Barbara Daiber, Walter Hövel, Gudrun Maaser, Uschi Resch, Andrea Schmidt, Eva Schulz, Maria Stöcker. Jenny Wieneke
Grundschultreffen am l. Juni 2000 in Altenmelle
Ein Gespräch mit Ghostwritern zu
"Freinet und Religion"
Dieses zweistündige Gespräch war aufgeteilt in drei Teile. Im ersten Teil sprach nur eine Hälfte der Menschen mit einander, die anderen hörten zu und schrieben. Jeder Mensch hatte einen eigenen Ghostwriter, der eben nur zuhören und schreiben durfte. Im zweiten Teil wurden die Rollen getauscht. Im dritten sprachen alle mit einander, und die jeweilige Partnerin schrieb mit, während die andere sprach.
Im Folgenden sind die Notizen der Ghostwriterinnen ohne inhaltliche Ordnung wieder gegeben. Sie können vertikal als Gedankengänge der Sprechenden, als auch der Schreibenden gelesen werden. Wer will, kann sich auch die horizontalen Verbindungen eines Gesprächs lesend erarbeiten:
„Religion ist zu erst immer Kirche...aber es sollte genau das Gegenteil sein ...es gibt so viele
verschiedene Religionen,...aber sie alle haben etwas mit der Herzensbildung zu tun....Aber zur Kirche gehen und religios sein, sind zwei verschiedene Dinge...Die Kirche gibt Werte vor. Sie sind aufgesetzt...Kinder und Menschen müssen das Recht haben, Religion für sich selbst zu entdek-ken...und das darf nicht von Außen kommen...das musst du selbst in dir haben und leben....Hier muss es einen freien Ausdruck geben können: Wie geht es mir?...Ich kann mich selbst äußern, ... mit anderen zusammen, das ist wichtig ..Es ist die eigene Erfahrung,...das Selbst-begreifen.....Es geht nicht um ein schlechtes Gewissen, wenn Menschen ihre Herzen öffnen können, brauchen sie so etwas nicht...es gibt mehr, was wir wahrnehmen können,....nur Gutes tun . etwas Warmes ums Herz,...etwas erfahren was einfach „schon“ ist,...eine eigene Stimmung schaffen, er-leben!...Das Gefühl beisammen zu sein...In Frieden mit einander leben,....diesen Gedanken haben doch Reli-gion und Freinet gemeinsam, und...mit einander leben,...sein lassen können, tolerieren,...jeder bei sich und trotzdem mit einander sein...friedlich, ohne etwas Böses,...Gerade solche Leute treffen sich doch auf Freinettreffen, die nicht besser, schneller...sein wollen als andere,...Aber auch strei-ten können,...aber in der Tiefe deiner Seele keinem anderen etwas Böses wünschen … Gott ist in jedem von uns.“
„Die herrschende Religion macht sich nichts daraus, Menschen in Register zu stecken...sie sagt dir, was du für richtig und was du für falsch zu halten hast."
„Es gibt keinen Katalog von Werten, aber Kirche macht ihn und delegiert von den Menschen selbst weg zu Personen, Orten und Zeiten.“ Das Wort dafür in der christlichen Erziehung heißt maßregeln“
"Leider haben die Kirchen den Menschen die Religion weggenommen. Die Pfarrer dürfen die Verbindung zu Gott halten, die anderen sind das Fußvolk. Wie unser Tandem; der eine redet, der andere schreibt...Letztendlich sind alle Menschen religios,...die religiosen Rituale sind delegiert worden,..ein Stück entfremdet....Warum nehmen die Menschen so wenig Verantwortung für ihre Religion? Warum laßt ihr euch entmündigen?...Werte werden in der Kirche zu Normen erklärt. Die Pfarrer wissen, wie es richtig gemacht wird...Um welche Werte geht es... Mir geht es nicht um die Werte selbst, sondern darum, wie Werte sich bilden oder festgelegt werden."
