Walter Hövel
Freinet auf einem anderen
Kontinent
Bericht von einem internationalen Treffen (RIDEF)
Hinflug ...
In Heathrow, auf dem Flughafen in London, stellte der britische Offizier 1998 fest, dass mein Pass nicht mehr gültig war. Ich war noch mit dem abgelaufenen 14 Tage vorher in Ungarn ein- und ausgereist. Niemand sagte dort ein Wort.
"Wir, die Briten lassen Sie zwar raus, aber die Japaner lassen Sie wahrscheinlich nicht rein. Warten Sie hier auf einen anderen Offizier. Er wird Ihnen helfen." Es dauerte über eine Stunde bis er oder sie kam, aber in der Zeit klärten wir unseren Weiterflug. Wir waren damals noch zwei Frauen und zwei Kinder. Die Frauen waren die "Delegierten" Österreichs. Wir waren vom Kölner Flughafen auf dem Weg zum Internationalen Treffen der Freinetleute in Japan. Ich musste zurückbleiben und einen Tag später nach Tokyo fliegen und dann alleine durch Japan zum Treffen.
Ich fand ein Zimmer am "Eaton Place", was ich aus einer englischen Fernsehserie kannte. Am nächsten Morgen um 7 Uhr war ich auf der deutschen Botschaft in London. Gegen alle Erwartungen war man dort sehr nett zu mir und ich erhielt einen „grünen Pass“, der dann ein Jahr – allerdings ohne Verlängerung - gültig war. Mit ihm kam ich mit einem deutschen Botschaftspass durch jede(!) Zollkontrolle.
In Japan angekommen
...
Am nächsten Tag kam ich in Tokyo an und fand meinen Weg über viele Kilometer zum richtigen Bahnhof nur unter der Erde (!) mit Hilfe vieler giggelnder, hilfsbereiter einheimischer Städter. Die Tradtion schreibt es in diesem Land vor Fremden zu helfen. Dort waren mit mir im Zug die ersten von mir mit mobilen Telefonapparaten gesehenen Menschen. Drei von vier, sie saßen mir gegenüber, sprachen in ihre Handis. Es waren die ersten Handis, die ich sah. Ich kam mir vor wie in der Zukunft. Ich fuhr mehrere Stunden mit dem Zug bis ich beim Treffen ankam. Damals war ich nur alleine mit mir.
DasTreffen ...
Ich war jeden Tag in einem Atelier, wo ich zu einem Text auf Japanisch rudern und singen sollte. Ich kam mir sehr blöd vor - wie in der Schule. In einem Kurzzeitatelier trommelte ich auf sehr großen Trommeln. Als ich hörte, dass dies Kriegstrommeln waren, hörte ich auf zu trommeln. Viele, auch Deutsche, machten um so begeisterter weiter. Andere sagten, dass sie aus Höflichkeit weitergetrommelt hätten.
In einem anderen Kurzzeitatelier lernte ich eine freie Schule in Tokyo kennen. Es war Tokio-Shure. Sie gefiel mir. Hier gingen die Schüler*innen hin, die ihr Gesicht verloren hatten, weil sie die Schule schwänzten. Dortige Lehrer*innen haben selten Disziplin-probleme, weil die besten Schüler*innen die Klasse ohne die Lehrer*innen leiten. Die Schüler*innen von Tokyoshure "besuchten" solch ein autoritäres Schulsystem, in dem nur "Leistung" zählt, nicht. Sie gingen ab 19 Uhr abends in die Schule. Es gab einen festen Stundenplan. Aber zum Beispiel begeisterte mich, dass ein Schüler mit seinem Lehrer, der wie der Schüler lernte das Saxofon zu spielen. (Das ist zwar "bildungstechnisch" ein Fiasko, aber besser als das gängige Schulsystem). Schüler*innen führten einen Tanz auf. Die dickste und scheinbar unbegabteste Tänzerin führte die Gruppe an.
In einem weiteren Kurzzeitatelier lernte ich die Teezeromonie kennen.
Ich dachte oft an die „mathematische Besprechung“ der Schüler*innen, in der verschiedene, individuelle Lösungswege im Mittelpunkt standen. Von ihnen war auf dem Treffen nichts zu sehen. Mein Sohn, machte in anderen Gruppen mit Kindern mit. Er erzählte, dass etwas großes Schwarzes mit ihm im Wasser des Flusses schamm. ...
Ich war sehr enttäuscht von den Lehrerinnen und Lehrern, was sich von da an bei mir noch mehr festsetzte.
Männer und Frauen ….
Die Männer und Frauen tranken sehr viel grünen Tee. In fast jedem Raum stand ein Automat mit dem Gebräu. Die mir kennengelernten Inländer*innen waren sehr unselbständig und erst eine Frau war im zigsten Telefonat in der Lage uns eine Übernachtung in einem Tokyoer Dormatorium ("Übernachtungsstätte") zu besorgen. Die Männer brauchten wirklich das Netz und ihren Computer, um ihr Leben zu organisieren.
