Walter Hövel

Das Ende einer demokratischen linken Politik

 

Lieber Mattias!

Ich glaube nicht an diesen Krisengedanken. Die Freinetbewegung war immer, solange ich sie kenne, „in der Krise".

Es gab allerdings Zeiten, und da gebe ich dir Recht, wo mehr über uns selbst geschrieben und gesprochen worden ist. Eine Streitkultur gibt es bei uns (nicht) mehr. Wir bevorzugen jetzt Wahl"kämpfe" und den Rückzug in unser privat-soziales und selbst-psychologisches Individuum.

Seit jenem Pfingsttreffen, das dem Wingster Sylvestertreffen folgte, wo der Streit zwischen den "Roten" und "Blauen" (sie wurden nach der Farbe des Filzstiftes benannt) begraben wurde, war der selbstgezahlte Preis, die Aufgabe von Politik und Streitkultur.

Seither glaubt jede und jeder zu wissen, dass das Streiten keinen Zweck hat, weil es zu sehr verletzt, und weil so wie jetzt jeder Freini macht, was sie oder er will. So machen alle das Gleiche. Alles was getan wurde, war Einzelinitiative von Freunden, weniger Interessensgemeinschaften, begleitet vom Vorstand. Innerhalb der Freinetbwegung gibt es - außer der Redaktion - kaum mehr Initiativen. Frau oder man schweigt oder spricht durch andere Mikrofone. Freinet ist keine Bewegung mehr. Freinet wurde zum Verein. Freinet wird uninteressant.

Der Vorteil dieser Entwicklung ist eine große Vielzahl und Vielfalt in der Entwicklung und unserer Pädagogik selbst. Nichts und niemand konnte unsere Experimente, Neuerungen, eigenen Wege oder unsere Eigeninterpretationen behindern oder verhindern. Aber dies führte zu Entwicklungen weg von der Freinetpädagogik, oder zur Bereicherung und Modernisierungen einer Pädagogik ange-sichts der nicht lösbaren Probleme des schulischen Alltags. Viele probieren den Weg der privaten Schulen, ander fördern die staatliche Schule. Alle, die das wollen, lernten mehr Demokratie, das Freie Schreiben, den eigenen Zugang zur Mathematik, eigene Themen zu erforschen und zu bearbeiten, den Ablauf für die Elektronik zu schaffen und das alles in den Ablauf von Zwangsschule einzubringen. Andere begannen sogar die Schule zu verlassen und Kinder im eigenen Lernen, in ihrer Autonomie zu bestärken. Die Freinetpädagogik blieb „der Zeit voraus“, weil sie sich auf die Kraft der Kinder und Jugendlichen verließ. Einige versuchen „die Pädagogik“ zu retten, andere sich (vergeblich) gegen den Mahl- oder Malmstrom der Zeit zu stellen.

Oder um es anders zu sagen: Wenn wir einmal an ein Gleichgewicht von zentralen und dezentralen Aktivitäten, also Regionalgruppen und der Gesamtbewegung Verein, Geschäftsführung und Vorstand geglaubt haben, so hat sich etwas anderes entwickelt. Die Dezentralisierung ist bestenfalls bei Einzelpersonen, Freundeskreisen, seltener bei Fortbildungsveranstaltungen oder gar Treffen-vorbereitungsteams angekommen. Regionalgruppen gibt es kaum noch. Die Kraft der Treffen ist Vergangenheit. Die Zentralisierung kennt noch eine Geschäftsführung mit Vertrieb, der sich selbst so darstellt als wirtschafte er sich bankrott. Und es gibt einen „Vereins“-Vorstand, der nicht initiiert, sondern nur umsetzt, was er auch selbst tut.

Vielleicht ist dieser Zustand noch gesund, wenn ich mir andere Vereine in Deutschland, oder z.B. die Freinetbewegung in Italien oder Frankreich anschaue. Wir scheinen noch recht lebendig.

Aber zunehend sind Leute mit sich selbst unzufrieden. Sie mögen nicht den Zustand des Vereins, die grassierende Nichtverbreitung in der unterrichtlichen Unterrichstspraxis bei gleichzeitigen staatlichen Lobgesängen auf unsere Techniken und Fähigkeiten, unzufrieden mit fehlenden politischen Aktivitäten, unzufrieden mit der geringen Zahl von praktizierenden Freinetpädagogen, unzufrieden mit der Verwaschung des Begriffs „Freinet“.

Ist das nicht gut so, dass die Leute unzufrieden sind? Ist das nicht ein Grund darüber nachzudenken, was wir früher einmal besser gemacht haben? Was wir weiter so tun sollten wie bisher? Was wir anders machen sollten? Was wir Neues erfinden oder schaffen sollten?

Mir nützt da der „Krisenbegriff“ nichts. Er kommt mir zu sehr aus der „altlinken“ Tradition. Ich habe kein Interesse an Strategiekongressen mit anhängenden Diskussionen, mit „Richtig-Falsch-Analysen“ anhand der „klar definierten Ziele“, „fälligen Konsequenzen“ und der „anschließenden Krisenbekämpfungsbeschlüssen“, die nicht umsetzbar, von niemandem umgesetzt werden.

