Ein paar Erkundungen zur Entwicklung der Fragen und Versuche

 

Was fragt und versucht Freinet?

 

Nach-denken bei der Weitergabe – Zur zukünftigen Entwicklung

 

 

 

Eigentlich wollte ich nur, ganz privat, ein paar Zeilen an die nachfolgende Redaktion der BerlinnerInnen per e-mail schreiben... dass ich doch irgendwie nicht nur zufrieden war mit der Arbeit an der FuV, weil ja eigentlich so wenige Leute schreiben, weil weniger über die Praxis geschrieben wird, weil sowie so und irgendwie nicht so viel von der "Bewegung" zu spüren wäre... Aber dann habe ich diesen Gefühlen doch nicht getraut, und nachgeschaut, in der Fragen und Versuche. 

 

 

 

Die Redaktionsarbeit der Fragen und Versuche habe ich nun zum zweiten Mal mitgemacht. Vor genau 16 Jahren kam die erste (Heft 30) und zwei Jahre später die letzte Nummer (Heft 38) unserer damaligen Kölner Redaktion heraus.

 

Im Folgenden habe ich dann zusammen geschrieben, was mir beim Vergleich der beiden zweijährigen Redaktionszeiten auffiel.[1] Damals waren wir 7-8 Lehrerinnen und Lehrer von verschiedenen Kölner Grund-, Haupt- und Gesamtschulen. Heuer waren wir 5-6 Leute, außer Uschi, alle von der Grundschule Harmonie.[2] Ich begann also mit meinem Eindruck, dass heute weniger Leute in unserer Zeitschrift schreiben als früher.

 

 

 

Die Zahl der Autorinnen und Autoren betrug von 1985 bis 1987 bei 8 Heften genau 100 Menschen, in den letzten beiden Jahren waren es unbedeutend mehr, etwa 110. Ich war überrascht, mein Eindruck stimmte nicht. Ich checkte die Geschlechterfrage, und siehe da, damals wie heute sind knapp mehr als die Hälfte der Schreibenden Frauen! Wieder stimmte meine Vermutung nicht mit der Zählung überein.

 

Dann wollte ich wenigstens wissen, was gerne behauptet wird, dass die Männer aber mehr Seiten für sich in Anspruch nehmen. Aber auch hier: Fehlmeldung. Die Frauen nahmen sich damals wie heute die gleiche Anzahl Seiten! Dann wollte ich wissen, dass wir Männer wenigstens für die "überlangen" Texte zuständig sind, die ja nun wirklich in meiner Vorstellung länger als damals geworden sind. Und wieder stimmte es nicht! Selbst die Zahl der Artikel über 10 Seiten Text hatte sich von 2 vor 15 Jahren auf nur 3 gesteigert!

 

Aber auf dem Gebiet der "Treue" zeigte sich ein von mir nicht erwarteter Unterschied: Nur 13 Menschen schrieben damals und jetzt wieder in der FuV. Ich hatte mit mehr gerechnet. Noch überraschender war für mich die Anzahl der treuen Schreiber, es waren mit Ludger Baalmann, Paul le Bohec, Michael Böss, Hartmut Glänzel, Gerd Hähnel, Werner Haser, Matthias Heinrichs, Jochen Hering, Walter Hövel, Wolfgang Mützelfeld, Gerald Schlemminger und Rolf Wagner 12 Männer. Die einzige Frau, die damals wie heute schrieb, war Ingrid Dietrich.

 

Aber dann fand ich endlich "echte" Unterschiede: Damals schrieben 4 Menschen, die aus der "Theorie" kamen, Ingrid Dietrich, Sepp Kasper, Gerhold Scholz und Ulla Carle. Im jetzigen Durchgang waren es im gleichen Zeitraum 16, mit Elke Andresen, Ute Andresen, Johannes Beck, Barbara Daiber, Ingrid Dietrich, Klaus Glorian, Herbert Hagstedt, Jochen Hering, Florian Söll, Renate Kock, Falko Peschel, Felix Winter, Rainer Ubbelohde, Otto Herz, Uwe Rabe, Gerhard Schlemminger, wovon zwei praktizierende Freinet-Lehrer waren, und einer gleichzeitig an der Schule arbeitet. Hinzu kämen noch einige KollegInnen, die zusätzlich zu ihrem Schuljob an Universitäten arbeiten. Also ein deutlicher Zuwachs für die Theorie.

 

Und, wenn damals etwa 5 Studierende und Lehramtsanwärterinnen in der FuV schrieben, waren es nun mehr als zehn mehr. Also ein Zuwachs für den Nachwuchs!

