Walter Hövel
Fragen und Lernen
Sind Kinderfragen eine Ressource, um Lernqualität zu entwickeln?
Mit 15 Kindern gehe ich an der Grundschule Harmonie[1] mit meinem Angebot der alle 14 Tage stattfindenden „Kinderuni”[2] ins Schulgelände. Sie kommen aus verschiedenen 1-4 altersgemischten Klassen unserer Schule. Sie hatten das Thema aus einem
breiten Angebot von „Seminaren”unserer Universitätsschule ausgesucht. Das Thema lautet: „Draußen Dinge wahrnehmen”.
Kaum bin ich mit ihnen vor der Tür, kommt Anna an und hat ein paar Regenwürmer in der Hand. Gerade wieder etwas wärmer geworden, hatte es geregnet. „Die vertrocknen sonst”, ... Andere Kinder: „Du
darfst die nicht einfach so anfassen und hochheben.” „Haben die eine Nase?” „Du musst anders drunter kommen.” „Haben die Lungen?” „Haben die ein Gehirn?” „Haben die Knochen?” „Was sind das für
Ringe um die Körper?” „ Wie heißen die auf Englisch?” „Was ist das für ein komischer dicker Ring?” ” Warum sind die so dünn?” „Wo muss ich die wieder
aussetzen?”
Erste Fragen der Kinder, eine rausgerutschte Zwischen-Frage des Fremdsprachen-Lehrers, Antworten der Kinder, ganz selten eine Antwort
des Lehrers, Diskussion, Widerspruch, Diskurs, neue Fragen.
Wir stehen in einem kaum erkennbaren Kreis, alle sind dabei. Da geht nichts mit Absichern von Vorwissen,didaktisierenden Materialien, Arbeitsblättern, interaktive Sites oder „vorbereiteter
Lernumgebung”. Das sind Dinge, die wir nicht ablehnen, in anderen Zusammenhängen durchaus schätzen können. Aber nicht hier! Hier ist Begegnung mit der Natur pur angesagt. Unsere Lernpartnerin ist die Beste, die es gibt, die Welt selbst.
Ich komme zunächst gar nicht zu meinemThema. Das „Ungeplante” erobert sich bei Kindern wie den unsrigen, die es kennen raus zu gehen, und selbst zu forschen gelernt gaben, sofort den Vorrang. Alle entdecken, sammeln und retten Regenwürmer.
Einige Zeit geht es so weiter, bis Justins mit der Frage ankommt: „Wann fangen wir denn endlich an?” „Wir sind mitten drin, sagt Nelli, „wir sind jetzt bei Regenwürmern.”
"Das ist gewöhnliche Pädagogik: Ungefragte Antworten und unbeantwortete Fragen“[3]
Das ist gewöhnliches Lernen: Das eigene Fragen lernen und viele Antworten finden. (Karl Popper)
Nach einiger Zeit gehen wir ein paar weitere Schritte ins Schulgelände und bilden einen „richtigen” Kreis. Ich hatte „zum draußen Wahrnehmen” eingeladen. Ich bitte alle Kinder, ihre Augen zu schließen. Sie beginnen zu erzählen, was sie hören, mutmaßen, verwerfen, vergleichen: „Vogelgezwitscher, menschliche Stimmen, ein Flugzeug, den Wind, ein Rauschen,...”
Das wohl für alle Spannendste kommt von Anna-Lena: „Wenn ich mich mit geschlossenen Augen Richtung Sonne drehe, wird alles rot” . Und sofort: „Wo wird’s rot?” „Was wird rot?” ... „Das ist die Sonne!” „Das Sonnenlicht” „Quatsch, die ist doch gelb, oder doch nicht?” Bis eine sagt, das ist das Blut in meinen Augenliedern, das scheint durch.” Jetzt ist Blut das Thema. „Ich kann mein Blut im Ohr rauschen hören, wenn ich die Hände um die Ohren lege. Ich kann mein Blut sehen, wo es so blau in meiner Haut ist. Wieso ist das blau? Ich kann dein Blut fühlen, wenn ich ganz vorsichtig meine Finger auf deinen Puls lege.” Alle Kinder probieren es mit einander aus.
