Walter Hövel
Eine
Freinet-Aus-Bildung?
Weit vor meiner
Zeit in Harmonie und meiner Teilnahme an Freinet - Zertifikaten
Auf die Frage wie LehrerInnen zu FreinetlehrerInnen wurden, wird oft mit "irgendwie" oder "Zufall" oder "auf eigenem Weg" beantwortet. Niemand kommt auf die Idee, es hätte kein „Werden“ gegeben. Der Gedanke einer „geordneten gemeinsamen Ausbildung“ spukt aber durch die Köpfe von LehrerInnen und DozentInnen.
Ich behaupte eine „geordnete Ausbildung“ gab es nie. Ich behaupte, es gibt aber eine Bildung, und das in allen Ländern. Die Entscheidung liegt eh bei den einzelnen Menschen. Die Kindheit, die Jugend, das Leben und die „Realität des Berufs“ sind die Bildung, die jeder Mensch schon bevor sie oder er sie absolvierte, bevor sie oder er auf „Freinet“ stieß. Es sind Menschen, die schon wer in der Pädagogik sind oder MitstreiterInnen suchen. Sie wollen mehr lernen und schließen sich der Freinet-Bewegung an. Sie haben etwas Pädagogisches, Psychologisches, Soziologisches, Philosophisches oder Politisches zu sagen.
Dann haben sie den Wunsch, dies nicht alleine zu sagen. Viele wollen sofort, in ihrer Praxis etwas tun. „Freinet“ bietet ihnen eine Plattform dafür. Freinetpädagogik ist für jede/r etwas anderes. Freinet ist nichts als eine sich mit der Zeit verändernder demokratisch-pädagogischer Inhalt und kooperative Form.
Ich selbst nannte mich lange in der Freinetpädagogik nicht "Freini". Ich lehnte es ab. Wenn ich das dann doch ein"Freini wurde", ist es eine Kapitulation. Ich gab auf, mich immer wieder zu erklären. Ich bin lieber ein Kooperierender mit politischen Anspruch. Ich gehe gerne und oft über das Lager der Freinetpädagogik hinaus und fühle mich durch die Kooperation als Freini.
Oft überlege ich, dass die wiederkehrende Wiederkehr der Treffen der Freinis, die "Stage", jemanden zum Freini macht. Für andere ist es der permanente Austausch, der Demokratiebegriff oder das immer weiter Veränderbare an der Pädagogik.
Oft befürchte ich, dass eine "zu sehr geplante Freinet -"Ausbildung die Menschen entpolitisiert und "Freinet" abschafft. Ich halte Aus-Bildung für Bahnen zur Lenkung eines Flows, eine Richtung für ihre Einbettung in der Zeit oder ein Unwichtigmachen für eine Veränderung.
Ich halte es allerdings nicht für falsch, eine Pädagogik der Ecole Moderne zu verbreiten, auch über "Bildungswege". Es kommt aber darauf an, wer das macht. Es kommt darauf an, dass es Menschen machen, die das, was sie lehren oder lernen lassen, selber mit LernerInnen, also in ihrer Praxis und Theorie können. Ich suche Menschen, die mit Arbeiter – und Bauernkinder bei deren Lernen mitkamen. Ich lege Wert auf die Reihenfolge, ich lege Wert darauf von einer sich ständig wandelnden Praxis, von der pädagogischen Erfahrung zu Theorien zu kommen. Dabei vergesse ich nie, dass Bildung vor allem für Unterprivilegierte, also die Lernenden der Arbeit und des Müßiggangs ist. Es gibt eine Benachteiligung, wenn Geld, Macht und Familien herrschen. Und in der Bildung tun sie es. Sie tat es zu Zeiten der Freinets und auch heute noch.
Eine eigene Ausbildung seiner ErzieherInnen und sehr verschiedenen LehrerInnen betreibt der Staat mit fast 100%. Nur die Montessori - und die Waldorfpädagogik haben Eigenes.
Bei den Montis lernst du in (Diplom)-Lehrgängen den Gebrauch ihrer Mathematikmaterialien, weitere Kindergarten- und Grundschulmaterialien, die kosmische Erziehung und anderes in sehr verschiedenen Zusammenhängen. In der Regel findest du staatliche oder freie Schulen und Kindergärten, die einen "Montessorischwerpunkt" anbieten. Hier gibt es eine sehr etablierte katholische Pädagogik bis zu reformpädagogisch - progressiven Ansätzen.
In der Waldorfpädagogik findest du Kindergärten und Schulen, die aber alle in eigener Trägerschaft blieben. Alle sind "freie" Institutionen. Waldorfianer machen eine eigene LehrerInnenausbildung, die sich allerdings an staatlich vorgegebene Richtlinien halten. Der ihnen wichtigere Schwerpunkt ist die Lehre von Rudolf Steiner.
Viele Freinis versprechen sich durch Imitationen dieser Ausbildungen bis zur eigenen Füllung eine größere Langlebigkeit und Verbreitung zu erhalten, einen höheren Bekanntheitsgrad oder das Überleben ihrer Pädagogik zu erreichen. Ein entscheidendes Problem ist dabei allerdings, dass Elise und Célestin Freinet, noch Tausende ihrer Anhänger keine Freinetpädagogik gründeten. Sie wollten in Frankreich und international eine "Bewegung der Modernen Schule" sein. „Freinet“ ist weder eine Reform- noch eine alternative Pädagogik.