 

Damals schrieben 6 ausländische Autorinnen und Autoren in der FuV, 4 aus Frankreich, 2 aus der Schweiz. Heute können wir im Vergleichszeitraum 26 Autorinnen und Autoren aus anderen Ländern zählen, alleine 17 aus Österreich, je drei aus der Schweiz und aus Frankreich, ein Schwede, ein Brite und ein Südamerikaner. Ein Zuwachs für die Internationalität! Ein Zuwachs, weil die Mitglieder der Redaktion diese Leute aus ihrem Blickwinkel angesprochen hatten, oder einfach nur  Glück für uns, weil es sonst weniger Texte aus unserem Land gegeben hätte?

 

Dann wollte ich wissen, dass es damals aber viel mehr Berichte aus der Praxis gab. Ich zählte und - wieder nichts! Nur ein leichter Rückgang ist zu vermerken, es waren vor 15 Jahren bei ca. 650 Seiten vielleicht 20 mehr. Was hatte sich also verändert? Ich blätterte.

 

 

 

Die Themen!

 

Damals waren es eine Vielzahl sensationeller Neuheiten und Entdeckungen, die es galt aufzuschreiben: Mathespiele im Unterricht, Sexismus in Schulbüchern, Erkenntnis statt Kenntnis für Kinder und uns selbst, die Korrespondenz in der Regelschule, Projektarbeit, Selbstorganisation, das Entstehen der Restschule "Hauptschule", das Menschenschattenspiel anfassbare Mathe-Materialien, die therapeutische Wirkung von Freinettechniken, die Warnung vor dem falschen Gebrauch der Materialien, die Freie Arbeit, Karteien, die Hexen als Unterrichtsthema, Freie Texte und die selbst organisierte LehrerInnenfortbildung. Diese Aufzählung sind nur die Inhalte einer einzigen FuV (Heft 30, Febr.85).

 

 Und heute? Akzeptierte Schwerpunktthemen wie Paulo Freire, Leistung, Religion, Schulanekdoten, das Symposion 99, Erkundungen und ignorierte Schwerpunkte wie Rückblicke und Ausblicke zum Jahrtausendwechsel oder das 25-jährige Jubiläum unseres Vereins. Und wieder zum Vergleich nur eine Ausgabe (Heft 94, Dez. 2000): der Traum von der anderen Schule, biographisches Lernen über fast 20 Seiten, Grundlinien der Freinetpädagogik. Direkt danach kommt das Wesentliche bei Freinet, Wochenplan, Freie Texte, das neue Schattenbuch, das Dauerthema Mathematik mit Materialien in großen Mengen, Bericht von einer ausländischen Freinetschule, Bericht aus einer Freinetgruppe, Bericht vom Lernwerkstättentreffen, selbständiges Lernen, Leistung und Treffen, Treffen, Treffen.

 

Gut, es gibt nicht mehr diese neu zu entdeckenden Sensationen, die den Schulalltag begannen zu verändern. Vieles ist heute Alltag eines gewöhnlich guten (zumindest Grund-)Schulunterrichts. Zumindest ist es Anspruch der pädagogischen Literatur und der etwas aufgeklärteren LehrerInnenbildung: Schriftspracherwerb ohne Fibel, Freie Texte, Freie Arbeit, Handlungs-, Kind- und Erlebniswelt orientierte Mathematik, ganzheitlicher und integrierter Sach- und Sprachunterricht, Arbeit in Werkstätten, Ateliers und Stationen, Projekt- und Epochenarbeit, Klassenrat, Korrespondenz, Schattenspiel, Theater, Philosophieren mit Kindern, selbstorganisierte schulinterne Fortbildungen, Verträge, und vieles anderes mehr.

 

Heute werden die Dinge, die wir damals  erprobten und beschrieben, professionell, mal aufgearbeitet, mal aufgeblasen, mal als alter Wein in neuen Schläuchen, in pädagogischen Fachzeitschriften oder Rezeptbüchern mal mit schönen Bildern und Zeichnungen garniert, manchmal in neue Worte geKlippert, mal theoretisch erhöht, veröffentlicht.

 

Und es tut gut, beim Studium der Fragen und Versuche feststellen zu können, die FreinetpädagogInnen wiederholen sich nicht. Sie beschränken sich auf wesentlich neue Dinge, auf wichtiges Altes, dass es gilt zu erhalten oder neu zu bearbeiten. Sie versuchen die neuen Probleme anzugehen, in einer Zeit, wo es bestimmt nicht en vogue ist, zu hinterfragen, inhaltlich zu argumentieren oder gar politische Fragen zu stellen.

 

Haben wir etwa dazu gelernt? Sollten wir breiter geworden sein in unseren verschiedensten Wirkungsfeldern? Sollten wir bescheidener, überlegter, besonnener geworden sein? Sollte doch eine gewisse, wenn auch sehr eigene, Professionalisierung eingetreten sein?

