Walter Hövel
Von einer internationalen Lehrerfortbildung 1989 in Oer-Erkenschwick/Deutschland

 

Wie lernen Lehrer*innen die Freinetpädagogik?

 

Gedanken über die Freinetbewegung in der Bundesrepublik zum gleichen Thema :"Wie.."

 

 

 

Unter diesem Titel trafen sich über 100 Freinetpädagoginnen aus 16 Ländern zu einem einwöchigen internationalen Treffen. Die Vorbereitungsgruppe bot durch einen hervorragenden organisatorischen Rahmen beste Bedingungen, um die besondere Atmosphäre einer solchen Fortbildung erleben zu können.

 

 

 

Da war wieder vieles,was mich daran erinnert hat, wie ich gelernt habe, ein Freinetpädagoge zu werden: Da waren Menschen, die mir einfach das Gefühl gaben, nicht alleine zu sein mit meiner Sehnsucht,- nicht nur von mehr Freiheit zu träumen, sondern sie mit anderen zu praktizieren. Da war wieder das Feuerwerk

 

von Erfahrungen und Ideen, das mir als Menschen begegnete, die bereit waren, ihre Erfahrungen weiter-zugeben, Neues gemeinsam zu erproben und weiterzuspinnen.

 

 

 

Nicht Bücher oder Artikel haben mich Freinetpädagogik gelehrt, sondern Menschen. Jene Menschen

 

in der Schule, Schülerinnen genannt und eben Freinetikerinnen auf Treffen und Fortbildungen, die mir Ideen, Mut und pädagogisches Know-How anboten.

 

 

 

Da war wieder die Erfahrung, wie ich selber lerne, wie vielfältig, aber auch eigensinnig meine Lernwege sein

 

können, wie gemeinsames Lernen manchmal mühsam, aber erfolgreich ist. Da war wieder der Spass am praktischen Selbertun, an Reflexion der eigenen Person in der Arbeit und in der Gruppe der Spass an der Frage, wie das eben praktizierte Lernen überhaupt funktionierte, in wie weit eine Abstraktion oder Verallgemeinerung möglich ist.

 

 

 

Da war aber auch die Muhe, der Ernst, die Verantwortlichkeit in den eben aufgezählten Vorgängen, Unzu-friedenheit mit sich selbst, Auseinandersetzungen mit anderen, Grenzen der Reflexion und der Abstraktion.

 

 

 

Aber anders als oft im pädagogischen Alltag stehst du mit deinem Spass und Ernst nicht alleine da, sondern du bist auf einem Freinettreffen,wo es anderen ähnlich geht, wo andere helfen und du anderen helfen kannst.

 

 

 

Da war wieder die Auseinandersetzung mit allen Dingen des Lebens, ein Verständnis, das nicht Probleme

 

heraus isoliert, sondern immer in einen Gesamtzusammenhang stellt; wo Menschen immer mehr lernen, anderen nicht beweisen zu müssen, das ihre Weitsicht, ihr Lösungsweg der richtige ist, wo stattdessen versucht wird, gemeinsam, praktisch und theoretisch weiterzukommen - oder stehenzubleiben, wo es

 

nötig scheint.

 

 

 

Da war wieder die Vielfalt, die ein Lernen entwickelt, das nicht zwischen Leben und Lernen trennt: Tanzen und Singen,Drucken und Tippen, Theater und Seifenblasen, Matriarchat und Ökologie des Lernens, Körperarbeit und Obertonsingen, Einzelgespräche und Plenum, Natürliche Methode und entdeckendes

 

Lernen, Musikinstrumente und Limograph, Gruppendynamik und Erkenntnis, Praxis und Theorie.

 

 

 

Ja, und bei dem letzten Stichwort gab es dann ein freinetisches Extra. Ein Teilnehmer hatte es gesagt, was vielleicht noch andere dachten: "Wo bleibt das Oberthema dieses Seminars: "Wie lernen Lehrerinnen die

 

Freinetpädagogik?". Er wollte mehr theoretische Auseinandersetzung, ihm fehlten Foren, die die Chance des Aufeinandertreffens gebündelter internationaler Erfahrung zielgerichteter nutzten.

 

 

 

Flugs wurde ein Plenum einberufen, wo die Teilnehmerinnen befragt wurden, ob sie mit der praxis-orientierten Form des Seminars zufrieden waren, oder, ob sie etwa zurückfallen wollten in Formen

 

eines klassischen Seminars". Entsprechend "real-sozialistisch" fiel das Abstimmungsergebnis mit 99% Ja-Stimmen aus.