Wir gehen ums Schulgebäude. Ich schlage Beobachtungsaufträge vor. Diese sind Anregungen, an
die sich die meisten halten, einige machen sich eigene Aufträge. Die einen hören, sehen, die anderen fühlen, andere riechen und gucken.
Bald kommen sie zurück: „Das Holz an den Fenstern ist wärmer als das Holz am Baum.” „Da ist eine Wasserkühlung drin...” „Warum ist der Sand in der Sonne am wärmsten?” ... „Warum ist der
Gummireifen wärmer als Metall im Schatten?” ... „Beim Anfassen mit unseren Händen messen wir als erstes immer die Temperatur!” ... „Bemerken unsere Hände noch was anderes beim
Anfassen?...”
Sie berichten weiter und befragen ihre eigenen Beobachtungen.
Es klappt oft nicht, sich als (Fach-)Lehrerin und Lehrer in einer Unterrichtsstunde vor die Schüler zu stellen und sie in den Fragemodus der Schule zu drängen.
Einige kennen vielleicht Fragen aus den TV-Wissenschaftssendungen, Kinderfachzeitschriften oder Stickerkampagnen von Supermärkten und fragen nach der Größe von Ameisenhügeln oder Schwarzen Löchern. Andere haben Therapieerfahrungen und wissen welche Antworten erwartet werden und verfügen somit auch über ein Repertoire von Standardfragen. Andere haben sich im Kindergarten oder im Mittelschichten-Zuhause, viele Fragen gemerkt, die ihnen Sach- und Wissensbücher vor-stellten. Wieder andere waren im Kommunions- oder Konfirmationsunterricht und wissen von dort, was die „richtigen“ Fragen und Antworten sind. Wieder andere lernen blitzschnell, welche Fragen die Lehrerinnen gerne hören oder sie erinnern sich an jene vom Spielen mit dem Kindercomputer. Aber sind es ihre eigenen, echten Fragen der Kinder?
Zur Themenfindung des Kindes schreibt Herbert Hagstedt: „Themenfindung ist von Geburt an eine ureigenste Sache des Kindes. Aber nicht nur Lehrkräfte, alle Erwachsenen mit Erziehungsmandat – von den Eltern und Kita-Betreuerinnen bis zu den Kinderbuchautoren oder den Kinderprogrammmachern des Fernsehens sehen es als wesentlichen Teil ihrer pädagogischen Verantwortung an, Kindern vor allem eine Aufgabe komplett abzunehmen: die Themenfindung. Wenn das Kind in die Schule kommt, hat es schon gelernt auf die Themenfindung ihrer erwachsenen Anwälte zu warten, insbesondere auf ihre Lehrerin, aber auch auf Schulbuchredakteure und Arbeitsblatt-Erfinder. Deshalb erleben wir bereits beim Eintritt in die Schule Kinder, deren Interessensbildung, Wissbegierde, Frageverhalten nachhaltig gestört sein kann. Selbst aufwendige
pädagogische Arrangements, offene Lernumgebungen mit inspirierenden Neugierzonen schaffen es nicht, den Kindern ihren Mut zu eigenen Themenfindungen zurückzugeben.“[4]
Manche Kinder haben Eltern, die ihnen Zeit für ihre Entwicklung gaben und wirklich mit ihnen redeten, sie mitnahmen oder sie mit anderen Kindern ohne einschränkende elterliche Aufsicht zusammenkommen ließen. Dann kommen Fragen wie „Warum träumen wir?“, „Warum wachse ich?“, „Warum lassen sich Haarsträhnen nicht verknoten?“, … aber diese Kinder fragen auch nach der Größe von Ameisenhaufen und schwarzen Löchern...
Eigentlich alle Kinder unserer Schule lernen das Fragen (wieder), weil bei uns Fragen und das Fragen angesagt, cool, natürlich, und immer präsent ist: Bei der täglichen individuellen Arbeit, im Kreis, in Projekten und Miniprojekten, in der Kinderuni, bei den Angeboten des Ganztags oder der „Lehramtsanwärterinnen“, immer wird gefragt.
