Walter Hövel

Gedanken zur „Freinetausbildung“

Zur Ortsbestimmung der Freinetpädagogik 2017

 

 

Geschrieben vor dem Jahr 2000:

 

Fragen
Seit Jahren sahen sich die FreinetpädagogInnen in vielen Ländern Europas in unzähligen Diskussionen mit der Frage konfrontiert, ob es eine Freinet-LehrerInnen-Ausbildung geben kann. Zahlreiche Fragen wurden gestellt.

 

Reicht nicht die bisherige „Selbsternennung“ zum Freinetpädagogen durch die Teilnahme an internationalen und nationalen Fortbildungen und Treffen regionaler Kooperativen?

 

Soll die Ausbildung nicht allein Sache der Freinetbewegung bleiben, etwa in Form von Bausteinen oder in Lehrgängen selbst gegründeter Institute?

 

Sollte die Freinetausbildung gegen Bezahlung angeboten werden, wie etwa ein Montessoridiplom?

 

Brauchen wir nicht sogar eine eigene unabhängige Ausbildung wie sie etwa die Waldorfpädagogik kennt?

 

Gibt es die Möglichkeit innerhalb des staatlichen Ausbildungssektors Freinetausbildungen anzubieten, da wir ja auch in der Regel in der staatlichen Schule arbeiten?

 

Sind die staatliche LehrerInnenbildung und das Selbstverständnis der Freinetpädagogen überhaupt kompatibel?

 

Sollten wir nicht in Projekten Freier Universitäten arbeiten, um mit anderen pädagogischen Richtungen gemeinsam einen neuen LehrerInnen-Lerner*innen-Typ auszubilden?

 

Muss oder darf es überhaupt noch eine spezielle Freinetausbildung in Zeiten eines sich entwickelnden modernen europäischen Curriculums geben, das sich orientiert am entstehenden Selbstverständnis eines humanistischen Pluralismus in der Pädagogik?

 

Freinet damals

In den letzten Jahren war es auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz zunehmend gelungen, sich bei Tagungen und Symposien einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Freinetbewegung begab sich mit der eigenen Pädagogik zunehmend in die wissenschaftliche und bildungspolitische Diskussion.

 

Es zeigte sich deutlich, dass sich die Freinetpädagogik in verschiedensten Erziehungsstrukturen in unterschiedlichsten Bildungslandschaften über viele Jahrzehnte sich nicht nur in der Praxis bewährt hatte, sondern eher an Aktualität gewonnen hatte, da sie offensichtlich mit ihrer Vorstellung einer "modernen Schule" auch konzeptionelle und systemische Elemente zur Entwicklung einer neuen Organisation von Schule anzubieten hat.

 

Vieles aus den Reformüberlegungen Freinets wird in der Regelschule umgesetzt, hat im „Offenen Unterricht“ oder in anderen pädagogischen Konzeptionen ihre Umsetzung erfahren. Mehr und mehr stellt sich die Fragen nach einem allgemein vermittelbaren Freinet-Curriculum für die staatliche LehrerInnenaus-, Fort- und Weiterbildung einerseits, als auch nach der Effizienz der Freinet-pädagogischen Erfahrungen, ihrer sich stetig weiterentwickelten Systemelementen, und der Herausbildung eines neuen Typus von Lehrer/in bei der Entwicklung einer neuen europäischen Schule.

 

Für die Freinetpädagogik selbst stellt sich die Frage, wie sie heute aussehen kann, ohne dass ihr radikaler Ansatz durch modische pädagogische Strömungen verwässert oder gar weggeschwemmt wird.

 

Die bloße Vereinnahmung einzelner Techniken und Ideen geht immer an den wesentlichen Aspekten und Kernideen der Freinetpädagogik vorbei. Deshalb ist es in der Verantwortung der Freinetpädagogen selbst, die innovative Weiterentwicklung vorzustellen, zu zeigen und zu formulieren, wie die Arbeitspädagogik Freinets heute aktueller denn je ist.