 

Nach(!) der Abstimmung folgte die Diskussion im besten Stil eines klassischen Seminars. Niemand

 

forderte klassische Seminarformen. Einige regten freinetische Formen der Theoriebildung an, die aus der Erfahrung unserer Treffen und Fortbildungen erwachsen sind oder erprobt werden konnten. Aber andere, hier vor allem Menschen aus unserem Lande, hielten eine Rede nach der anderen, zum Lobe der

 

Praxis und des Spasses, der hierbei entsteht,als ob der Saal gefüllt wäre mit Anhängern klassischer Seminarformen. Ich kam mir vor, wie in einem Studentenparlament der frühen 70iger Jahre, nur dass

 

 

 

Die nun folgende Graphik zeigt den (noch jungen) Baum der Ateliers und Langzeitgruppen oder auch Formen des Lernens in einer Freinetklasse des mit sechzehn von mir beschriebenen Blättern. (Das siebzehnte ist schon vertrocknet und zeigt die Aufschrift „Entscheidungsgruppen“.)

1. Das Entdeckende Lernen. Individuelle Themenwahl, Forschendes Arbeiten, Kooperative Reflexion des eigenen Lernens.

2. Ganzheitliche Ateliers. Unter einem thematischen Ansatz wird praktisch gearbeitet, die eigene Arbeit reflektiert und der Lernprozess abstrahiert.

3. Methodenateliers. Die Animateur*in führt durch einen praktischen Lernprozess zur Darstellung eines Lernprozesses.

4. Vorbereitung der Reflexion schulischer (oder einer Fortbildung) Vorhaben (z.B. im ersten oder fünften Schuljahr, Projekte, etc.)

5. Offene, experimentelle Gruppen, ohne Zielsetzung, Lernwege werden immer wieder von der Gruppe bestimmt.

6. Natürliche Methode zu speziellen Problemen, z.B. Sprachlernen, Mathematik, Sachunterricht, etc.

7. Kennenlernen von und Auseinandersetzen mit anderen Techniken, z.B. Gestalt -, Montessori- , Reggio, Permakultur und anderen.

8. Dokumentationsgruppen, die ein Treffen mit Fotos, Dias, Videofilmen, Interviews oder Zeitungen begleiten oder festhalten.

10.Offene Werkstatt, Materialien stehen in einem Atelier zur Verfügung, praktisches Experimentieren.

12. Praxisateliers,Musikinstrumente, Jonglieren, Modellbau,Scherenschnitte, Elektronik, Solaranlagen, etc.

13. Erfolgsatelier. Etwas Lernen, was man oder frau vorher nicht konnte, z.B. zeichnen, malen, Instrumente spielen, nähen, Theaterspielen, Obertonsingen, etc.

14. Material herstellen für den Unterricht.

15. Freinettechniken kennenlernen und erproben; Drucken. Limograph, Schattenspiel. Buchbinden, etc.

16. Freier Ausdruck. Theater, Tanz, Körperarbeit, Pantomime, Maskenbau, Puppenspiele, Musizieren, Akrobatik, etc.

 

 

 

die Inhalte der Reden vertauscht waren durch die vielen schlechten "Theorieerfahrungen" dieser Zeit. Hätte ich für bare Münze genommen, was meine eigenen Leute von sich gaben, ich hatte glauben müssen, dass wir alle Praxisfrickler sind, die sich nicht um Reflexion, Theorie oder Wissenschaften scheren.

 

 

 

Zum Glück kannte ich alle, habe seit Jahren mit vielen zusammengearbeitet und weiß einfach, das wir etwas Gemeinsames haben: Wir alle arbeiten praktisch, in der Schule, in Fortbildungen und auf Treffen, wir alle tun (so gut wie) nichts ohne Praxis. Wir alle reflektieren ständig was wir tun, abstrahieren unser Tun in Artikeln, Gesprächen, Materialien und in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Viele von uns

 

vertreten Freinet in der Schule, bei Freunden, in der Gewerkschaft, bei staatlichen, eigenen oder fremd-getragenen Fortbildungen.

 

 

 

Wir sind also sehr wohl sowohl zur Praxis als auch zur Theorie fähig. Wir alle beantworten ständig die Frage - ob praktisch oder theoretisch - "Wie lernen Lehrerinnen die Freinetpädagogik?“

 

 

 

Wo ist also das Problem bei uns? Diese Frage ist keine rhetorische, ich verstehe es wirklich nicht!

