Verwalten oder gestalten
Vor nunmehr 23 Jahren schrieb ich als Mitglied des Bundesvorstands der Pädagogik-Kooperative am 1. Juni 1996 einen Brief an den damaligen Vorsitzenden der „Schuldrucker“ (AKS), unseres anderen Freinetvereins, einen Brief. Sein Wortlaut, noch als gelbe Post handschriftlich verfasst, sei hier wiedergegeben:
Lieber Eberhard Dettinger1,
mit Interesse und Freude habe ich den Aufsatz von Dir und Hans Jörg im Multilettre /Fragen und Versuche 76 gelesen.
Eure historische Sicht auf die Verbreitung der Freinetpädagogik in Deutschland macht mir Mut, Dich einzuladen, einen vielleicht gemeinsamen Blick auf die Zukunft zu werfen.
Euer Artikel hat mir den Anstoß zu diesem Brief gegeben. Hier nun zu meinen Anliegen, das mich schon seit Jahren beschäftigt.
Seit 1982 arbeite ich als Freinetpädagoge. Irgendwann bin ich mir dessen bewusst geworden, dass es zwei2 Freinetvereine in Deutschland gibt. Dies war mir immer fremd. Die Arbeiten von Hans Jörg waren mir genauso Lehrmeister wie die von Ingrid Dietrich oder Johannes Beck. Auf internationalen Treffen war ich manchmal überrascht, wenn mir gesagt wurde, dass der Freinetkollege, mit dem ich gerade zusammenarbeitete, Mitglied bei den Schuldruckern sei.
Es war mir simpel nicht aufgefallen, dass er in anderen „freinetischen Bahnen“ arbeiten oder denken sollte als ich. Nun bin ich beileibe kein Mensch, der Unterschiede oder Verschiedenheiten nicht ertragen könnte oder sie vertuschen möchte.
Ich selbst verstehe mich als ausgesprochen politischen Menschen. Auch die Freinetpädagogik halte ich durch ihre Praxis für eine sehr politische Angelegenheit. Ich habe einen sehr dezidierten freinetischen Standpunkt, den ich auch gerne vertrete. Aber das ist „mein Freinet“, und in der Pädagogik-Kooperative begegne ich sehr vielen verschiedenen „Freinets“. Bisher habe ich erfahren, dass dies in Frankreich, in Italien oder sonst wo nicht anders ist. Und ich denke, auch im AKS ist das nicht anders.
Nun möchte ich damit nicht einer Beliebigkeit das Wort reden. Ich denke schon, dass das Streiten um Positionen, das Bemühen um eine gemeinsame Sprache und Handeln in bewusster Kooperation, das Überprüfen des neuen an schriftlich fixierten Erfahrungen der alten Freinetpädagogik wichtige Dinge sind, die eine pädagogische Bewegung wie die unsrige stärken können. Ich denke auch, dass Menschen, die merken, dass Freinetpädagogik nicht ihre ist, sich ein anderes Betätigungsfeld suchen sollten.
Die heutige Plattform der internationalen Freinetpädagogik ist breit und stark genug, um einer reichen Vielfalt von Positionen, Ideen und Initiativen Heimat sein zu können.
In diesem Sinne lebte ich auch einige Jahre gut, mit der Existenz zweier Freinetvereine in Deutschland, obwohl mir die Trennung eher unverständlich und fremd blieb.
Fremd blieb mir vor allem die einfache Tatsache, dass ich in Frankreich, in den Niederlanden, oder in anderen Ländern immer mehr Freinetkollege kenne als deutsche Schuldrucker.
Kurz, ich sehe die KollegInnen des AKS so gut wie nicht, es gibt keine Begegnungen, obwohl wir sogar im gleichen Bundesland leben. Es scheint eine Mauer im Rhein-Sieg-Kreis und der Freinetgruppe im Bergischen Land zu bestehen. Wir leben keine 50km auseinander, aber wir kennen uns nicht einmal, weil die einen in der PädKoop, die anderen im AKS organisiert sind.
Und das geschieht in einer pädagogischen Bewegung, die den Begriff der Kooperation in das Zentrum der beruflichen Praxis stellt.