Viele fordern jetzt den Schritt zu einer zeitgemäßen, anstehenden Entwicklung zu machen. Doch ich schildere aus meiner Sicht zuerst die Bildung der deutschen Freinetbewegung selbst. Ich fordere eine linke demokratische Entwicklung. Ich fordere ein klares Auftreten für die Menschenrechte, gegen Ausbeutung, Rassenhass, Krieg und eine kaputte Welt.
Deutschland hatte eine sehr konservative Ausrichtung der Reformpädagogik etwa durch Kerschensteiner und Petersen. Die Landschulheimbewegung oder die entschiedenen Schulreformer wollten weiter kommen. Sozialistische Kräfte von Hugo Gaudig bis Fritz Karsen schafften einiges. Kommunistische Kräfte wie Edwin Hoernle oder Margit Honecker blieben eher hängen. Der deutsche Faschismus zertrat mit seinen Stiefeln alle Ansätze einer demokratisierten Bildung, so wie die ersten Kontakte der Freinetpädagogik mit Deutschland.
1922 muss Freinet in Deutschland einen Besuch und eine Rede von Célestin Freinet gegeben haben1. Später gibt es Kontakte zu Peter Petersen. Freinet spielt im 2.Weltkrieg eine wichtige Rolle in der französischen „Resistance“2.
Ich kenne dann keine Kontakte mehr vor meiner Geburt von 1933 bis in die 1950er Jahre. Obwohl ich ein Buch3 besitze, 1934 in Deutschland herausgegeben, das Freinet erwähnt. Erst nach dem Krieg entstehen neue Kontakte. Deutsche LehrerInnen übernehmen damals den Standard der französischen Freinetpädagogik. Hunderte LehrerInnen scharen sich um Professor Hans Jörg von der Uni Saarbrücken. Er wird der Übersetzer und Verbreiter der Pädagogik von Freinet. Er traf Freinet 1956 und gründete erst 1977 den „Arbeitskreis Schuldrucker (AKS)“
Hans Jörg verneint einen politischen Anspruch der Freinetpädagogik. Im Mittelpunkt der Arbeit der Schuldrucker steht das Drucken, die Arbeit mit Karteien, die individualisierte Arbeit der Kinder und das Selbstverständnis dieser KollegInnen , die sich – wie die französischen Vorbilder – auf ihren Treffen austauschen. Sie bilden sich gegenseitig fort und erproben Freinettechniken an sich selbst
Die deutsche Freinetbewegung entwickelt sich bis 1968 analog zur französischen. Mit den jungen LehrerInnen einer westeuropäischen Befreiungsbewegung kommt neuer Wind, ein neues Politikverständnis auch in Deutschland zum Zuge. Es gründet sich in an der Uni Bremen und an der Uni Freiburg um Professoren wie Johannes Beck eine neue Freinetbewegung, die „Pädagogik-Kooperative“.
In den Mittelpunkt kamen noch deutlicher die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenrechte, eine kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt, die Autonomie des Lernens vor allem der Kinder, die demokratische Kooperation und die gegenseitige Verantwortlichkeit. Dies konnte mit der Begegnung der Freinetbewegung und dem politischem Wachwerden der Intellektuellen initiiert werden.
Es entsteht eine andere offene Pädagogik, die nach Freiheit schreit. Nach fast 50 Jahren kommt es zu einer politischen Wiederentdeckung der Reformpädagogik und zur Wiederbelebung des Versuchs der Abschaffung der gesellschaftlichen Selektion in der Bildung. Es wird die Forderung nach Einheits- und Gesamtschulen selbst in der Tat realisiert. Der Gedanke linker LehrerInnenzentren in Basisgruppen lebt, ….
Junge LehrerInnen in den Schulen und Kindergärten und solche, die „so einen Scheiß“ nicht mitmachen wollen, Generationen von StudentInnen der sehr verschiedenen ErzieherInnen und LehrerInnen erwachen. Vor allem DozentInnen der Universitäten entdecken die Freinetpädagogik für sich. Sie erscheint als das was sie ist: Sehr anstrengend, sehr ungewohnt und neu, nicht leicht und ohne Widerstände zu installieren. Aber sie ist ideal, weil sie ihre gültigen und gedachten demokratischen und politischen Ideale manifestiert und materialisierbar macht. Aber Vorsicht. Die Mehrzahl der Herrschenden und der sie Unterstützenden will solche Veränderungen, vor allem in der Erziehung und Bildung nicht.
Es sind in der jetzigen Wendezeit nicht mehr nur die Hans Jörgs, Theodor Rutts und Rita Süßmuth gefragt (sie alle übersetzten oder zeigten Freinet). Es sind nicht die HochschulpädagogInnen wie Ingrid Dietrich, Herbert Hagstedt, Jörg Ramsegger, Horst Rumpf, Reiner Ubbelohde, Johannes Beck, Ulf Preuss-Lausitz und sehr viele andere mehr. Es sind die Adressen der Gruppen der Pädagogik-Kooperative. Es sind ihre vielen Fortbildungswochen und Freinettreffen, wo du dich selbst bilden kannst.
