Aus der Sicht eines Freinetpadagogen:
Innere Schulreform —
Hauptschule — Gesamtschule
Soll eine innere Schulreform, von der GEW als padagogische Initiative unterstutzt, die Hauptschule retten, verandern oder in die Gesamtschule uberfuhren, soll sie eine ausere Reform des Schulsystems oder der Hauptschule ersetzen oder in Gang bringen?
These 1: Reformpadagogik, unter welchen Bedingungen?
Reformpadagogisch arbeiten kann jede Lehrerin, jeder Lehrer unter jeder Bedingung: Dies ist an den rigiden, leistungsorientierten franzosischen Einheitsschule moglich (mehr als 30000 Freinetpadagogen tun dies), dies ist im brasilianischen Dorf in einem Holzhaus moglich (Freinet-Cooperative Brasilien), dies ist im Algier moglich (Freinet-Lehrer in Algerien), dies war in einem Internat mit kriminellen Jugendlichen im rusischen Burgerkrieg moglich (Makarenko), dies ist heute an jeder Grund-, Sonder oder Hauptschule, jedem Gymnasium, jeder Gesamtschule moglich, egal ob sie einzugig oder sechszugig sind, dies war in der einklassigen Volkschulklasse in der Provinz moglich (Freinet), dies war sogar unter den Bedingungen des Hitlerfaschismus an einer Zwergschule moglich (Reichwein).
Diese These ist unwiederlegbar, da dies einfach geschieht oder geschah, getreu dem reformpadagogischem Satz von Maria Montessori, das ich „schmutzige Teller auch im schmutzigsten Spulwasser sauberwaschen kann“.
These 2: Die Grenzen der Reformpadagogik
Die Grenzen dieser Art padagogischer
Arbeit sind immer durch die gesellschaftlichen
und schul- und bildungspolitischen
Verhaltnisse gesetzt und
werden auch dem entsprechend gesetzt
oder erweiter. Fur die Hauptschule
des Landes NW werden sie zur Zeit
in der Regel gefordert (abgesehen von
„besonders • weitsichtigen“ Rektoren
oder Schulraten).
Diese reformpadagogischen Initiativen
haben ihren Ursprung in der Eigeninitiative
der Kolleginnen und Kollegen,
im padagogischen Prozes des
Klassenzimmers, nicht in bildungspolitischen
Initiativen der bildungspolitischen
Verantwortlichen.
Diese Initiativen erfahren Duldung
aufgrund der Spielraume, die eine desolate
Sitaution der Schulform Hauptschule
bietet.
Diese Initiativen erfahren verbale Unterstutzung,
wo das Profil der Hauptschule
kostenneutral verbessert werden
konnte.
Diese Initiativen erfahren sogar finanzielle
Unterstutzung (z.B. Neus), wo
politisch die Hauptschule als Garant
des viergliedrigen Schulsystems erhalten.
und somit attraktiviert werden
soll.
Diese Initiativen erfaren Verstarkung,
wo die innere Dialektik zwischen innerer
Schulreform und bildungspolitischer
Zielsetzung Gesamtschule als einer
Schule fur alle verstanden wird
(z.B. GEW)
These 3: Die Grenzen der Hauptschule
Reformpadagogik an der Hauptschule stößt heute u.a. auf folgende Grenzen:
• eingeschrankte soziale Herkunft der
Schuler. Beschrankung der Schulerpopulation
durch das Fehlen der Schuler
anderer Schulformen.
• eingeschrankte, bzw. fehlende Berufs-
und Lebensperspektiven der
Schuler
• hoher Anteil auslandischer Schuler,
somit ein gesellschaftlich uberproportioneles
Gewicht sprachlicher und kultureller
Probleme
• hochste Arbeitsbelastung durch
hochste Stundenzahl
• zu niedrige Planstellenzahl (sogar
nach Berechnungen des KMs, unter
Berucksichtigung der „Uberhange")
• fehlende Mittel und Materialien
• fehlende Ausstattung mit Bibliotheken
und Medien-• Mangel in der raumlichen Ausstattung
(fehlende Fachraume, Sportanlagen,
umliegendes Gelande,...)
• Schulbucher und Unterrichtsmaterialien,
die grostenteils fur reformpadagogische
Arbeit ungeeignet sind
oder fehlen.
These 4: Reformpadagogik ist nicht gleich Reformpadagogik
Reformpadagogen sind und waren historisch
immer in zwei Lager gespalten.
Jene, die bestehende Herrschaftsund
Bildungsverhaltnisse durch Effektivierung
und Reform der Schule festigen
wollten (Georg Kerschensteiner,
Hugo Gaudig, Peter Petersen) und jene,
die aus politischer Motivation (proletarischer
und burgerlich-demokratisiescher Herkunft) Schule grundlegend
verandern wollten und das Ziel der
Einheitsschule formulierten (Richard Lohmann, Fritz Karssen, Adolf Reichwein, Elise und Celeslin Freinet). In Deutschland ist diese Einheitsschule
immer wieder verhindert worden, im
Kaiserreich, in der Weimarer Republik
(Beschlusse der Reichsschulkonferenzen),
im Hitlerfaschismus (Auflosung
der weltanschaulichen Schulen z.B. in
Berlin und Bremen, Verbot jeder Reformpadagogik),
bei der Grundung der
Bundesrepublik Deutschland (gegen
das Drangen der amerikanischen und
britischen Besatzungsmachte!!).