Ich weiß, dass dies nicht an der einen oder anderen Organisation liegt, dass dies nicht böser Wille oder Fahrlässigkeit einzelner Menschen ist. Dies ist schlicht der Zustand von Arbeitsgruppen einer Klasse, die die Zusammenarbeit nicht über den Klassenrat organisiert. Es ist das Fehlen einer Kooperationsstruktur, das Fehlen von Techniken, der Begegnung, Korrespondenz, die gemeinsame Arbeit ermöglichen.
Es gibt in Deutschland Gründe genug zusammenzuarbeiten, aber es geschieht nicht, weil die Strukturen hierzu fehlen.
Nun war ich in den letzten drei Jahren im Vorstand der Pädagogik-Kooperativen und wir konnten einige Initiativen zur „Überwindung der Mauer“ zwischen Stuttgart und Bremen starten.
„Auf der anderen Seite der Mauer“ trafen wir auf Menschen, die uns als Freunde begrüßten, jede Form der Zusammenarbeit war möglich. Es gibt die gemeinsame Geburtstagsfeier, gegenseitige Einladungen zu Vorstandssitzungen, den Austausch von Informationen und Artikeln in unseren Zeitschriften und Büchern.
Das ist gut so und gegenüber früheren Zeiten ein gewaltiger Fortschritt. Doch, junge Pflänzchen können eingehen, wenn sie nicht gepflegt werden, wenn sie nicht weiter gegossen (oder zu viel gegossen) werden.
Vor einem Jahr (1996 der Hrsg.) habe ich ein ermutigendes Beispiel kennengelernt. Mehrmals war ich zu Gast bei den niederländischen Freinetfreunden, die mir ihre Geschichte so erzählten: „Ja, noch vor einigen Jahren, da gab es in den Niederlanden zwei Freinetvereine, die nichts mit einander zu tun hatten, es sei denn, sie stritten sich. Der eine hielt den anderen für eher unpolitisch, der andere den einen für übertrieben politisch. Einige Menschen aus beiden Vereinen haben sich dann über ein Jahr regelmäßig zu Gesprächen über eine gemeinsame Zukunft getroffen. Beide wurden auch von der Sorge getrieben, dass ihre Vereine zu klein wurden. Heute haben wir gemeinsame Treffen, Veranstaltungen, eine gemeinsame Zeitung und einen Vorstand. Sie sind ein ungemein sympathischer Verband geworden, der sehr effektiv arbeitet.“
Ich bin eher sogar skeptisch gegenüber der Initiative des CAs3, der vor einigen Jahren zur Vereinigung getrennter Freinetgruppen auf nationaler Ebene aufforderte.
Freinet formulierte einmal, dass er bezüglich der Freinetpädagogik keine Nationen kenne. Ich gehöre auch nicht zu den Menschen, die gerne für zentralistische Formen in Deutschland eintreten. Ich favorisiere eher föderative Gedanken, etwa wie ein Europa der Regionen.
Andererseits ist unsere Trennung keine regionale, auch wenn es einen Nordpol und einen Südpol zu geben scheint.
Entscheidend ist für mich, dass es noch nicht einmal eine föderative Struktur der Freinetpädagogik in Deutschland gibt, sondern das getrennte Nebeneinander, nur überdacht von der FIMEM.
Warum erwähne ich also das niederländische Beispiel? Wäre da nicht dieses „Gespräch“ das sich anbietet? Wäre es nicht möglich, dass ein paar Menschen aus unseren Vereinen sich finden, um sich Gedanken über Strukturen des Miteinanders zu machen, um das friedliche, aber getrennte Nebeneinander abzulösen?
Lieber Eberhard, ich spreche Dich an, weil ich glaube, dass du bereit bist, ebenfalls in diese Richtung zu denken. Vielleicht können wir gemeinsam etwas bewegen, mit lieben Grüßen, Walter
Es sollte nichts geschehen! Zu Denken gab mir vor einigen Jahren ein Gespräch mit einem der Funktionäre der „balance“, jener Kita-Organisation, die sich der Freinetkooperative angeschlossen hatte. Er beklagte das Desinteresse und die Distanziertheit des damaligen Vorstands der Bremer Kooperative. Sie ließen, so schilderte er glaubhaft, kein Gespräch der Vertrauensbildung zu. Sie „übersahen“ es so, wie das Reden mit den Schuldruckern. Wir können verwalten oder etwas entwickeln.
1Damals Vorsitzender
2Später gab es einen dritten, der sich aber neben der eigenen Existenz im Bereich der Kitas der Freinetkooperative anschloss.
3Der internationale Vorstand des FIMEM