Nicht die Frage macht die Qualität der Frage, sondern der fragende Mensch. Kinder, die eine fragende Umgebung haben, lernen zu fragen, weil sie fragen wollen. Können sie dies – oft genug - in ihren Familien nicht, oder wenig oder doch, können sie es in der Schule weiter, wieder oder trotzdem lernen. Die Frage ist die Urkraft des Lernens. Jeder Mensch will lernen und kann fragen…und fragende Menschen lernen (besser) zu leben.(Vgl.Calvert/Jacobi 2o10)
Selber Wahrnehmen, selber Fragen, selber Denken führen zu eigenen Meinungen, zu eigenen Wertskalen, zu eigener Argumentationskraft und wieder zu eigenem Wahrnehmen, eigenen Fragen und eigenem Denken. Da die Kinder dies wiederum gemeinsam, im aktiver Präsentation und permanenten Austausch mit anderen tun, lernen sie nicht nur durch eigene Augen und eigene Kompetenzen und ihre Erweiterung, sondern durch die Lernerfahrungen der Anderen und der Gemeinschaft. Die Anerkennung der Kinderfragen aus der Gruppe heraus ist die Anerkennung der Kinder.
Zu den Fragen gehen! Raus gehen aus der Schule!
Wir gehen seit vielen Jahren wie viele andere unserer Kolleginnen und Kollegen mit unseren Kindern raus. Die Anlässe sind unzählig. Immer führt ein Weg aus der Schule.
Wir gehen in einen Wald, einen Park, an einen Fluss, an einen Bach, auf eine Wiese. Jedes Kind beobachtet, notiert, zeichnet, bemerkt etwas, merkt sich was sie oder er sieht, hört, riecht. Wir graben, schauen in den Himmel, sammeln Gräser, Steine, Großes, Kleines, Schätze, Müll. Wir besuchen Menschen mit Tieren, Werkstätten, den Nachbarn, einen ehemaliger Matrose, der immer andere Fahnen hisst, Künstler, die Straße, in denen die eigenen Kinder wohnen, das Rathaus, die Feuerwehr, in den Keller des Museums, die Kanalisation, die Baustelle einen älteren Herrn, der aufschrieb, wie er von einem Hitlerjungen zu einem Demokraten wurde …
Da können sich Kinder in der Nähe einer stark befahrenen Straße aufhalten, die Autonummern notieren (Warum sind Hunderte von Kilometern von Hamburg entfernt so viele Autos mit „HH“ unterwegs“ oder Autos mit „B“, wo kommen sie her, wo fahren sie hin….Es entstehen Landkarten, Matheaufgaben, Texte, Themen.
Wir gehen ohne jede Aufgabe irgendwohin, oder sammeln vorher Fragen, Aufträge, gehen Wandern, machen Feuer im Schnee, sitzen unter einem Dach und beobachten den Regen, wir machen Holzkohle in Dosen, fahren mit dem Fahrrad auf Klassenfahrt, schmeißen Steine ins oder übers Wasser. Zeichnen in der Natur oder auf dem Bauernhof die Gesichter von Kühen….
Das sind keine zusätzlichen Aufgaben, keine „Spinnereien“ einer sich pädagogisch anders sehenden Schule. Nein, so meinen es die Lehrpläne des Sachunterrichts, so sehen es die Lehrpläne der anderen Fächer! Und natürlich muss das den Eltern vermittelt werden. Da muss das erklärt werden, was seit Jahren erklärt wird: Nicht eintrichtern, sondern selbstgesteuertes Lernen ermöglichen Nicht Abrichten von Kindern zum Funktionieren, sondern eigenaktiven Menschen, die wissen warum und wie sie lernen, den Rücken stärken. Nicht eindimensionales Lernen von Kenntnissen, sondern komplexes ganzheitliches Erkennen zur Grundlegung von mehr Wissen und Leistung fördern.
Und selbst an unserer Schule gibt es dann die Mutter, die ihrem Kind sagt, die Befragung anderer Kinder während der Schulzeit bringe nichts. Und welch einen traurigen, mitleidigen Blick das Kind für seine Mutter hatte, als er erzählte, dass er als 10jähriger seine Frageergebnisse gerade in Prozenten berechnete, um sie dann im Säulendiagramm für einen Vortrag darzustellen.
Es gibt heute wie früher die Sprüche zu den „dummen Fragen“: „Kind, dabei lernst du nichts, wenn du diese Fragen stellst.“ „Frag nicht so viel!“ „ Das ist aber eine dumme Frage.“ „ Wer viel fragt
bekommt auch dumme Antworten.“ „Der nervt mich mit seinen Fragen“ „Fragen sind Zeitvergeudung“, „Fragen zeugt von Schwäche und Antworten sind schlagfertig“.
