Zur Bedeutung der Freinetpädagogik heute

von Uschi Resch und Walter Hövel

 

Zwischen Musterschule und Gegnerschaft

Die Freinet-Pädagogik gibt es seit 1920. Sie  schafft es seit Jahrzehnten nicht zu veralten, sondern immer wieder bei der Schaffung der modernen "Modernen Schule" mitzuwirken. Sie wird zusehends von seiten der Wissenschaft als Beispiel gebend anerkannt und von Seiten der bildungspolitischen Entwicklungsplaner als zu untersuchendes Objekt betrachtet.

Hier taucht sie auf mit einer vorzeigbaren "Musterklasse", dort mit einer "Modellschule". An einigen Universitäten gibt es sie in antiquarisch-historischer Form, indem die Originalliteratur Freinets eingereiht wird in alte reformpädagogische Modelle, andere schicken ihre Studenten los, um jene "alternativen Unterrichtsformen" zu erforschen, um die Frage disputieren zu lassen, ob sie wohl für die Regelschule geeignet wären[1]. In der LehrerInnenbildung tauchen mit immer größerer Regelmäßigkeiten Begriffe und Techniken der Freinetpädagogik auf, wie etwa "Freie Texte", "Verträge", "Wiedererkennen in der Mathematik", Klassenrat", Klassenämter", der "Kreis", "Freies Arbeiten", die "Draußenschule", und viele andere mehr. Andere Hochschulen richten Forschungsstellen ein, untersuchen sogar die heutige Praxis der Freinetpädagogik. Die Frage von Freinet-Studiengängen wird realisiert, die staatliche Organisations- und Qualitätsentwicklung von Bildung und Erziehung lässt forschen, die LehrerInnenbildung bietet das Thema als "Zusatzqualifikation" an.

Die Gegner der Freinetpädagogik wie die Kommunalpolitiker, die Freinet einst aus dem Schuldienst trieben, die Inspektoren und Schulräte, die bis in die 90iger Jahre  Freinetlehrerinnen und -lehrer als Chaoten und unfähig diffamierten, die Professoren, die vor Kuscheleckenpädagogik  und antiautoritärter Werteverfall warnten, die Bildungspolitiker, die die Angsttrommel vor zu wenig Leistung und sinkendem Bildungsqualifikation rühren, scheinen sich weniger mit uns zu beschäftigen. Sie scheinen eigenen oder anderen Problemen nach zu laufen. Aber diese Gegnerschaft kann uns auch heute noch und wieder begegnen.

Woran liegt das?

Es sind in der Regel politische Gründe, denn die Freinetpädagogik ist durch und durch  dehierarchisch, also ein Dorn im Auge aller in autoritären Kategorien  denkender Menschen.

Die Freinetpädagogik arbeitet daran, lernenden Menschen ihre Macht über sich selbst zurück zu geben. Sie gibt den Menschen ihre eigene  Verantwortung zurück.  Sie organisiert die Aneignung der Fähigkeiten zur Selbstorganisation  der lernenden Menschen. Systemisch ausgedrückt könnte das auch bedeuten, dass wir das Lernen Lernen lernen.

Sie ist immer als eine linke Pädagogik anerkennt worden, die sich von der Vision einer egalitären, libertären, kooperierenden Gesellschaft leiten lässt. Sie unterscheidet sich zumindest an zwei Stellen von veralteten "linken" Vorstellungen. Sie folgt nicht der Idee einer "Zwangsbeglückung" der Menschen in einem "besseren System", sondern geht den Weg der Selbst-Organisation und Selbst-Befreiung der Menschen. Der zweite Unterschied ist der, dass solche "Visionen" der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung schon heute gelebt werden, wo und wann immer das möglich ist.  Die Mitglieder der Freinet-Bewegung sind dabei an keine politische oder religiöse Weltanschauung gebunden. 

Diffamierungen kamen und kommen aus dem Lager des Extremismus, aus dem Lager des faschistischen, fremdenfeindlichen oder anti-demokratischen Gedankenguts oder aus religiös-fundamentalistischen Kreisen.

