Jahrhunderten: "Aber wechselt doch den Inhalt der Tranke" Wir haben die neuen Methoden! Wir haben die neuen Theorien! Wir haben die modernen Inhalte! Wir haben die neuen Erkenntnisse, die neuen Einsichten, Philosophien... alles was ihr bis jetzt tatet, war falsch, folgt uns, unserer neuen Theorie, wir wissen es jetzt!
Folgt uns!!!!!!!!!!
Aber Freinet drückt diese Angelegenheit in einem Wort aus: "Vergebens"!
Denn, "Unsere Hauptsorge muss es sein, das Kind durstig zu machen".
Und er nennt es die "alte Schule", die aber die ist, die auch nur in neuen Gewändern gepredigt wird: Hier geht darum, "dass die Schüler, ohne jeden Durst, jedes beliebige Gebräu trinken".
Und dann sagt er, was Sie fur diesen Studiengang für Sie selbst wissen sollten: "Wir hingegen haben unsere Schüler daran gewöhnt, zunächst jegliches Getränk als nicht ganz geheuer anzusehen, es zu prüfen und zu untersuchen, sich ihr eigenes Urteil zu bilden und überall eine Wahrheit einzufordern, die keineswegs in den Worten liegt, sondern in dem Wissen um die richtigen Zusammenhänge zwischen Fakten, Personen und Ereignissen.
Wir bilden keine Menschen aus, die einen Inhalt - sei er nun richtig oder falsch – passiv akzeptieren, sondern Bürger, die morgen ihr Leben mit Tüchtigkeit und Mut anzupacken verstehen und die verlangen können, dass das klare und reine Wasser der Wahrheit im Becken fließt"
Aber wie geht das? Was soll dieser Anspruch in diesem Studium?
Dazu holt Freinet in der dritten Geschichte nochmals aus: Lassen Sie sich nicht wie ein Kleinkind füttern, oder wie eine Miezekatze, die einen tollen Referenten als Ernährer zu finden glaubt.
Spucken Sie wieder aus, bevor Sie an Verdauungsstörungen leiden.
Oder wieder Freinet; Begreifen Sie doch einfach, dass das Pferd, das keinen Durst hat, überhaupt nicht getränkt wird! Was würde das, konsequent zu Ende gedacht, fur die Existenz der staatlichen Schule und die Lehrerinnenbildung bedeuten?
Eine Schule übrigens, in der Freinetleute seit 80 Jahren ihre Freinetarbeit (sich) leisten. Was ist das für eine Einstellung? Was sind das für Menschen, die mit dieser Einschätzung von Schule in der staatlichen Schule arbeiten?
Wäre es da nicht sinnvoller, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Studiengang, einen
weiteren Kursus fiir neurolinguistische Programmierung oder einen solchen zur Organisationsentwicklung oder einen neueren zur Entwicklung von Leistungsfeststellungs- und Leistungsvergleichskriteriener-arbeitung zu belegen, als sich ausgerechnet mit Freinet zu beschäftigen?
Es gibt zwei Möglichkeiten, fährt Freinet fort, warum das Pferd zur Tränke gehen könnte:
Entweder es hat sich satt gefressen an Sinneswahrnehmung, Fernsehen, Klavierstunden, Reitstunden, Gameboy oder Surfen im Internet, dem Sammeln von Karten oder Stickern oder dem Bauen von Türmen oder weil es schwer arbeitend den Pflug gezogen hat (Kinderarbeit oder sinnvolles Mitarbeiten???)
Und dann, sagt Freinet, könnt ihr auf das Kind, pardon, das Pferd, so viel einschlagen, an ihm zerren, wie ihr wollt, es wird weiter saufen, nicht mehr aufhören, bis der Durst gestillt ist.
Und dann schränkt Freinet aber ein; "Es sei denn, euer Zwang und die Schläge, die es dazu bringen sollten, an diesem Brunnen zu trinken, hatten eine Art physischen Ekel vor dem Brunnen bewirkt, und das Pferd weigert sich,...."
Merken Sie, Freinet stellt die gesamte Didaktik, die gesamte herrschende Pädagogik in Frage.
Ob er diesen Anspruch halten kann, ob er in der Lage ist, besseres anzubieten?
Wird er nur "Wasserlachen" anzubieten haben, um "ungezwungen" zu trinken?
Stiehlt er sich hier nicht etwas heraus? "Wenn euer Kind keinen Wissensdurst hat, wenn es keinerlei Lust auf die Arbeit hat, ist es auch verlorene Mühe, wenn ihr ihm die Ohren mit den sprachgewaltigsten Beweisführungen vollstopft."
Und bald sagt er, was heute jeder Inspektor oder Schulrat sagen könnte: "Macht durstig, auf welchen Wegen auch immer! Stellt wieder Kreislaufe her! Ruft ein innerstes Verlangen nach der erwünschten Nahrung hervor. Dann strahlen die Augen, die Münder öffnen sich, die Muskeln bewegen sich. (Welch eine Ahnung der Mann schon von Motopadie oder Sensomotorik hatte!)
Dann ist Sehnen da und nicht Schlaffheit oder Widerwillen.
Und was hat das mit unserem Studiengang zu tun?
Wir sind keine Zeitsparkasse, wir legen nicht ihre Zeit an. Wir gehen mit ihnen einen Weg, der IHR Weg werden soll, zu IHRER Tränke, zu IHREM Kleefeld und das Ziel ist nicht die Tränke, oder der Weg selbst, sondern das Ziel bleibt IHR DURST und IHR KLEE:
Wir werden mit Ihnen arbeiten, vier Semester lang. Wir werden Wege gehen, Tränken bauen, um der Frage nach dem Durst nachzugehen.