Heute ist die Bundesrepublik das einzige
und letzte Land Europas, das keine
Einheitsschule hat! Reformpadagogen,
die heute ihre Unterrichtsweise in
der Hauptschule als 1’ art pour 1' art
verstehen, ohne sie bildungspolitisch
einzuordnen, mussen sich den Vorwurf
gefallen lassen, das sie jene Krafte unterschtutzen,
die die Hauptschule und
somit das viergliedrige Schulsystem
unter allem Umstanden erhalten wollen.
These 5: Reformpadagogen fur Gesamtschule
Wenn Reformpadagogen heute die integrierte
Gesamtschule fordern, tun sie dies
aus zwei Gründen:
Erstens, weil sie aus dem Selbstverstandnis
ihrer padagogischen Arbeit
die Einheitsschule als konkreten
Schritt zu Veranderung des Schulsystems
fordern. In unserem Land ist
das, was heute Gesamtschule ist — wie
sie in der Praxis auch immer verschieden
und kritisierbar aussehen mag —,
der historisch gewachsene Weg der
Forderung nach der Einheitsschule.
Diesen Schritt der bildungspolitischen
Entwicklung gilt es gegen die Erhaltung
des viergliedrigen Schulsystems
durchzusetzen. Sie tun dies, weil Gesamtschule
im Vergleich zum System
Hauptschule ein politischer Fortschritt
ist.
Zweitens, bietet die Gesamtschule ei-
nige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen,
die an der These 3 dieses
Aufsatzes ablesbar sind. Insgesamt
bietet Gesamtschule ein besseres Feld
fur die padagogische Arbeit.
These 6: Reformpadagogische Forderungen an die Gesamtschule
Wenn z.B. Rolf Jungermann, Leiter
des Referats B 2 sagt, das die einzigen
Mangel der Gesamtschule die Grose
der Systeme und die Schuler-Lehrer-
Relation, also die Grose der Klassen
sind, so ist dies aus der Sicht eines
Freinetpadagogen, der an der Hauptschule
reformpadagogisch arbeitet,
und somit (!) fur die Gesamtschule eintritt,
unzureichend. Die Grose der Systeme
und Klassen ist abschreckend.
Selbst wenn die Gesamtschulen kleiner
sind, in den Klassen weniger Schuler
sitzen, sind noch lange nicht die
padagogischen Vorstellungen einer guten
Schule im Sinne der Freinetpadagogik
erfullt.
Gesamtschule ist weiterhin Trager jener
Ubel, die auch schon das viergliedrige
Schulsystem auszeichnet;
c Die Gesamschule ist — trotz Abschaffung
z.B. des Sitzenbleibens oder
der groseren Forderungsmoglichkeiten
fur Schuler, weiterhin eine differenzierte
Leistungsschule im Sinne einer
Schule, die filtert, ab- und aufstuft.
Sie spiegelt — wie andere europaische
Einheitsschulen — den gesellschaftlichen
Leistungsbegriff wieder und last
entsprechend Schuler „Karrieren"
durchlaufen.
@ Sie kennt ebenfalls das Behandeln
des Schulers als zu belehrendes Objekt,
das mit Wissenslucken und Defiziten
antritt, anstatt ihn als lernfahiges
Subjekt zu behandeln, das selbst in
der Lage ist, kooperierend mit Lehrern,
Mitschulern und auserschulischer
Umwelt, den eigenen individuellen
Lern- und Lebensweg zu gehen.
(Rolle des Lehrers, Frontal- und Buchunterricht.
ja sogar die Form des Forderunterichts
sind Ausdrucksformen
dieser Behandlung).
@ Gesamtschule spiegelt in der Padagogik
die Herrschaftsstruktur unserer
Gesellschaft wieder. Lehrer zwingen
die Schuler durch festgelegte
Lernrhythmen und mechanische Lernmethoden
sich an die Mechanismen
unserer Gesellschaft zu gewohnen, anstatt
ihnen Raum und Zeit zu geben.
Unterricht und Lernen selbst zu organisieren
(Wochenplan, Klassenversammlung,
Arbeitsvertrage zwischen
Lehrern und Schulern), damit sie Selbstandigkeit
und solidarisches Handeln
lernen.*' (Diese Kritik ist gegenuber
einigen Gesamtschule, wie etwa in
Koln-Holweide, in abgeschwachter
Form zu sehen.)
R Individualismus wird weiterhin ausgepragt
durch Selektion und Konkurrenz
(Zensuren, Ranglisten, Leistungswettbewerbe),
anstatt leistungsfahige,
einmalige und unverwechselbare Individuen
sich selbst bewerten zu lassen.