 

Nachdem sich die Freinetpädagogik jahrzehntelang durch den gegenseitigen Austausch von Praktikern entwickelte, ist in den letzten Jahren das zunehmende Interesse der Wissenschaft an der theoretisch kaum aufgearbeiteten Pädagogik feststellbar. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, den Freinet selbst provozierte, verliert sich mehr und mehr durch das Zugehen der Wissenschaft auf die Freinetpädagogik, als auch durch vermehrte wissenschaftliche Arbeiten von Freinetlehrerinnen innerhalb und außerhalb von Hochschulen und Universitäten.

 

 

Die weitere Geschichte nach dem Jahr 2000:

 

Der Autor gründete mit Prof. Gerhard Rabensteiner und Dr. Pia Rabensteiner die erste langjährige Freinetausbildung als Studiengang an der PH Klagenfurt. Dozent*innen waren u.a. Uschi Resch, Ute Geuß, Wolfgang Mützelfeld, Lutz Wendeler und Martin März.

 

Es folgte die Freinetausbildung der Wiener Freinetgruppe an der PH Wien durch Lisi Suttner. Hier war er mit Uschi Resch, Lutz Wendeler und einigen anderen Referent.

 

Beide PHs in Linz bieten – auch mit Martin März und Walter Hövel - seit Jahren wenigsten Lehrgänge zur Freinetpädagogik an.

 

Dann entwickelte die Freinetkooperative in Deutschland ihre eigene Ausbildung. Diese wurde u.a. von Gitta Kovermann, Lutz Wendeler und Donatus Stemmle (aus der Schweiz) geleitet. Auch hier machte der Autor den 6.Durchgang als Referent mit.

 

Parallel entwickelte der Verein „balance“ eine seit vielen Jahren stattfindende, vielleicht erfolgreichste eigene Ausbildung.

 

Freinettreffen

 

Es sind nicht mehr so sehr die früher sehr häufig stattfindenden „Freinettreffen“, die tausende von Menschen erreichten. Sie hatten ein eigenes System der Selbstorganisation. Es lebte davon, dass in der Regel die Teilnehmenden selbst die Anbieter von Langzeit- (2 bis 5 Tage) und Kurzzeitangeboten (2Stunden) waren. Programme wurden an Ort und Stelle von den Teilnehmenden selbst gemacht. Du erlebtest die Kraft der Gruppe, auch in großen Kreisen, wenn sich jedes Individuum einlassen darf. Hier wurde ganzheitlich praktisch und theoretisch, sich selbst ausdrückend, tastend, erprobend, ästhetisch mit Theater, Musik, Sprache, Bewegung oder Naturwissenschaften gelebt und erlebt, mit der „méthode naturelle“ und anderen Freinettechniken gearbeitet. Oft waren sie mehr Urlaub vom Schulalltagsstress als gezielte Eigenbildung. Sie waren die Erfahrung am eigenen Körper, dass Lernen auch anders geht.

 

Diese Treffen brauchten einen Träger. Dies waren die Freinetgruppen selbst oder z.B. in NRW die „Humanistische Union“ oder die Lehrergewerkschaft GEW.

 

Sie infizierten mit einer freinetischen Haltung. Die Selbstbehauptung, das Durchsetzungsvermögen in der freinetische Handlung im selektiven Alltag unserer Schulen war aber eine andere Frage.

 

Die Kommerzialisierung der Fortbildung durch Verlage, Stiftungen und Organisationen, die Verteuerung von längerfristigen Unterkünften und Tagungsorten und die sozialen Veränderungen im Zeitgeist, etwa durch die Verbürgerlichung der Grünen oder der Nichtselbstfindung der Sozialdemokraten, verdrängten diese Veranstaltungen mehr und mehr.