 

Aber überall gibt es doch Leute bei uns, die nicht zufrieden sind. Was vermissen "alte Freinis" heutzutage? Was suchen sie alters-romantisierend oder nicht, was es in der Vergangenheit gegeben haben soll?

 

Haben wir uns vielleicht damals überschätzt, als eine so bedeutende Bewegung, gar als "Basis"bewegung? Weil wir es verstanden Fortbildungen als rauschende Feste des Lernens fernab der grauen Realität des Schulalltags zu gestalten?

 

Oder weil wir einfach "naiv" sein wollten, wenigstens in der Praxis unserer Schulklasse, nachdem die Theorie unserer früheren Weltanschauungen schon lange angefangen hatte, an der Wirklichkeit des Konsums und der Herrschaft des Profits auseinander zu bröseln?

 

Oder hatten einige von uns einfach ihr privates 68-Erbe mit Freinet verwechselt? Oder haben wir uns damals unterschätzt? Hätten wir unsere Ansichten und Erkenntnisse viel offensiver vertreten sollen, wie es auch teile der Bewegung taten? Waren wir damals einfach mit die ersten, die so etwas konnten?

 

Aber es scheint Leute bei uns zu geben, die es gerne wie früher hätten, nachtrauern, resignieren. Ist es nicht richtig, nicht die Fortbildungswochen, die Silvestertreffen als "Massenveranstaltungen" wiederholen zu wollen, sondern sich um neue Fragen und Versuche zu kümmern.

 

Ich glaube, wir haben uns entwickelt. Nicht alle, aber die die schreiben, die die lesen, die die tastend und fragend erkunden, suchen, und auch schon einmal finden. Vielleicht gilt es, mit der eigenen Entwicklung, als Mensch, als Bewegung, als Idee, fertig zu werden. Vielleicht gilt es, ein Problem vieler LehrerInnen zu lösen, nämlich erwachsen werden zu dürfen. Vielleicht ist die Freinetpädagogik als Bewegung nun erwachsen geworden, mit Midlifecrisis und Verantwortungsgefühl gegenüber dem, was wir selbst geschaffen haben.

 

Also würde es vielleicht in den nächsten Jahren  darum gehen, Platz zu machen für die eigenen "Kinder", sich verabschieden zu können  von Vergangenem, auch im Alter noch zu lernen, um dann Platz machen zu können für die Neuen, die Jungen. Vielleicht sind dies WissenschaftlerInnen mehr als PraktikerInnen, vielleicht sind es Schulentwickler mehr als Klassenlehrerinnen, vielleicht sind es KindergärtnerInnen oder eben doch jüngere Lehrerinnen und Lehrer.

 

Und wenn das schon angefangen haben sollte, könnten wir an Khalil Gibran denken: "Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch."[3]

 

Und wie Paul le Bohec sagt, sie "ergreifen Besitz von einer Idee, die vorher von dir Besitz ergriffen hatte...und was sie tun, entspricht jedoch nicht meiner Ursprungsidee. Von der Idee besessen, werden sie sie beherrschen, domestizieren, mit Beschlag besetzen, damit sie ihren Bedürfnissen dient." [4]

 

Was immer mit der FuV geschieht, ob sie bald als elektronische Chatcorner oder Homepage erreichbar sein wird, oder ob sie in dieser oder jener Form erscheint, wie immer sie sich inhaltlich verändert oder nicht, dies wird Entscheidung derer sein, die sie machen, also lesen und schreiben. So war sie konzipiert und so ist sie auch!

 

 

 

Und ein abschließender Gedanke: Eigentlich ist der Freinetbewegung mit der Fragen und Versuche vor vielen Jahren etwas gelungen, was heute Anspruch an die Kommunikation in den elektronischen Medien ist: Alle können lesen, was alle schreiben können.

 

                                                                                                                                         Walter Hövel

 



[1] Ich erhebe keinen Anspruch auf eine sorgfältige oder gründliche Analyse. Meine Beobachtungen sind eher zufällig, meine     

  Schlüsse subjektiv, vielleicht ein Privileg der Menschen aus der Praxis.

[2] Wir sind übrigens nach der Französischen Schule in Tübingen und PrinzHöfte das dritte Kollegium, das die FuV gestaltet. Bald 

  wäre wohl die Reformschule in Kassel, die Grundschule Pattonville in Ludwigsburg oder ein Kinderhortteam als Redaktion dran.

[3] Khalil Gibran, Der Prophet, Olten 1973, S.16

[4] vergl. hier: Paul le Bohec, Wie wir von Ideen anderer lernen, In: Fragen und Versuche Heft 93, Sept. 00, S.31ff.

  Die Zitate wurden von mir in den Plural gesetzt.