Es gibt sie immer noch, die alte Vorstellung von einer Erziehung, die Angst vor Fragen hat. Oder Fragen einfach nicht wichtig findet, trotz einer
genau so hohen Zahl positiver Sprüche über das Fragen von Denkern und Dichtern. Und das ist die Stelle, wo man Eltern auch schon mal sagen muss, dass sie falsch liegen. Selbst wenn sie sich
danach eine andere Schule suchen, die die Fragen aus den Schulbüchern und Unterrichtsvorbereitungen nehmen.
Fragenerprobte Kinder ordnen sich jene Fragen, die wir z.B. in der Mathematik stellen, ganz anders ein. Diese Kinder können sich als erfahrene Fragesteller spannende Fragen anderer einfacher zu eigenmachen. Die Frage aus dem Känguru-Wettbewerb wie Dornröschen’s Koch es regelt, dass alle 12 Feen um den runden Tisch sitzend nie die gleiche Serviettenfarbe wie ihre Nachbarn oder gegenüber Sitzenden haben. Genauso wie die Frage „Wie es eigentlich geht, dass man auf einem Autobahnkreuz in jede beliebige Richtung fahren kann“. Jetzt interessiert sie zu wissen, was Geschwindigkeit ist um selber zu wissen, wie lange eine Autofahrt noch geht. Jetzt finden sie 20 Möglichkeiten wie man von Eitorf (wo wir 50km von Köln entfernt die Schule haben) nach Köln kommen. Sie untersuchen die Fragen nach den Möglichkeiten, von zu Fuß über Reiten und Schwimmen bis zu mit dem Helikopter oder dem Heißluftballon. Sie gehen den Fragen nach wie lange es dauert und was das kostet.
Jetzt schreiben sie einen freien Text, in dem sie wie Max Frisch in seinen Tagebüchern oder Pablo Neruda in seinen „Los libros de las preguntas“ einfach nur Fragen stellen. Leon macht ein einseitiges Frage-Interview mit seiner Gitarre und Melanie stellt nur Fragen zum Thema „Freunde“, „Kann ich mehr als eine beste Freundin haben“.
Da fahren wir mit den Kindern jedes Jahr nach England, spielen in Rollenspielen Dialoge in Virtual Cities, in „Hogsward“ oder in einem“ Pirate Boat“. Wir gehen auf den Markt und stellen Interviewfragen auf English. Und jetzt werden Lernfragen zu echten Fragen: “What is your name, What‘s your favourite Colour? Did you speak English in your holidays?“
Ich darf als Lehrerin oder Lehrer nicht mich selbst an der Umsetzung einer Fragekultur hindern. Die Killer sind Argumente wie „Darüber nachdenken, ob ich das darf“, „Fragen, ob dabei genug gelernt wird oder ob das auch auf die weiterführende Schule vorbereitet?“. Das andere Arbeiten und Lernen steht in den Lehrplänen!! Zur Umsetzung kann ich mit anderen Erwachsenen Ideen austauschen, Ideen sammeln, die Qualität hinterfragen, Mut zum Anbieten entwickeln. Ich lerne mit Kindern die Dialoge, die Beobachtungsaufträge und die Forschungsexperimente auszudenken.
Unsere Lehrpläne sind in der Regel so gut, dass das, was Kinder fragen, was sie wissen wollen oder untersuchen, da drin steht!!! Und, wer es so macht, weiß, dass so ungeheuer viel gelernt wird, und dass auch (oder gerade konservativ) denkende Eltern ein Lernen außerhalb von Schulen zu schätzen wissen. Und dürfen tue ich alles, was ich pädagogisch schlüssig begründen kann.
Und ich kann das tun, was viele Grundschullehrer und –lehrerinnen automatisch tun: Sie gehen als Lehrer zu den Kindern und ihren Fragen, zu ihrem Lernen. Sie stellen die Fächer zu den Kindern und gehen auf beide zu. Die Misere vieler an den „weiter“führenden Schulen ist, dass die Lehrkräfte glauben, dass sie gemeinsam mit den Fächern stehen. Den Fragen und den Lernaufgaben der Schülerinnen und Schülern stehen sie gegenüber. Die Lernenden müssen sich auf die Lehrer und die von ihnen okkupierten Fächer zubewegen, um lernen zu können. So verlerne ich das Fragen, verliere das Interesse am Lernen, an Schule und vielleicht sogar an mir selbst.