Unverständnis ernten wir von solchen Menschen, die z.B. als Wissenschaftler in Descart ‘schen Denkgebäuden, oder Politikern, die in alten Links-Rechts-Schemata gefangen sind. 

Schwierigkeiten der Vermittlung unseres Handelns haben wir bei Menschen, die aus gesellschaftlichen Ängsten und Unsicherheiten heraus, die Schule und ihre Selektion für wichtiger halten als die Entwicklung und das Leben ihrer Kinder.

 

Warum ist Freinet-Pädagogik so erfolgreich? 

Ein entscheidender Grund ist der, dass sie zwei Dinge gleichzeitig tut, die sonst als Gegensätze angesehen werden: Sie organisiert für jeden einzelnen Lerner einen eigenen Lernweg, der einerseits  uneingeschränkt die individuellen Interessen und Kompetenzen als  Ausgangspunkt und Ziel hat,  andererseits  jedes Lernen  in die Kooperation der eigenen Lerngruppe, als auch in die Kooperation mit  der realen Umwelt  einbettet.  Demokratische Lern- und Arbeitstechniken ermöglichen die  gegenseitige Befruchtung von individuellem und gemeinsamen  Lernen.

Sie ist so erfolgreich, weil  sie dem Lerner nicht defizitäre Bedürfnisse unterstellt, sondern alle seine  Kompetenzen  als Mittel des eigenen Lernens und Erkennens  in  verschiedenen Formen freisetzt und  ihm seine  Fähigkeiten  als Arbeitsmittel  bewußtmacht.  Mittel dieser Lernstrategien sind u.a.: der freie Ausdruck, handlungsorientiertes ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen, tastende Versuche, experimentelles Lernen, die Methode Naturelle, Techniken der verbalen und nonverbalen Kommunikation, selbstorganisiertes, geplantes, verbindliches Lernen in freier Kooperation.

Sie ist so erfolgreich, weil ihr Lernen ein systemischer Vorgang ist.  Sie folgt nie einem starren System eigener Methodik und Didaktik. Jede Lerngruppe  baut ihr eigenes, typisches Lernsystem auf.  Dieses wird ständig durch die eigene Arbeit und die eigene  systeminterne Evaluation  korrigiert, sie wächst ständig durch die Übernahme  neuer Lern- und Arbeitstechniken, die Freinetlehrerinnen  und Freinetlehrer durch ihre professionelle  selbstorganisierte Weiterbildung einbringen.

Das System „Freinet“ korrigiert sich ständig  selbst, im Klassenrat,  als Gespräch, im  Kreis, in der Arbeitsplanung, der Präsentation , in der Freinetgruppe , auf Treffen, in Ateliers,, durch die Kooperation mit Eltern.

Die Korrektur, die selbstkritische Veränderung  der Lernprozesse ist für Freinetpädagogen nicht die Ausnahme, sondern  Prinzip  der Arbeit.

 

Wo können nun Probleme auftauchen?

Das häufigste  Problem  für Freinetpädagogen ist, wie bereits beschrieben,  seit  Anbeginn  dieser Pädagogik die Diffamierung durch politische kommunale Kreise oder schulische Behörden , Vorgesetzte wie Schulleiter oder Inspektoren,  die dann meist politisch  motiviert sind oder  der  Unkenntnis  dieser Menschen bezüglich der Funktionsweise  dieser Pädagogik entspringen.  Diese Ursache  verschwindet mit zunehmender Reform des Schulwesens  in den letzten Jahren mehr und mehr.

Ein zweiter Grund  kann in Ängsten und Ressentiments von Eltern begründet sein. Der vorhandene gesellschaftliche Druck, den die Eltern bezüglich  der Schulkarriere ihrer Kinder  unter dem Aspekt schlechter  Zukunftsperspektiven spüren, die eigene negative Schulerfahrung, die nicht verarbeitet wurde, können  das Vertrauen in die Lernfähigkeit ihrer eigenen Kinder beeinträchtigen und dies kann auf die Schule übertragen werden.

Häufig wird das Kind gezwungen, zu Hause  nach anderen Methoden als in der Freinetklasse zu lernen, zu pauken,. Das Kind erfährt genau den falschen Druck, den die  Freinetpädagogik ablehnt.  Das Kind verliert die Freude am Lernen, seine Leistungsbereitschaft, es beginnt  schlechter zu lernen.