Ein Mann stellte unsere Teilnahmetestate aus. Neben einem Stempel mit seiner Unterschrift, bestätigte er dann neben dem Stempel mit einer Unterschrift, dass dieser echt war. Er schaffte 17 Testate, bevor er von seiner Assistentin eine Nackenmassage bekam, weil er vollkommen erschöpft von dieser Arbeit war. Ich hatte damals den Eindruck, dass nur Frauen diese Menschen retten konnten. Heute setze ich neben der Gleichberechtigung auch auf Kinder. Sie lernen erst ohne und dann in und mit vielen Sprachen zu denken. Ihr Denken und ihre Entscheidungen sind anders als die der Erwachsenen. Später werden sie unter den jetzigen Bedingungen erwachsen.
Unser Haus ...
Wir waren in einem Haus untergebracht, wo fast alles, vor allem Holz und die Elektrik, draußen standen. Und das in einer Jahreszeit, in der es sehr warm war und fast immer regnete. Alles befand sich recht ungeordnet vor dem Haus im Freien. Das schönste waren große weiße Lilienblüten, als ich einige Meter in den Wald ging. Unser Zimmer bestand eigentlich nur aus einem Futonbett, dass in einem Zimmer mit einer Schiebetür war. Eines Abends wurden wir zum Essen eingeladen. Ich erinnere mich noch an viel Sushi mit leckerem Reisschnapps (Sake). Als wir es uns nach dem Essen gemütlich machen wollten, waren aber schon die nächsten Gäste aus Europa da, denen wir unseren Platz an niedrigen Tischen (wir saßen auf Kissen) anzubieten hatten. (Oder es kamen auch „nur“ die Damen und Herren des RIDEF-Vorstands nach uns). Wir empfanden es damals als „Clash der Kulturen“.
Kultur ...
Natürlich wurden wir auch in Busse verfrachtet und zu "Sehenswürdigkeiten" gefahren. Wir hielten zwecks Pinkelpause an einer Autobahnraststätte und hier gab es tiefgefrorene Schlangen und getrocknete Schildkröten, wohl "küchenfertig" zu kaufen. Mein Sohn machte sich einen Spaß daraus, getrocknete Heuschrecken in Honig an uns zu verfüttern.
Wir sahen einen "Schrein" in einer riesig angelegten, sehr alten Natur. Wir sahen woanders sehr rote Bilder vom Atombombenabwurf aus Nagasaki. Eine Fremdenführerin sagte: "Die Japaner hätten die Atombomben verdient gehabt". Ich widersprach laut mit den Worten, "Kein Mensch hat es verdient umgebracht zu werden". In Erinnerung blieb mir, dass japanische Soldaten im Namen ihrer Herren Riesenmasaker an Kindern, Frauen und Männern in der Manschurai begingen. Angesichts von einwandfrei japanischem Militär auf den Straßen, behauptete ein Inländer, das Land hätte keine Armee, ... und grinste.
In Tokyo ...
Ich erinnere mich an den blauen Müllsack mit einer weglaufenden Kakerlake an einem MacDonalds im menschenüberfüllten Tokyo und an das künstlich aussehende, in Plastik gegossene Essen im Schaufenster eines Restaurants. Ich erinnere mich an die große Kreuzung, wo der gesamte Verkehr anhielt und alle Menschen überkreuz alle auf einmal über die Straßen gingen. Ich erinnere mich an den Augenblick, in dem das einzige Mal in meinem Leben, in meinem Gehirn sich Lärm und Bewegung in zwei Wahrnehmungen trennten.
Ich erinnere mich wie kilometerlange Laufbänder, die ich heute von Flughäfen kenne, durch Tokyo führten. Sie führten zu einem riesigen Platz zwischen Regierungsgebäuden, auf dem noch ein(!) Mensch ging, während nur hundert Meter weiter Zehntausende die Straßen füllten. Ich erinnere mich an Polizeistationen, die im Kilometerabstand die Wohnstraßen Tokios prägten und dem Koriander in den wenigen Vorgärten gezüchtet. Ich erinnere mich an unser Dormitorium ohne Fenster im Zimmer.
Ich erinnere mich an die Bank auf der wir saßen. Dort liefen Ameisen auseinander, wenn ich im Sitzen in die Hände klatschte. Wahrscheinlich war dies in diesem Land durch die häufigen Erdbeben anders als bei „unseren“ Ameisen, die kein Klatschen stört.
Zum Abschied wollten die Flughafenbesitzer in der Hauptstadt noch 20$ haben, damit wir wieder raus aus dem Land kamen. Das schafften sie bald ab.
Andere …
Andere als ich haben den Aufenthalt bei dieser oder einer anderen RIDEF bestimmt anders erlebt. Der offizielle Bericht von Ingrid Passlack vom japanischem Treffen ist mir bekannt.
Viele Jahre später und vorher besuchte ich wieder mit Krakau in Polen, in Oer-Erkenschwick in Deutschland, in Ysper in Österreich, in Finnland, in Poitier in Frankreich und in Villa Vicosa in Portugal einige internationale Veranstaltung der Freinets in Italien, in Reggio d'Emilia. Ich lernte die Reggio-Pädadgogik kennen und immer neu die RIDEFs, immer noch gute internationale Werbeveranstaltungen. Aber es waren nie Oasen einer besseren Pädagogik und Demokratie.