„Wichtig ist, dass man nie aufhört zu fragen...“[5]
Am liebsten habe ich die Experimente, die sich aus dem Kreis heraus entwickeln.
Wir reden über den Besuch des Museums König in Bonn. … Wir fahren mit der Bahn hin. Irgendwann ist die Frage da: „Wie bremsen Eisenbahnen?“ … Dann:
Experimente mit Sand … “Bremst Sand oder beschleunigt er. Er bremst das Rad des Zuges auf der Schiene, ich rutsche aber mit dem Fahrrad auf Sand aus … Sand ist schwerer als Wasser … ein
Luftballon mit Sand gefüllt wird formbar … Sand aus allen Meeren der Welt und von verschiedenen Spielplätzen vergleichen … Ist roter Sand schwerer als blauer? … Sand ist ein tolles Thema!
Ein Junge hat eine Öllampe mit drei Dochten mitgebracht. Sie werden angezündet … Staunen … Irgendwann die Frage „Was brennt da?“ … „Was ist Öl?“ … „Wie wird Öl hergestellt?“ … „Woraus?“ … „Olivenöl, Distelöl?“ …Zwei machen sich auf den Weg nach draußen und beginnen „Öl“ aus Pflanzen herzustellen, … bis einer drauf kommt zu fragen, “Ist das überhaupt Öl, oder Wasser oder was?“ … Und es gelingt ihnen, sich einen Beweis auszudenken und es gelingt ihnen.
Immer wieder Fragen im Kreis, aus denen Umfragen in der Klasse, in der ganzen Schule, außerhalb von Schule entstehen, dann Statistiken, Vergleiche aus dem Netz, rechnen, darstellen,…
Eines Tages sagt ein Kind: „In meinem Glas mit Matsch, Gras und Wasser regnet es“ … und es stimmt.
„Ich habe heute unter dem Mikroskop gesehen, wie Asseln Junge kriegen“, es folgen Asselexperimente, auch welche mit Schnecken, Regenwürmer, Spinnen, … dazu gibt’s schon Karteien, die auf „Brauchbares“ hin untersucht werden…
Ein Mädchen fragt nach dem Tod. „Warum sterben wir?“ Sie will nicht meine Antworten. Sie will drüber reden. Antworten erproben. Raum haben, ernst genommen zu werden. Da muss kein Projekt entstehen. Mehr Fragen von anderen Kindern kommen, mehr Antworten. Das Gespräch war verlangt, sonst nichts!
Die Lehramtswärterin fragt nach echten Fragen für ihre Unterrichtseinheit. „Warum fliegen Flugzeuge?“ wird genommen. Es werden bekannte Versuche aus der Literatur herbeigeschafft. Eines der Experimente: Fön, Flügel aus dünner Pappe, Pappe biegen, zwei Seiten platt zusammenkleben, die andere hat eine Rundung, da sich nicht plattgeknickt wird, zwei Seile, Kordeln von oben nach unten spannen, Löcher in die Pappflügel, Schnüre durch, laufenden Fön auf den Flügel halten… Ah, deshalb fliegt das!
Aufgrund unserer Fragen der Woche und Fragen zur Welt entwickeln wir mit unserer Nachbarschule und den Partnerschulen in England, Finnland und Österreich ein „Book of Records“ und eine Pow-Wow-Abteilung: Who was born furthest distance to school?, Who has he longest hair? Who has he youngest and the oldest grandma? ... Der Kreis geht gerne an diese Fragen ran…[6]
Dieses Mal rege ich zum Experimentieren an. Im Kreis bekommt jeder ein paar Luftballons. Keine Party, keine Wasserbomben und keine nassen Kinder, sondern: „Wem gelingt es, eine Behauptung zu einem Experiment mit Luftballons aufzustellen, die man beweisen kann?“, „Wem fällt ein Experiment ein, dass etwas beweist?“, „Wem fällt ein Experiment ein, dass beweist, dass eine Behauptung nicht stimmt?“ … Ein Tag voller Experimente.