Der Kreislauf einer Self-fulfilling Prophecy beginnt zu wirken. Trotz  Freinet in der Schule beginnt das Kind  „schlechter“ zu  werden. Zuhause hört das Kind das Schimpfen über die Schule, Beschwerden und  Unterstellungen.

Meist reagieren die Kinder so, daß sie zunächst spürbar traurig werden.  Sie ziehen sich zurück,  distanzieren sich vom selbständigen Lernen und beginnen,  vorgegebene  Aufgabenstellungen einzufordern.. Sie beginnen, „sich vor der Arbeit zu drücken“.

Da sie am Nachmittag oder am Abend zu Hause  unter Druck lernen müssen, beginnen sie am Vormittag in der Schule zu „faulenzen“, zu  „spielen“, „Unfug zu machen“. Sie versuchen einen Freiraum fernab vom Lernen zu erobern.   Dies kann bis zur totalen Arbeitsverweigerung und zu  aggressiven Handlungen führen.

Eltern sagen dann, „mein  Kind lernt nichts in der Schule“, eine nachweisbare Behauptung.  Sie wollen oder können nicht sehen, dass  sie selbst die Initiatoren dieses Prozesses sein könnten.  Freinetlehrer reagieren darauf nicht „mit dem Anziehen der Zügel“ oder der  Devise „Daumen drauf“. Vielmehr suchen sie einerseits das  offene, erklärende Gespräch mit den Eltern, andererseits  mit dem Kind, einzeln oder in der Klassengemeinschaft. Sie versuchen, ihm Angebote zu machen, ihre traumatische Situation zu verarbeiten. 

Sie empfehlen das freie Malen und Zeichnen, das freie Schreiben, kinderinterne „Sorgengesprächskreise“, das Führen geheimer „Sorgenbücher“, freien Ausdruck in Tanz, Musik- und Theaterspiel.  Behutsam wird das Kind immer wieder  zur systematischen, selbstverantwortlichen  Arbeit aufgefordert, immer wieder wird es an kooperierende Arbeitsgruppen heran geführt.  Es wird aber weder gezwungen, noch überredet, noch übertölpelt, im gleichen Maße, wie die allgemeinen Regeln in der Klasse auch von diesen Kindern eingehalten werden müssen.  Das Kind und sein Problem werden ernst genommen, die Bewältigung des Problems ist  nun seine wichtigste Lernaufgabe. Fatal sind hier Schulleitungen oder auch Kollegen, die die (hilflose, nicht professionelle) Forderung von Eltern nach mehr Druck auf die Kinder unterstützen. In solchen Situationen müssen Freinetlehrer  oft die Unterstützung anderer schulischer oder außerschulischer Beratungspersonen suchen.

Zuerst muss immer dem Kind geholfen werden, nicht den Eltern.  Sollten diese  auch nach Gesprächen  kein Vertrauen in die Lernweise der Freinetklasse gewinnen,  können sie in den  Unterricht der Klasse eingeladen werden, um ihnen zu zeigen wie wir  (und die anderen Kinder) arbeiten, um sie  selbst in ein Lernen einzubinden, wo sie selbst durch eigene Erfahrung lernen können.  Sollten   Eltern dies ablehnen oder bei ihrer Haltung bleiben, empfehlen Freinetpädagogen NICHT, dass die Eltern  das Kind in eine andere Lerngruppe geben sollen.

Ihre Aufgabe ist es,  - wie in vielen anderen Problemfällen, wie Hyperaktivität, Trennungsproblemen, Missbrauch oder Lern- und Wahrnehmungsproblemen -  das Kind zu begleiten , ihm alle Chancen zu geben, am eigenen Problem in einer demokratischen Lernumgebung zu arbeiten.

Es kann keine Lösung sein, auf die Forderung der Eltern nach mehr Druck einzugehen.  Die Aufgabe der Lehrerin kann es nur sein,  bei nachlassender Arbeitseinstellung und Lernmotivation, das Kind dahingehend zu beraten, dass es neue Formen der Selbstdisziplin findet, sich selbst, trotz der Aktivitäten der Eltern,  neu als Person und in der Arbeit selbst zu organisieren.