"Wenn man innerlich einen Wertekatalog durchgeht, einen Normenkatalog, den es zu erfüllen gilt, ist das das Gegenstück zu dem, was ich mit Herzensbildung meine. Ich glaube, dass Werte nur in den jeweils einzelnen Situationen gültig sind....Bezug zu Freinet heißt für mich, die Religion für sich selbst zu entdecken... Die Religion gehört nicht den Pfarrern, nicht der Kirche, wie die Kunst nicht den Künstlern gehört. Religion gehört wie der freie Ausdruckeinfach dazu. Es geht damm, was fur mich stimmig ist...Wie bildet sich Gewissen? Es geht nicht um schlechtes Gewissen. .. Vielleicht eher dann, das ich mich irgendwie komisch fühle... Ich kriege mit, wie es dem anderen geht, ich kriege mit was gesagt...Es ist gewagt, dazu Religiositat zu sagen.
"In meiner Klasse sind viele Religionen vertreten. Das Ziel könnte sein, die verschiedenen
Religionen kennenzulernen und sich damit sein zu lassen....Jeder darf seine Art der Religiösität haben."
"Bei der neuen Diskussion um Werteerziehung ist für mich sehr fraglich, wie das gehen soll.
Es geht mehr um einen SPÜRSINN FÜR WERTE."
"...Vieles von dem, was hier als religiöse Werte oder Visionen vorgestellt wird, findest du bei Freinet auch wieder, nur da wird das als ein sozialistisches Menschenbild vorgestellt....Es gibt aber eben keine Messlatte für Werte oder das Richtige oder das Falsche... Religion ist immer politisch!...und da gibt es fur mich nur eine sympathische Politik und Religion, nämlich die, die für die Selbstbefreiung der Menschen eintritt...die auch fur die Selbstbefreiung der Kirchen eintritt...und ich mag die nicht mehr, die andere, ganze Völker oder Klassen befreien wollen."
"Kirche schleicht sich immer von hinten rein!“
Zitate:
Äußeres Christentum klebt, weil es vornehmlich auf Lehrmeinungen, Gebote und Rituale ausgerichtet ist, am Wort, am Buchstaben, am Bekenntnis, an Formalien, an Äußerlichkeiten, wahrend das innere Christentum als Frucht lebendiger Gotteserfahrung auf das Wesen zielt, den Geist, das rechte Erkennen und Tun, das innere Wachsen und Wachstum. (S. 19/20)
Die vier Evangelien des Neuen Testamentes enthalten jedoch keineswegs alle Worte Christi. Den Urchristen waren daneben andere mündlich überlieferte Aussprüche und urkundliche Spruchquellen bekannt. Die Gesamtheit dieser Überlieferungen wurde etwa im 3. Jahrhundert von den sog. „Correctores“ der Kirche gesichtet. Dabei wurden die für das Neue Testament ausgewahlten vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Lehrbriefe und die Offenbarung des Johannes als „ kanonisch “ - das heißt, als inspirierte und allein maßgebende - Richtschnur für christliches Leben und Handeln.- anerkannt, während die übrigen als „apokryph“, - das heißt, als verborgen, geheim und nichtbiblisch - von der gottesdienstlichen Lesung ausgeschlossen wurden. Erreicht wurde dadurch, dass das Neue Testament, das ursprunglich eine Mannigfaltigkeit verschiedener Schriften umfasste, heute als ein einheitliches Werk erscheint. (Die geheimen Worte des Thomas Evangeliums. Wegweisungen Christi zur Selbstvollendung Erläutert von K.0.Schmidt, Drei Eichen Verlag Munchen und Engelberg 1977)
„Ich kann die Rituale unserer Kirche anerkennen ( Der Pfarrer als Mittler zwischen Gott und dem Menschen). Meine religiose Praxis suche ich mir selber. Es ist meine eigene Mündigkeit.“ „Ich suche nach meinen Wurzeln, die Kirche hat das abgeschnitten.“
"Die Menschen dürfen die Verbindung zu Gott nur über den Pfarrer halten...Der Pfarrer hat
die Verbindung zu Gott... Sind letztendlich alle Menschen religiös?...Religiose Rituale sind
nicht mehr in den Alltag integriert - Entfremdung ...Religion = Kirche?...Religionen haben
vieles gemeinsam.. .Die Werte der Religionen sind oft gleich...Viele Menschen leben danach, gehen aber nicht in die Kirche...Werte sind zu Normen gemacht worden. . .Es geht nicht mehr darum, dem Herzen zu folgen, sondern Normen zu genugen.