Oder in unserer Kinderuni habe ich „kosmische Glibbermasse“ (Maisstärke mit Wasser und Lebensmittelfarbe)von einem Institut überreicht bekommen. Die Wissenschaftler bekommen nicht raus, was das für eine wahrscheinlich von Aliens stammende Masse ist. Kinder sollen es jetzt mit ihrer Fantasie schaffen…“ Ich gebe Kittel, Schutzbrillen, Atemschutzmasken und diverse Werkzeuge aus. Die Kinder beginnen zu untersuchen, gehen Vermutungen nach. Sie forschen spielend, sie spielen“Forschergruppe“.
Immer wieder Fragen zur Welt: „Warum träumen wir?“ „Das hat mit dem Gedächtnis zu tun“, „Damit uns im Schlaf nicht langweilig wird“, „Wir verarbeiten in Gedanken, was wir am Tag erlebt haben“, „Man fantasiert im Schlaf“, „Wir träumen um zu vergessen“, “Träume sind die Fantasie, die wir im Kopf haben“, „Die Gedanken vom Tag werden sortiert, vom Kleinhirn ins Großhirn“. Auch das sind Versuche, Gedankenversuche …
Es gibt Langzeituntersuchungen zum Wachsen von Pflanzen, eines Neubaus, zum täglichen Wetter, zum Lärm in der Klasse, …
Und natürlich gibt es auch „Scheinversuche“: „Ich gehe draußen experimentieren“. Wir nehmen das Kind ernst und lassen es. Mal mit Hilfe zum Finden eines echten Experiments: „Okay nimm dir einen Ball und miss die Kraft deines Schusses… wie? … ein großer Karton, ein weißes Papier an der Wand, ein feuchter Ball“ … und schon sind die Abdrücke je nach Kraft sehr verschieden. Mal ohne, und du weißt nicht, ob das Kind sich „nur“ von irgendetwas erholt oder wirklich etwas herausfindet, von dem es uns etwas erzählt, oder vielleicht auch nicht. Du weißt eh nie, wie Lernen stattfindet.
Individuelle gemeinsame genussvolle Versuche.
An den Fragen der Kinder die eigene Pädagogik messen
Ausgangspunkt sind eigene Wahrnehmungen, Erfahrungen und Fragen, aus denen heraus neue Fragen und eigene oder bekannte Experimente genutzt, erfunden oder sich ausgedacht werden. Bei allen Versuchen muss die entscheidende Antriebskraft das Kind mit seinem eigenem Forscherdrang und seinen eigenen Forschungsmethoden bleiben. Fundus zur Findung eigener Experimente können auch fremde Fragen, Informationen und Beschreibungen aus Büchern, dem Netz, aus Versuchskisten oder Kästen sein, Anregungen durch Materialen, Erzählungen, Geschichten anderer oder (sogar englisch sprachige) Karteien sein auf die das Kind stößt. Ein Kind das selber versuchen und forschen kann, versteht Anregungen anderer. Ein Kind, das sich im eigenen Forschen schwer tut, kann sich Türen durch die Hilfe anderer oder von Materialien öffnen. Lehrerinnen und Lehrer müssen hierbei sehr zurückhaltend, aber auch aufmerksam und eigen interessiert sein.
„Von außen“ kommende Vorschläge, Techniken dürfen die Eigenständigkeit eines Kindes nicht über- oder verdecken.
So stelle ich den Kindern meiner Klasse immer wieder vor, wie Fragen, Hypothesen und Vorhersagen das eigene Forschen lustvoller und erfolgreicher
machen. Es bleibt immer dem Kind überlassen, welche Techniken es selbst entwickelt und welche es sich wo anders abholt.
Für mich ist der Fundus der Kompetenzbeschreibungen wichtig.
Einerseits verstehe ich selbst dadurch besser, welche Wege und Techniken die Kinder aus der eigenen Arbeit heraus entwickeln. Andererseits verstärkt dieser Fundus mein Angebot an die Arbeit der
Kinder.
Die entscheidenden Kompetenzen, sind für mich die, die den kurz- bis langfristigen Lernzuwachs beim Lernen am Modell des einzelnen Experiments und die eigenständige Lern- und Arbeitsstrategien aufbauen.