 

 

 

 

 

 

Veränderte Kindheit

 

Die Freinetpädagogik hat das Ziel, der Einstellung und Handlungsweise immer näher zu kommen, die das Kind als dem Erwachsenen gleich berechtigt ansieht. "Das Kind agiert, reagiert und lebt...nach den gleichen Grundsätzen wie ihre Lehrer". Es gibt "keinen Unterschied von Natur her, sondern nur einen graduellen Unterschied"[2].

Diese Unterschiede waren zu Freinets Zeiten die körperliche Entwicklung, das Wissen, die Erfahrung und das "unermessliche Lebenspotential"[3] des Kindes. Die Entwicklung der Kinder heute sollte uns eigentlich unsere Grundhaltung erleichtern. Oft wissen Kinder zumindest in Teilbereichen mehr als ihre Lehrer, sie verfügen oft über weitergehende Erfahrungen (durch Urlaubsreisen, außerschulischen Unterricht, Auseinandersetzung mit elektronischer Technik, organisierte Erlebnisse), ihre Intelligenz ist in zunehmender Zahl (was für einige Kinder in der Klasse gelten kann) der Intelligenz der LehrerIn überlegen. Sie übernehmen im immer schneller werdenden Maße - im Guten, wie im Schlechten - soziale und psychische Verhaltensweisen der Erwachsenen.

Dass es sich oft um Doublebind-Situationen und -Erlebnisse handelt, erschwert die Dinge allerdings. Zu schnell sollen die Kinder lernen, sich wie Erwachsene zu verhalten, so zu "funktionieren" wie sie, aber sie lernen von ihren Eltern nicht wirklich erwachsen zu werden. Sie sollen als Babies möglichst schnell laufen und sprechen lernen, schnell wachsen und  alles lernen, aber alt werden dürfen sie eigentlich nicht, denn es gilt die gesellschaftliche Ziel-Devise "Forever young".

Zu Freinets Zeiten begegnete die Pauk- und Lernschule "ihren" Kindern mit autoritären Strafen und  Unterwerfungen, Einschüchterung, Anschreien und Schlägen und einer Erziehung zum bedingungslosen Gehorsam, der Unterordnung und unbedingtes Ablernen der geforderten Lehrinhalte und Ideologien verlangte. Die Erziehung zum "vorauseilendem Gehorsam" war höchstes Ziel von Schule.

Hinzu kommt, dass die Struktur der Schule sich immer noch nicht von seiner feudalistischen Prägung[4], die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen die humanistischen Bildungsideale eines Goethes, Schillers, oder von Humboldtdurchgesetzt wurde, lösen konnte. Leider hat Schule in einigen seiner Organisationsformen Strukturen des Militärs. Kinder werden entsprechend ihres numerischen Lebensalters, nicht entsprechend ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung zu einem bestimmten Stichtag für eine bestimmte Zeitspanne "eingezogen". Sie werden einer bestimmten Gruppe und einem bestimmten "Ausbilder" "zugeordnet". Die Kinder haben noch immer ein bestimmtes Ausbildungsprogramm bei bestimmten Ausbildern an bestimmten Orten und Zeiten zu absolvieren. Hier wird nicht überlegt, ob der Lerntyp und die Persönlichkeitsstruktur des Kindes zum Lehrertyp passt, ob die Gruppe oder die Entwicklungsstufe stimmt. Dabei sind die Lösungen bekannt: Auflösung der Jahrgangsklassen durch altersübergreifendes Lernen, family grouping, individuelle Einschulung im laufenden Jahr in bestehende Gruppen, Zuordnung der Kinder durch gemeinsame Entscheidungen der Eltern, der KindergärtnerInnen, der LehrerInnen und der Kinder (!) zu ihren Lerngruppen, ein Tutorensystem mit einem Mann und einer Frau anstelle des Klassenlehrersystems. Die Top-Down-Strukturen von der MinisterIn über Inspektoren und Schulleitungen bis zur LehrerIn muss ersetzt werden durch Beratungs-, Kooperations- und Autonomiestrukturen. Die Schule muss aus ihrer örtlichen und inhaltlichen Isolation als kasernierte Lernanstalt herausgeführt werden, zu einem für alle offenen "Haus des Lernens", wo das Lernen der Gesellschaft im Mittelpunkt steht und mit ihnen zuerst die Kinder, aber auch alle anderen gesellschaftlichen Gruppen.