Sie, oft ohne Freinetzusammenhänge, führen den Klassenrat in die Schulen ein, Kinderparlamente, das Forschen, das Tasten und Versuchen, das Schreiben freier Texte, sie präsentieren Gelerntes, Arbeiten mit Computern, sie zeigen tiefen Respekt vor den Mathematerialien der Montis, den Lernen in kindereigenen Projekten und dem Verlassen der Schule. Sie sorgen dafür, dass Kinder selber lernen, fragen und tun. Sie fördern das Experiment genau so wie die Kunst oder die Musik als Möglichkeit zu lernen, sich selbst auszudrücken. Sie lieben andere Sprachen, die Neumontage unserer Gesellschaft und die Demokratie. Sie bringen das Theaterspiel in all seinen Formen in die Hände der Kinder, das Essen, ihre Herkunft und Kultur.
Es entwickeln sich verschiedene Freinetstile, die „Schuldrucker“, eine bei internationalen Freinettreffen bekannte „Kölner-Freinet-Cooperative“, die Bremer „Päd-Koop“, die vielen nicht organisierten Freinis. Es entwickelt sich eine Zusammenarbeit mit ökologischen, systemischen Kräften, mit der Lernwerkstättenbewegung, mit ersten Freien Schulen, mit den ersten Freinet-Schulen überhaupt, usw. usf. Ihr Stil ist in Berlin, Freiburg, Bremen, Hamburg, Kassel, Köln, Essen oder Darmstadt geprägt. Oder ihr Stil kommt aus der HU, der GEW, dem Arbeitskreis Grundschule, der Revier Kooperative oder Altenmelle. Er kommt aus den Ländern und verschiedenen Schulformen wie Kindergärten, Grund-, Sonder-, Gesamtschulen oder Universitäten. Viel wird geschrieben oder herausgegeben. Es entstehen Unterrichtsmaterialien, Karteien und Verlage. So erscheinen deutsche Machwerke in anderen Ländern und sogar im Mutterland Frankreich.
Die Freinis entwickeln sich auseinander, während andere ein Zusammenwachsen betreiben. Die einen experimentieren in ihrer Praxis, die anderen suchen Erklärungsmodelle und Wissenschaften, wieder andere Suchen das Drucken und den alten Freinet. So entwickelte sich auch neue und alte Wege der Eigenbildung
Die Freinis begegnen dem Lernen mit allen Sinnen, dem Werkstattunterricht, dem Lesen durch Schreiben, der Gestaltpädagogik, der Open Education, Schüler aktivierendem Unterricht. Alles geht mit Freinet und Freinet beeinflusst alles. Selbst Richtlinien und eine europäische Pädagogik werden beeinflusst. Eine der letzten (korrigierende) Übersetzung ist die der „Politischen Ziele der Freinet- Pädagogik“. Der Höhenflug der Freinetpädagogik geht weiter. Wie lange?
Wir werden zu Spezialisten der „Freien Arbeit“, der „Wochenpläne“, der „Klassenräte“, der „Öffnung“, für „fächerübergreifende Projekte“, der „Kooperation“, der „Teamarbeit“, „ganzheitliches Lernen“, „Demokratie“ oder „Kreativität“
Doch die Freinis machen den Fehler aller Veränderer, unerfahren im Herrschen. Sie beschäftigen sich mit sich selbst und merken nicht, dass sie abgehängt werden. Freinis sind nicht wichtig in Kommissionen und Ministerien. Sie verwechseln Pädagogik mit Bildung, education und school. Sie verwässern, werden wieder unpolitisch und lieber nur psychologisch. Sie vergessen, was Paul le Bohec sagt: Pädagogik ist Politik und Psychologie.
Ihre Bildung erhalten Freinis in der staatlichen oder freien Schule, nicht vom Katheder. Sie erhalten sie dort, wenn es den Freinis gelingt dort das Leben hinzuholen.
So sind Freie Texte eigentlich „Texte des Lebens“. Fortbildungen sind höchstens ein Grund sich noch öfter zu treffen. Aber viele wollen eine Ausbildung anstelle von Treffen.
1Herbert Vogt, https://www.socialnet.de/lexikon/Freinet-Celestin
2Ulrich Hecker, https://freinet-kooperative.de/grundlagen/einfuehrung/biographie-celestin-freinet/
3In: „Geschichte der pädagogischen Einrichtungen und Ideen. Bd. 3,zweiter Teil, II. Josef Schröteler. Die Pädagogik der Gegenwart in den großen Kulturländern“. Freinet wird auf Seite 110 zitiert mit: „L'imprimerie à l'école“ und auf Seite 112 unter „Die Pädagogik Frankreichs 1900 – 1930“. Es wird von der „Schuldruckerei als besondere Technik“ berichtet. Sein Unterricht wird hier als „Einheitsunterricht“ bezeichnet.