Die Kinder lernen so zu arbeiten, dass sie vor, während und nach dem Experiment
· Vorhersagen zu einem Experiment machen und begründen
· Hypothesen aufstellen und Vermutungen äußern
· neue Fragen entstehen und folgen lassen
· an ihr Wissen anknüpfen, Experimente durchführen und auswerten
· vereinfachen, reflektieren, argumentieren
· Problem identifizieren, Sofortlösungen verwerfen, Lösungen vergleichen
· Abstraktionsfähigkeit und Modelle entwickeln
· Fehlschläge korrigieren, falsche Thesen und Wege erkennen
· Anderen darstellen könne, was sie selbst begriffen haben
Sie lernen aus eigenen Fragen und der eigenen Arbeit, Themen zu erkennen, sie auszusuchen, ihre Partner zu finden, sich die Zeit einzuteilen, sich für ihre Arbeits- und Darstellungstechnik[7] zu entscheiden, die Arbeit zu planen und zu gliedern, herauszufinden, was ihnen selbst wichtig ist, was andere interessiert, was relevant oder neu ist, Material und Medien zu organisieren und ihren Arbeitsplatz zu finden und einzurichten.
So können sie Phänomene, Lerngegenstände, Ergebnisse, ihr eigenes Tasten und Versuchen verstehen, eigene Interessen erkennen, ihnen nachgehen und sie nutzen, Informationen verstehen, unterscheiden, aussuchen und für ihre Belange einsetzen, eigene, vielleicht verschiedene Schlussfolgerungen ziehen, darstellen, notieren, versprachlichen, formulieren, die ästhetische Darstellung wertschätzen.
Sie lernen über die Ethik ihrer Arbeit zu reden: Darf ich Experimente an Tieren, Insekten, an mir oder anderen, an Pflanzen machen? Darf ich mit gefährlichen Stoffen, Geräten oder Vorgängen oder Zielen arbeiten?
Sie lernen die zu erreichenden Kompetenzen aus der eigenen Arbeit und der Reflektion der Arbeit im Kreis als Möglichkeiten ihres eigenen Arbeitens kennen. Sie lernen durch Handeln und Tun, eigenes Erleben in eigener Emotion und Sprache Erkenntnisse zu gewinnen und weiter zu geben, Kenntnisse zu sammeln, zu wiederholen, zu behalten, ihre eigenen Lern- und Arbeitsfortschritte zu überwachen. Sie lernen das Experimentieren selbst, mit den Werkzeugen, Strategien und Materialien umzugehen. Sie lernen die Bedeutung von Sicherheit, Abläufen, Sauberkeit, Ordnungen, das Messen, das Bauen und Aufbauen, Tasten und Versuchen, Umwege zu gehen und zu erkennen. Sie lernen zu präsentieren, Ausstellungen zu machen, Respekt vor der Arbeit anderer zu entwickeln, die eigene, die Arbeit anderer und aller einzuschätzen, sich nicht zu langweilen oder andere nicht zu langweilen, ihre Lebenszeit aktiv zu nutzen, Pausen zu machen, sich anzustrengen, zu leisten. Sie lernen stolz auf das eigne Schaffen, den Willen zum Arbeiten zu entwickeln und zu stärken, gelingende Sozial- und Arbeits- Beziehungen zu anderen aufzubauen, zuzuhören, vorzutragen. Sie lernen den Kompetenzbegriff kennen, zu vergleichen, Methoden einzusetzen, die Medien zu beherrschen, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen.
Sie lernen ihr Lernen zu gestalten, tastend, fragend, versuchend, sich selbst auszudrücken, in ihrer eigenen Art, die Welt zu begreifen und das eigene Leben zu gestalten.
„Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein“
Rainer Maria Rilke 1903
[1] Website: www.grundschule-harmonie.de
[2] Kinderuni Website
[4] Herbert Hagstedt, Forschen aus eigenem Antrieb, In: I bin de Strich, trait d’union 74/August 2012, Schweiz, S.10
[6] Vergleiche Website www.grundschule-harmonie.de
[7] Walter
Hövel, Uschi Resch,Techniken zum Arbeiten, Darstellen & Präsentieren, 2009,
http://www.grundschule-harmonie.de/artikel-pdf/Artikel_2_pdf/Techniken%20zum%20Arbeiten,%20Darstellen%20und%20Praesentieren.pdf