LehrerInnen müssen aus ihrer Rolle als Zwangsvermittler von Wissen und Qualifikationen entlassen werden.  Sie können in einem immer höheren Maße in und an Lernprojekten arbeiten,  die eingebettet sind in kommunale Absichten, in demokratische Prozesse zur Organisation der Gesellschaft. Sie dürfen nicht weiter als nicht mehr wirklich zu qualifizierende "Fach-Spezialisten" isoliert arbeiten. Sie müssen lernen, dass "ihre" Lerner es lernen, sich selbst jene Lernwege in die außerschulische Wirklichkeit zu echten Spezialisten, zu Know-How und Informationen  zu bahnen, die sie für ihren Lernfortschritt und ihre Qualifikation brauchen. Sie werden Begleiter der Prozesse der Selbstorganisation der Individuen in ihrem sozialen Kontext. Das schlechter werdende Image der Lehrerschaft entsteht nicht durch schlechter werdende Lehrer, sondern dadurch, dass ihre Rolle (in einer nicht ausreichend versorgten und anerkannten Schule) nicht mehr den Anforderungen unserer gesellschaftlichen Qualifikationsbedingungen entspricht. Dass zu viele unserer KollegInnen unter diesen Bedingungen leiden, erklärt dann allerdings, dass es berufliche Resignation, erhöhten Krankenstand, Gleichgültigkeit, Vermittlungs- und Durchsetzungsprobleme gibt.

Noten, Prüfungen und andere Mittel der Selektion mögen zwar weiterhin aus den Mängeln der Schule heraus begründbar sein, gehören aber schnellsten abgeschafft durch Formen der Selbstevaluation und Selbstbewertung, wie sie die Freinetpädagogik immer pflegte.

Auch die Loslösung der Schule heute von der Vorstellungen der Lern- und Paukschule ist noch nicht vollständig geschehen. Immer noch wird versucht die Kinder und Jugendlichen Lehrstoff "fressen" zu lassen, damit sie "formale Leistungsforderungen" erfolgreich absolvieren, deren Inhalt sie eine Woche nach der Klausur wieder vergessen haben. Noch immer erwarten Lehrkräfte, dass "ihre" Kinder bedingungslos stillsitzen, während sie langweilige Vorträge ohne erkennbaren Sinnbezug für die Lerner halten und uninteressante Tafelbilder abschreiben lassen, deren Sinn sie selbst als oft verzweifelte oder frustrierte Lehrer nicht sehen, sondern ihn gegen Unruhe und demonstratives Desinteresse präsentieren, da das Schulbuch oder das Curriculum den Stoff für diese Woche vorsah.  

Und wenn diese Realisierung von Schule immer weniger funktioniert, Kinder und Jugendliche sich immer häufiger verweigern, sich in illusionäre Welten flüchten, als Mitläufer an der Oberfläche der Freizeitangebote dahin konsumieren, demonstrativ die Übernahme von Verantwortung ablehnen, krank werden oder in jetzt auch schon kommerzialisierte subkulturelle Fallen laufen, anti-demokratische Parolen und Ausländerwitze nachplappern,  mobben und selber unter Ausschlussspielen leiden, ohne sich um ihre schulische Entwicklung kümmern zu wollen, oder umgekehrt - eine coole Leistungsgeilheit an den Tag legen, ...

Alles in allem werden die Kinder vielen  Erwachsenen, ob in ihrer Funktion als LehrerIn oder Eltern, immer unverständlicher und fremder. Und in dieser Situation fordern starke gesellschaftliche Kräfte die Wiedereinführung militaristischer oder preußischer Bildungsideale wie Disziplin, Ordnung, Gehorsam und Fleiß.