 

 

 

Was ich sehe, ist, das wir verschiedene Formen im Unterricht als auch auf Fortbildungen und Treffen entwickelt haben. Als Beispiel meiner Sicht dieser "Verschiedenheiten" habe ich einmal versucht, die verschiedenen Formen von Langzeitgruppen oder Ateliers im beigefügten Schaubild darzustellen.

 

 

 

Die verschiedenen "Auswüchse" (Blätter) sind für mich auch wieder kombinierbar, aber vor allem erscheinen sie mir als Ergebnisse einer Wurzel, eines Stamms.

 

 

 

Sie alle haben für mich gemeinsam, dass sie der Versuch sind, in praktischer Erfahrung eine Idee (oder Theorie) zu vermitteln, die Freinetpädagogik ist, als auch bei den Teilnehmerinnen dieser Arbeitsgruppen eine Idee (Theorie) der Freinetpädagogik zu hinterlassen.

 

 

 

Keine dieser Ateliers kann eine Theoriebildung verhindern, sie alle riechen nach Ganzheitlichkeit, Humanis-mus, Ökologie, Parteinahme für Menschen, vor allem unterdrückter und benachteiligter, also nach Gesell--schaftspolitik, nach Lebensfreude und Verantwortung für das Parteinahme für Menschen, vor allem unterdrückter und benachteiligter, also nach Gesellschaftspolitik, nach Lebensfreude und Verantwortung für das Leben.

 

 

 

Sie alle intendieren die gleichen Lernprozesse: Befreiung von Machtstrukturen mit allen Sinnen erfahren, erkennen,lernen sich frei Ausdrücken-Können, Lernen-lernen, mit und von der Natur lernen, arbeiten und

 

leben, kooperativ, gleichberechtigt handeln, sich selbst erfahren; etc.,etc.

 

 

 

Wo ist also unser Problem? "Praxis oder Theorie" kann wirklich nicht unsere Fragestellung sein.

 

 

 

Oder ist es die scheinbare regionale Verschiedenheit unserer Entwicklungen? Ist es schlimm, dass in Berlin jemand stärker den Aspekt des entdeckenden Lernens auf die Lehrerpersönlichkeit im Rahmen einer Lernwerkstatt bezieht, dass in Hamburg die Individualität und das Genie des Lernwegs eines Kindes stärker im Mittelpunkt steht, dass in Köln der freie Text als Ausdrucksmittel der wirklichen Bedürfnissen eines Kindes den Unterricht lenkt, das in Prinz Höfte der Weg zu einer ganzheitlichen Ökologie des Lernens

 

gesucht wird, das Frauen versuchen, eine Verbindung zwischen matriarchalen Erkenntnissen und einem natürlichen Lernen herzustellen, dass in Geldern jemand natürliches Lernen in Kombination mit psychologischen Erkenntnissen praktiziert, oder das in Oberammergau jemand anfängt zu drucken? Diese

 

Aufzählung lässt sich fortsetzen und fortsetzen.

 

 

 

Überall steckt Theorie hinter der Praxis und Praxis in der Theorie. Oder ist es einfach unsere eigene Engstirnigkeit, die mit der rasanten Entwicklung oder 'der Trägheit' unserer eigenen Bewegung nicht

 

zurechtkommt.

 

 

 

Sind wir noch immer darauf erpicht, vielleicht doch einen besseren Weg als die anderen gefunden zu haben, der die Theorie im Vordergrund sehen muss, oder auf nichts anderes schwört, als die Kraft der pädagogi-schen Intuition in der Praxis.

 

 

 

Ist es vielleicht doch so etwas, wie ein Rest Konkurrenzverhalten, kombiniert mit Ungeduld und Kompensa-tion ?

 

 

 

Ich bin froh in dieser Bewegung zu sein, ich lerne, ob ich will oder nicht. Eine Vielfalt, Begrenzung, Offen-heit, Flexibilität, Selbstorganisation, Eigendynamik, Vernetzung, Rückkopplung, Wechselwirkung und Koope-ration erlebe ich hier, wie sonst nur in der Natur oder eben im freintischen Unterricht in meiner Klasse.

 

Alle Erfahrungen dieser Bewegung lassen mich lernen, ob durch Praxis oder Theorie, oder durch integrierte,ganzheitliche Versuche.