5 Wissen und Lernen, und somit das
erstandnis von Welt und Wissenschaft,
werden selektiert in kleine zerstuckelte
Bereiche (Aufteilung in Facher,
Kurse, Lerneinheiten), anstatt
ein ganzheitliches Lernen zuzulassen
(Epochen, Freie Arbeit, naturliche Methode),
das Welt und gesellschaftliche
Umwelt selbstandig und in ungeteilten
Zusammenhangen erfahrbar macht.
(s) Freier Ausdruck und Kommunikation
werden gehemmt, ja verboten
(Aufsatzformen, Luckentexte, Arbeitsblatter),
anstatt den Schulern das Wort
zu geben (Freier Ausdruck, Texte,
Klassenzeitung, Wandzeitung, Korrespondenz.
Drucken, Rollenspiel, Theater
etc als standige Ausdrucksformen
im gesamten Unterricht).
c Klassenraume sind weiterhin zur
reinen „Kopfarbeit eingerichtet, anstatt
mit Werkstatten, Ateliers in Klassen,
die Trennung von Kopf- und
Handarbeit aufzuheben.
R Feste Lehrplane und Richtlinien,
vorfabrizierte Lehrgange, Schulbucher
werden zu „Tyrannen uber den Unterricht“,
anstatt sie durch die Originalbegegnung
mit dem Gegenstand oder der
Person selbst und/oder mit didaktisch
nicht gefilterten Informationstragern
zu ersetzen.
@ Projekte als eingestreute Ausnahmen
des Schulalltags, wieder didaktisch
vor-aufbereitet, sollte durch die
Schaffung regelmasiger naturlicher
Lerngelegenheiten (tatonnement
experimental) ersetzt werden.These 7: Reformpadagogik und Gesamtschule
Diese Kritik an der Gesamtschule, die
in viel hoherem Mas fur die anderen
Schulformen im Bereich der Sekundarstufe
gilt, und zu mindestes in einigen
Punkten und weiteren, nicht aufgefuhrten
Punkten, von vielen Gesamtschulvertretern
geteilt wird, ist eine
Kritik, die eine Vernachlassigung
der inneren Dialektik von inneren
Schulreform und auserer Schulentwicklung
ansprechen soll.
In dem Mase, wie die Gesamtschule einen
starkeren Zugang zur Erprobung
und Formulierung einer eigenen, weiterentwickelten
Gesamtschul-Padagogik
findet, in dem Mase kann auch eine
weitere Attraktivierung dieser Art
von Schule erreicht werden, kann ein
fur die Gesamtschule erfolgreicher
Dialog mit jenen Kraften anderer
Schulformen intensiviert werden, die
sich aktiv um eine innere Schulreform
bemuhen, ohne die notwendigen
Schritte einer Veranderung der auseren
Schulreform aus dem Blick zu lassen.
Literatur;
Dietlinde Baillet. Freinet praktisch — Beispiele aus der Grundschule und Sekundarstufe. Beltz-Verlag
Ingrid Dietrich, Fragen an den Fremet-Padagogen, m: Demokratische Erziehung. H. iO/1984
Ingrid Dietrich. Freinet-Padagogik und Fremdsprachenunterricht. in: Englisch-Amerikanische Studien. H. 4/79
Ingrid Dietrich. Politische Ziele der Freinei-Padagogik. Beltz-Verlag
Bernard Eliade. Offener Unterricht. Beltz-Verlag
Celesiin Freinet, Die moderne franzosiche Schule. Schoningh-Verlag
Celestin Freinet. Padagogische Texte, Rowohlt
Waller Hovel. Die Hauptschule hat etwas zu bieten, in NDS. Nov. 1984
Irene Jung. Reformunterricht in der Hauptschule, in Demokratische Erziehung. H. 10/84
Chrisuane Koitka (Hg.). Freinet-Padagogik. Basis-Verlag, Berlin
Roland Laun, Freinet — 50 Jahre danach, Heidelberg
Klaus Zehrfeld. Freinet in der Praxis, Beltz Verlag
Rolf Wagner. Freinet-Padagogik in der PraXIS? IN NDS, Januar 1984
Martin Zulch, Lehrer und Schuler verandern Schule, Pad. Koop.
Fragen und Versuche, Zeitschrift der deutschen Freinet-Bewegung. HglX Padagogik-Kooperative Bremen. Kornerwall 8
...
Filme
.Freinet-Padagogik — Wir machen einen Wochenplan" (Grundschule)
------Da kriegt man richtig Hunger" (Hauptschule)
„Ein Unterrichtstag beim Fliegenden Teppich" (Sonderschule fur Korperbehinderte)
„Den Kindern das Wort geben — zur Freinet-Padagogik in Frankreich"
..Freinet-Padagogen treffen sich im Steigerwalg (Nur mit Freinet-Padagogen guckeni)
Alle Filme sind gegen eine Gebuhr von 30.— D.M plus Porto bei der Padagogik-Kooperative Bremen (Körnerwall 8). Telefon (0421) 77121 auszuleihen.
Walter Hövel