Hier greift das Bild des "vom Erwachsenen zu erziehendem Kind". Hier greift der Anspruch, dass der Erwachsene weiß,   wie ein Kind zu sein hat, die Hybris man wisse, wie richtige Erziehung und Bildung zu sein hat. Leider herrscht diese Grundeinstellung auch in unseren europäischen Ländern außer den Englisch sprachigen vor, wenn Bildungskommissionen Curricula einer zentralisierten Schule mit Monopolanspruch auf Bildung und Erziehung entwerfen, die für jeden Ort, jede Schule, jede Klasse und jedes Kind in einer bestimmten Altersphase in einem bestimmten Schuljahr zu gelten hat. Ein amerikanisch-kanadischer Wissenschaftler sei hier zitiert, der die französische Schule stellvertretend beschreibt: "Für Nordamerikaner ist der offensichtlichste Gegensatz zwischen U.S.-amerikanischer und kanadischer Erziehung auf der einen Seite und französischer Erziehung auf der anderen Seite die Zentralisierung des Schulsystems der letzteren. Eine (etwas schelmische ) Anekdote, die es aber auf den Punkt bringt, erzählt, dass der französische Erziehungsminister in jedem beliebigen Moment auf die Uhr schauen kann, um genau zu wissen, was jeder beliebige französische Schüler gerade lernt. Das ist natürlich eine Übertreibung, aber es beschreibt den Kern des Charakters der französischen Erziehung".[5]

Hier geht die Freinetpädagogik den Weg, den die Europäische Union mit der Stärkung der selbst-verantwortlichen Autonomie der einzelnen Schule mit Erarbeitung von Schulprogrammen und der Entwicklung eigener Profile vorgibt.

Zu hoffen bleibt, dass das zurück zu zentralen Gewalten und ihr erzieherischer Geist sich nicht gegen die historische Erfahrungen durchsetzt oder die Entwicklung der Modernen Schule zu sehr behindert.

Gerade in den Ländern, die traditionell eher eine zentralistische Kulturpolitik kannten, geht die Tendenz zur Stärkung einer demokratischen modernen Leistungsschule. Die staatlichen Stellen sind die, die die Reform, die Verbesserung der Qualität von Bildung und Ausbildung oft gegen den passiven, manchmal offenen Widerstand der Schulen voran treiben.

Diese Langsamkeit und Mühe der Umsetzung von staatlich verordneten und empfohlenen Reformen basiert einerseits auf der mangelnden Bereitschaft des Staates selbst den Bildungsbereich mit (vorhandenen!) ausreichenden finanziellen Mitteln auszustatten.

Andererseits zeigt sich der Mainstream der Kolleginnen und Kollegen in diesem seit Jahren andauerndem Paradigmenwechsel verunsichert. Zu oft hörten viele von ihnen wie es nicht mehr in Erziehung und Unterricht gehen sollte. Zu oft traten "Theoretiker" in Fort- und Weiterbildungen auf, die "neues Lernen" propagierten, es selbst aber nie erprobt, geschweige denn wirklich verstanden hatten. Sie schickten zu viele KollegInnen, die zu Veränderungen bereit waren, in eine Sackgasse. Pädagogische Zeitschriften  und ministerielle Schriften beschrieben und propagierten zu oft "Musterbeispiele" von "Musterprojekten" an "Musterschulen", die unter künstlichen oder begünstigten Bedingungen entstanden waren. Aus der LehrerInnenbildung kommen nun junge Menschen an die Schulen, die über ein höheres Wissensniveau und eine reichhaltigen Kanon an Unterrichtstechniken verfügen, aber sie sehen sich immer noch als Vermittler von Unterrichtsstoff. Dass sie die erwachsenen Vermittler zwischen Welt und Erwachsenenwelt und Kindern und ihrer Welt, dass sie Begleiter der kindlichen Lernprozesse sein können, konnte ihnen die alte Ausbildung oft nicht beibringen, da Ausbilder allzu oft nur das neue Vokabular gelernt hatten.

