Walter Hövel

 

Die Freinetklasse ist ein lebendes Rechtssystem
(geschrieben 1995, transskribiert 2020 und leicht verändert)

 

 

 

Um den Umgang der Lernenden in einer Freinetklasse mit den eigenen Rechten zu verstehen, um den Umgang der Lehrenden mit den Rechten der Lernenden und den eigenen zu verstehen, muss zunächst der Umgang der Freinetklasse mit sich selbst verstanden werden. Oder um es anders – als Frage – auszudrücken: „Wie funktioniert die Demokratie in der Freinetklasse?“

 

 

 

Viele Lehrer*innen haben die Erfahrung gemacht, dass sie mit dem Versuch der Demokratisierung, dem „Zulassen“ freierer Verhaltens- und Arbeitsformen irgendwann stehen geblieben, wenn nicht sogar gescheitert sind. Sie scheiterten an Systemen (Schule, Elternschaft, Kollegium, Schulaufsicht) und den Reaktionen de Betroffenen (Schülerschaft).

 

Sie haben mit besten Absichten begonnen, um mit Schmerzen, Ärger und Wut ihre Versuche einzustellen und sich jedem System anzupassen oder sich mit dem zu arrangieren, was um sie herum herrscht. Resignierend suchen viele nach den Schuldigen: das gesellschaftliche System, das verkrustete System Schule, die Kollegien, die Eltern, die Schulleitungen, die Schüler*innen oder eben der Mensch an sich.

 

Es fällt nicht schwer, Bestätigungen für diese Schuldzuweisungen zu finden. Viele Lehrer*innen finden sich damit ab, dass sie in einem System Schule arbeiten, das sie eigentlich als undemokratisch ablehnen. Aber sie finden nicht den Weg es zu verändern. Die einen passen ihr Demokratieverständnis den herrschenden Verhältnissen an und/oder werden zu Einzelgängern.

 

Dies führt zu einem fatalen Ergebnis. Die Lehrer*innen geben den Schüler*innen und sich selbst (!) die „Schuld“ für ihre eigene berufliche „Unfähigkeit“. Oft genug sehen sie den Grund dafür in der „Demokratisierung von Unterricht“. Sie werfen sich vor den Unterricht so demokratisiert zu haben, wie sie es sich vorstellten.

 

Hieraus entstehen Verdrängung, Verbitterung, Konkurrenzspiele, innere Kündigungen, Burnouts oder Jobmentalität. Hieraus entstehen eine tiefe Skepsis, Misstrauen, eine übergroße Vorsicht gegenüber allen, die behaupten, sie könnten den Unterricht demokratischer gestalten.

 

„Aber das mit den Rechten ist Augenwischerei, aufgesetzt, gar nicht möglich, … wo bleiben die Pflichten, ja bei Ihnen klappt das ja vielleicht, … das ist ja vielleicht“. Sogar ironisch oder nicht: : „Ihr Freinis habt wohl den Stein der Weisen gefunden. Ich würde ihnen ja gerne glauben, aber ...“.

 

 

 

Für Freinet-Pädagog*innen ist es schwer zu erklären, Warum „es“ in ihren Klassen mal gut, mal weniger gut funktioniert. Zum einen ist das Umgehen mit der Demokratie in der Klasse, die Demokratie des Lernens nicht einfach eine Frage der Formulierung in Lehrbüchern oder Vorträgen. Es ist eine in Jahrzehnten geronnene Praxis der Einstellung und des Handelns. Diese bringen sich Freinetpädagog*innen auf Treffen, in ihren Ausbildungen, in Ateliers und Arbeitsgruppen gegenseitig und selber bei. Sie erklären sich die Erfahrungen eigener in der Praxis mit sich selbst und den Schüler*innen erlernter Dinge. Sie tauschen aus, machen sich gegenseitig Mut und stecken sich gegenseitig mit dem neuesten, weiter entwickelndem Know-How an.

 

Diese Demokratie wird erst erfahrbar, wenn sie selbst auf den Treffen und in der Klasse praktiziert wird. Freinetpädagog*innen fordern nicht von sich selbst, anderen Kolleg*innen oder Lerner*innen, die fördern sich und andere.

 

Es gibt die Werkzeuge (outils) in der Freinetpädagogik, die benutzt und weiterentwickelt werden. Sie tragen in sich selbst das demokratische Potential. Es ist nicht die Didaktik des Lehrens, sondern es sind Techniken des eigenen Lernens.

 

Die Lehrer*innen unterziehen sich nicht einer „Bewusstseinsveränderung“, um zuerst ein anderes Lehrer-Schüler-Verhältnis eingehen zu können. Vielmehr verändern sich Schüler*innen und Lehrer*innen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch der Lernwerkzeuge, der Arbeitstechniken und Materialien wie Computer oder Bauklötze.

 

Entscheidend für die Veränderung ist der Gebrauch des Freien Ausdrucks, der tastenden Versuche, des eigenen und natürlichen Lernens, dem kritischen eigenen Umgang mit Welt und Umwelt. Hier spüren Lehrer*innen und Schüler*innen sich selbst... und ihre Rechte als Lebewesen. Das (!) verändert die Beziehung zu einander. Das ersetzt Schule durch eigenes Lernen.

 

 

 

Das Fehlen dieser Werkzeuge und Strukturen kann ein entscheidender Grund für die Nichtumsetzbarkeit der eigenen und von Generation zu Generation wachsender Demokratievorstellung beim Lernen sein. Die Freinetklasse ist jenes feine Geflecht solcher Strukturen: Verträge, Verbindlichkeiten, Absprachen, Autonomie des Lernens, Lernen in der Gruppe, Selbstregulierung, Sensibilitäten, Zeitrhythmen, Diversität, Menschenwürde und demokratische Rechte jedes Menschen. Es sind das individuelle und kooperative Arbeiten und der Müßiggang, es sind der Wechsel der Lernorte, die Schlagrhythmen aller Herzen und des Gesamtherzens, dem Klassenrat.

 

Der Klassenrat gibt der Klasse die immer andere und sich selbst verändernde Struktur, die die Menschen brauchen. Diese Struktur ist immer gekoppelt an das Leben der Klasse, ihre Arbeit (wobei der Begriff „Arbeit“ immer als sinnvolle, freiwillige eigene Arbeit zu verstehen ist).

 

 

 

Alles in der Freinetklasse dreht sich um die Frage: „Was können wir tun, dass wir das Leben das wir wollen, leben können.“ Und damit findet die Veränderung der Lehrer*innen als Menschen statt.