Ich möchte das Ganze lieber als Lernprozess (Es braucht dann allerdings kluge Menschen, die das auswerten), ich möchte lieber sytemisch (statt in Systemen) denken. Was bei uns funktioniert ist unsere Vielfalt und Eigendynamik, aber was ist mit der Selbstorganisation, der Wechselwirkung, der Vernetzung, der Rückkoppelung in Freiheit? Was ist mit der Kooperation, die uns so wichtig schien?

Ich sehe den Zusammenhang zwischen Ökonomie und Inhalt hier und so überhaupt nicht. Wenn sich die Herstellung und der Verkauf von Materialien lohnt, sollen wir sie fortsetzen. Lohnt es sich nicht, sollte dies im kommerzellen Sinne abgeschafft werden.

„Lohnen“ bedeutet für mich, dass nicht nur Arbeitsplätze als Arbeitsplätze erhalten bleiben, sondern dass so viel Geld erwirtschaftet wird, dass freinetische Veranstaltungen und Kongresse veranstaltet werden können. Diese sollen eine internationale Solidarität zeigen, internationale und nationale Kontakte pflegen. Wir können Bücher und Materialien herausgeben, die wir für uns(!) veröffentlichen und nicht (nur) weil sie sich gut verkaufen. Wir werben für die Freinetpädagogik, wie wollen die eigene Arbeit finanzieren.

„Lohnen“ heißt für mich, dass wir aus diesem Zustand herauskommen, dass einige Freinis ihre Produkte zur Herausgabe nach Bremen schaffen. Die Geschäftsführung lernt die Materialien und Ideen vor Ort abzuholen. Sie und die Hersteller der Materialien werden Profis.

„Lohnen“ heißt für mich nicht, dass die Bewegung sich seit 20 Jahren mit dem Erhalt und der Ausdehnung der Arbeitsplätze in Bremen beschäftigt. Sie kümmern sich besser um die Arbeitsplätze, um die Ausweitung der Freinetpädagogik, dem Funktionieren eines Vereins neuer Qualität, die Beschaffung staatlicher Gelder, etc. Wir müssen aus unserer defensiven Haltung herauskommen.

Damit ich nicht missverstanden werde: Ich plädiere nicht für die Entlassung von Annette, Gesa oder Beate. Ich plädiere für ein modernes Konzept von selbstorganisiertem Management einer Bewegung, nicht dem 'Alles-so-lassen' oder dem 'Wie-die-Industrie-machen' oder dem 'Malsehen', dem 'Es-geht-alle-seine-Gang'. Unser jetziges Management ist eine Kreuzung aus 'Geschehenlassen', Verhalten von Gewerkschaften, basisdemokratischen Bürgerinitiativen, einem Restverständnis sozialistscher Lehrervereine und grüner Anpassung.

Es ist nicht(!) das Freinetmodell der Kooperative, obwohl wir so heißen. So etwas wie Celestin Freinet in den 20iger Jahren anleierte, konnte nur funktionierem solange erlebte. Es war auf seine Person zugeschnitten. Er hielt mit 40 Briefen pro Tag und seinem Charisma den Verein zusammen. Wir brauchen ganz andere Formen, Formen der direkten, individuellen Demokratie, also auch andere als die vor zehn Jahrem vorgeschlagenen. Ich teile die Auffassung, dass dieser Zug abgefahren ist.

Der Vorstand beschäftigt sich mit einer „Bremer Krise“, während andere die Frage stellen, was heute Freinet überhaupt ist.

Der Lernprozeß der letzten Jahre ist der, dass die Geschäftsführung, die „Mitlieder“versammlung, der Vorstand möglicherweise(!!) eine solche Initiative nicht aufgreifen, verhindern oder zerreden würden. Die Hundert-jahrfeier in Kassel hat Herbert Hagstedt gemacht, ein deutsch-französisches Freinetsymposion in Heidelberg Ingrid Dietrich, die FortbilderInnenfortbildung Walter Hövel, die Altenmeller Grundschulteffen eine Gudrun Maaser, PrinzHöfte Wolfgang Mützelfeld und Lutz Wendeler, einen Kooperationsvertrag mit der Uni Riga eine Ulrike Waterkamp, eine Essener Lernwerkstatt Rolf Wagner und Margret Öllrich, …

Kaum jemand hat mehr den Mut, die Lust, die Unvernunft, den Nerv, die Zeit, die Kraft sich zu streiten. Während sich eine Mitgliederversammlung mit der Namensgebung unseres Vereins beschäftigt, schreibt Helmut Lange alleine an seinem Buch und Johannes Beck macht seine Seminare auch ohne Freinis.

Wie beim Staat sind die immer gehörten Parolen: 'Kein Geld, keine Zeit, keine Leute' .