Die Freinetpädagogik sammelte über Jahrzehnte eigene unabhängige Erfahrung in der kooperierenden Selbstberatung, der selbstorganisierten Fort- und Weiterbildung, in der Eigenevaluation der täglichen Arbeit und der Formulierung der eigenen Erkenntnisse.[6]

In der Praxis der Schule sind viele Lehrerinnen und Lehrer heute orientierungslos. Das Klagen über die "Kinder von heute" und den "Stress des Schulalltags" nehmen zu. Wenn in früheren Zeiten die Erziehung zum Gehorsam im Mittelpunkt stand, gibt es nun recht häufig, nicht recht wissend, was man will und wohin man will, die Erziehung zur Anpassung. Nicht auffallen, nicht anecken, gut durchkommen, Hauptsache die Noten stimmen, Matura oder Abitur machen, sich alle Wege offen halten, ...funktionieren. Du bist gut, wenn du es der Lehrerin oder dem Lehrer recht machst, sie oder er will gut gelitten werden, braucht Anerkennung für seine Arbeit.

Und in der Tat provozieren die Lehrkräfte bei den Kindern die Kunst der "vorauseilenden Anpassung". Die Kinder wissen sehr wohl, was sie tun müssen, um zu gefallen, um "etwas" zu erreichen, bei ihren Eltern oder Lehrern. Oft kombiniert sich dies mit den Formen des Widerstands gegen die leicht zu durch schauende Erwachsenenwelt: gegen einander ausspielen, trotzen bis zum letzten, sehr wohl wissend, welche Eltern und Lehrer zurückstecken, nicht weiter wissen, um jeden Preis auf sich aufmerksam machen.

Viele dieser Pädagogen (und Erwachsenen) suchen heute im Sinne des Zeitgeistes nach sofort anwendbaren einfachen Rezepten und schnellen Lösungen, möglichst kaufbar, in Form von Sachbüchern, Kinderpsychologen, Programmen, möglichst kompatibel zur Playstation, die ansonsten keiner Veränderung bedürfen.

Die Freinetpädagogik hat hier eben keine schnellen Lösungen oder garantiert erfolgreichen Rezepte. Was sie anzubieten hat, ist ein Grundeinstellung, so etwas wie eine pädagogische Seele, die manifestierbar ist, in Formen der Lernorganisation in der Klassenkooperative, in den Techniken des Freien Ausdrucks, in ihren Kommunkationsformen, in der "Methode Naturelle", in der Lernweise des "tastenden Versuchens" und eigenen "Forschens" und "Fragens"in der Welt, in der Vermittlung von Arbeitstechniken zur Erschließung jener Inhalte, die sich das Kind ausgewählt hat, im Angebot von Lernmaterialien, die die Aneignung von "notwendigem" schulischen Wissen zum Durchlaufen der schulischen Selektion erleichtern, von Zeit und Emotion, die die Kinder zur Entwicklung ihrer eigenen starken Persönlichkeit brauchen.



[1] Und das, obwohl die Grundideen der Freinetpädagogik in den Richtlinien der Grundschule im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen schon seit zwei Jahrzehnten integrativer Bestandteil sind, obwohl die Europäische Union sie als richtungsweisend empfiehlt (vergl. hierzu: Wolf-Dieter Kohlberg, Wie modern ist die "ECOLE MODERNE", In:Harald Eichelberger, Lebendige Reformpädagogik, Innsbruck, Wien 1997

[2]  Célestin Freinet, Pädagogische Werke Teil 2, Paderborn 2000, S. 489

[3]  ebenda

[4]  vergleiche hierzu  Franz Klafkis Aufsatz über Sinn und Unsinn der Leistungsbewertung von 1975

[5] William B. Lee, John Sivell, French Elementary Education And The Ecole Moderne, Bloomington, Indiana USA 2000, S.12f.; eigene Übersetzung

[6] vergl. hierzu: Ingrid Dietrich, Handbuch der Freinet-Pädagogik, Weinheim und Basel 1995

                        Jochen Hering, Walter Hövel, Immer noch der Zeit voraus, Bremen 1996

                        Christian Schreger, Christine Wiedermann, Emmerich Gradauer, Tastendes Versuchen -             

                                                        wissenschaftliche Erkenntnis, Wien 1997

                        Herbert Hagstedt, Freinet-Pädagogik heute, Weinheim 1997