Haben Sie überhaupt Durst? Wir unterstellen Ihnen das, sonst waren Sie nicht hier.
Aber worauf? Wie? Wann? Warum? Wollen Sie aus fertigen Tranken trinken? Fertige Wege gehen?
Gibt es die überhaupt?
Sie treffen mit den Freinetpädagoginnen und -pädagogen, die hier als Dozenten sind auf Menschen, die ihre eigenen Wege gehen auch manchmal stehen bleiben, Tränken gebaut haben und bauen, Durst kennen. Wir bieten Ihnen unsere Wegerfahrungen, unsere Tränkebaustrategien, unsere Durstschilderungen an. Aber wir wissen, dass dies eher nicht ihre Wege sind. Sie müssen Ihren eigenen Durst spüren und löschen.
Müssen Sie heute an den Tränken bauen, oder erst zum Kleefeld gehen? Oder um es ganz drastisch auszu-drücken: Wir werden Sie nicht zu unserer Tränke führen, damit wir Sie dort zum Saufen zwingen, noch werden wir versuchen, für Sie zu saufen, noch lassen wir Sie unsere Tränke leer saufen. Wir werden nur das Klee mit Ihnen teilen.
Wir sind keine Pferde, auch wenn wir wie sie reagieren können. Als Menschen können wir Wege finden, um Wege zu finden, die zu Wegen zu Tränken führen.
Als Menschen unterscheiden wir zwei Arten von Wegen zu Tränken, ln der Natur müssen wir lernen, wo trinkbare Quellen und Gewässer sind, in unseren Häusern müssen wir Leitungen und Becken bauen können.
Wir müssen Wasser teilen, behüten, sauber halten und säubern. Wir verbinden das Wasser mit Begriffen wie Sauberkeit, Erfrischung, Erholung, Gesundheit, Fruchtbarkeit, verschiedensten Symbolen und dem Leben selbst. (Die Sintfluten und Hochwasser vergessen wir eher.)
Und da wir durstig nach Leben sind, haben wir unsere Pädagogik so entwickelt wie sie ist.
Eine Pädagogik des Lebens kann nicht in Flaschen abgefüllt und verkauft werden. Das ist eine andere Form des Durstlöschens.
Eine Pädagogik des Lebens will5:
Sich von der Welt beeindrucken lassen und dies ausdrücken, eigenen Bedürfnissen folgen, gemeinsam, nicht gegeneinander, lernen im Austausch, in der Entdeckung von Gemeinsamkeiten, im gleichberechtigten demokratischen Miteinander, in und für menschenwürdige Qualitäten, in selbst bestimmter und selbst organisierter Arbeit, wo alle Fähigkeiten und Möglichkeiten immer weiter wachsen und leben können,
wo Verantwortung für das eigene Lernen übernommen wird und anderen ihre Verantwortung gelassen wird,
ohne sie in dieser Verantwortung allein zu lassen, wo Menschen ihre Identitat finden, ihre Sprache finden, als wichtigstes Mittel des menschlichen Ausdrucks, wo Menschen in ihrer Sprache leben, wo Kindern, allen Menschen, das Wort gegeben wird.
Wir wissen, und hier halte ich es mit John Lennon: "I know that I'm a dreamer, but I'm not the only one" und wir haben ein paar Techniken und Werkzeuge des Lernens und Arbeitens herausgefunden, die diese Art des nicht entfremdeten Lebens und Lernens auch hier und heute und jetzt in der Schule möglich macht.
Wir lieben es, "ungezwungen" zu arbeiten, zu lernen und zu leben. Wir favorisieren, wie Elise Freinet es einmal ausdrückte, eine Erziehung ohne Zwang
Bei Pferden und Menschen.
1 Es folgt dem Text "Die Geschichte vom Pferd, das keinen Durst hat" noch zwei weitere Geschichten: "Das Pferd hat keinen Durst: Wechselt also das Wasser in der Tränke!" und "Das Kind durstig machen" wurden von Dieter Adrion und Karl Schneider, Schuldruckzentrum an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, herausgegeben: Celestin Freinet, Die Spruche des Mathieu, Ludwigsburg l996, S. 34-38 Vielen Dank fur die Erlaubnis, die Texte für diese Rede benutzen zu können.
2Natürlich verläuft diese "Realisierung" weder eindimensional noch widerspruchslos. Vielmehr spielen hier viele,
politische Kräfte eine Rolle, wie ein etwa in Deutschland jene Rollback-Orientierung, die preußische Leistungs- und
Curriculumvorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts als Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts erproben möchte.
Oder etwa in Teilen Osterreichs ein beinhartes Mobbing zum Wegekeln von missbeliebigen Leuten.
3Celestin Freinet, Pädagogische Werke, Teil 1, Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, S.322 ff.
4 Hier zitiert nach: Celestin Freinet, Eine kurze Übersicht über die Moderne Schule", Köln o.Jg., S. 32f
5Prof. Gerhard Rabensteiner (Leiter des Hochschullehrgangs, PadAk Kärnten), Walter Hövel (Eitorf), Uschi Resch
(Bonn), Pia-Maria Rabensteiner (Kärnten), Martin Merz (Oberosterreich), Christine Wiedermann (Wien), Wolfgang
Mützelfeldt und Lutz Wendeier (beide Freie Schule PrinzHöfte),
Die folgende Aufzählung entstand bei der Planung des Studiengangs. Dies sind Antworten der Dozentinnen auf die Frage,
was fur sie das Entscheidende in der Freinetpädagogik sei.