 

Es blieben die großen internationalen Treffen. Sie waren und sind hoch attraktiv. Du lernst Menschen aus aller Welt kennen, die ähnlich ticken. Sie passen gerade heute in eine Zeit, wo es gilt sich global zu organisieren und artikulieren.

 

Du konntest „Ateliers“ von größter Kraft und Güte erleben. Aber viele blieben oft auf einem niedrigen Niveau. Immer war der parallel laufende politische Selbstorganisationsteil ein Gruselkabinett. Er kam nie aus seinen veralteten Demokratiestrukturen hinaus.

 

Es kamen Tagungen und Kongresse hinzu. Gewöhnlich waren Universitäten die Träger, die Veranstalter eine Gruppe von „Freinis“. So gab es große Events etwa in Bremen, Kassel oder Heidelberg.

 

Freinet heute

 

Es entwickelten sich mehr als früher einzelne Schulen und Kindergärten mit einem freinetischen Profil. Sie entstanden als „Nester“ alter „Freinis“, als „Inseln“ durch die Mischung neuer und alter demokratischen Lehrer*innen, oder als Neugründungen, weil die Freinetpädagogik gerade heute eine Alternative zu Bestehendem ist.

 

Ohne diese Kongresse, die vereinzelten „Konzeptschulen“ und(!) die von Freinis in Kindergarten und Schule angebotenen Fortbildungen wäre vielleicht die heutige Freinetpädagogik, vormals eine „Freinetbewegung“, verschwunden. Diese „Weiter- und Ausbildungen“ erhielten Diskussion und Entwicklung an mancher Bildungseinrichtung.

 

Die Freinetweiterbildungen sorgten und sorgen für „Nachwuchs“. Viele Leitungen schicken auch jemandem aus ihrem Team zu den Weiterbildungen, um „Freinet im eigenen Konzept zu haben“.

 

Viele Menschen, auch die mit wenig Freinet auskommen waren und sind oft bei den „Freinis“ vor Ort oder über die Vereine organisiert. Viele Menschen, die mit „Freinet“ oder mit „freinetischen Elementen“ arbeiten, waren nie als „Freinis“ organisiert.

 

Zurzeit gibt es oft einen Stillstand, sogar Lashback in Gesellschaft und Bildung. Sie stehen gegen die unermüdlichen Reformbemühungen von oben (UNO, EU, Ministerien, Stiftungen) und unten („Leuchttürme“ und Vorbilder in privaten und staatlichen Schulen, vor allem aber Kindertagesstätten). Sie führen mit- und gegen einander einen mächtigen Kampf in oft schon modernisierten, aber auch in vollkommen altmodischen Systemen. Die Freinetpädagogik hat mehr als einen guten Grund bei beiden mitzumischen.

 

Deutlicher denn je ist die Unterfinanzierung und soziale Selektion der heutigen Bildung sichtbar als Problem unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Weit und breit scheint außer der Freinetpädagogik keine Pädagogik sichtbar, die Bildung, die „Moderne Schule“ als Problem unsere Gesellschaftsordnung und ihrer Politik sieht. Und das ist ihre Stärke, die es gerade heute als sofort praktizierbares alternatives, aber auch heute oft noch futuristisches Lernkonzept zu erhalten und immer weiter entwickeln gilt. Dabei bläst der Wind kräftigst von Vorn.

 

 

Nicht umsonst kannte die Freinetpädagogik immer schon Menschenrechte gerade für Kinder und das Vertrauen in die Eigenpotentiale der Kinder und anderer Menschen. Seit den 1920er Jahren tritt sie ein für Demokratie, Kooperation, Vernetzung und selbst verantwortetes freies Lernen. Sie fordert die kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt, Inklusion, Heterogenität, Diversität und die Rolle der Ästhetik und persönliche und gesellschaftliche Freiheit. Sie hat Erneuerungskraft und Lernentwicklungswissen. Sie ist hier immer noch der Zeit voraus.