Diskussionen in der Schule orientieren sich an Normen...Kinder sind spirituell...Wie kann ich die Bedürfnisse der Kinder in den Alltag einbringen?....Einige Leute machen sich Altäre.""Gibt es falsche Werte?...Es ist wichtig die eigenen Werte zu finden...Werte der Kirche sind oft an bestimmte Personen, Zeiten oder Orte gebunden (Gottesdienst)...Werte erweisen sich in Situationen (Was ist recht, was ist unrecht?). . .Bei Aggression und Reaktion darauf wird oft der Reagierende sanktioniert....Lügen - ein Wert? (Wahlhelferin / Oma)...Ein Wertekanon muss in jeder Situation überpruft werden...Wertekanon - Gegenteil von Herzensbildung?"
"Freinet - Kultur selbst machen - Religion fur sich selbst entdecken. . . Wie bringst du es den Kindern bei?.. .Herzensbildung selbst erleben und vorgelebt bekommen.. .Was erlebe ich, was ist stimmig, wo empfinde ich es?...Im Gespräch mit der Klasse zu gemeinsamen Werten kommen."
"Es geht nicht ohne schlechtes Gewissen... man wird in die Lage versetzt zu empfinden, was man jemandem anderes antut ...Etwas ist größer als ich selbst...Ich habe Achtung davor...Demut, Achtung, Einordnen. .. Die Wissenschaft geht in den Größenwahn, stellt sich über die Natur...Zuweisung an den Platz."
„...Der Glaube es gibt etwas Höheres als mich selbst...Wieder das richtige Maß für die eigene Größe haben, nicht glauben, wir konnten alles beherrschen!“
"Wo sind die Wurzeln? Ich suche die Entwicklung."
"..und erst der Begriff der Schuld, was tut die Kirche da den Menschen an...in der ursprunglichen Übersetzung soll es in Wirklichkeit um Verstrickungen gehen, Verstrickungen, aus denen du dich lösen kannst, aber Schuld, das ermöglicht Herrschaft, nicht Befreiung! ...und du kannst nicht einfach weggeben, dass seit einigen 3 bis 4tausend Jahren bewaffnete Krieger im Namen der patriarchalen Religionen um die Welt laufen, die andere zwingen zu glauben, was sie glauben, ... die die Vielzahl anderer religioser Welterklärungen und -erfahrungen ausrotten...Da musst du auch distanzfähig zu Kirche und Religion bleiben, wenn du es wirklich ernst damit meinst, dass Kinder wirklich selbst lernen dürfen, dass sie ihre Fragen zur Welt stellen und selbst beantworten lernen...
...Ich finde es erschreckend, dass viele Menschen an nichts mehr glauben,..."
"Spiritualitat heißt bei sich selbst zu sein...Wahrnehmen von Dingen, die wir nicht sehen Rituale schaffen, dass sie Gemeinsamkeit empfinden...Erfahrung: Ich bin bei mir und wir sind zusam-men...Abgrenzung, Spiritualitat- Religiositat...Religiosität; Glaube, dass es etwas Größeres gibt."
"Vater tauchte in der Kirche ab. ...2. Heimat,...Hafen neben der Familie....In der Kirche, wenn es still ist, ergreift mich etwas Tiefes...Kirchen strahlen etwas Besonderes aus....Sie sind zum Teil an besonderen Orten gebaut...Menschen leben in Frieden miteinander - Religion.... Atmosphare schaffen, in Frieden zu leben...Platz fur „das Böse“ schaffen … Spürsinn für Werte schaffen...Unterschied, Religionsgeschichte – Glauben."
"Unsere Schule ist offen für beide Kirchen, weil dort Menschen aus der Kirche auf die Kinder zukommen, die umdenken wollen und können...Ich mache mir eher Sorgen um Menschen, die ohne jeden religiösen Halt bleiben, die Zuflucht in Sekten, bei Fundamen-talisten, in der Konsumesoterik, in Drogen oder Verbrechen suchen...Aber auch da ist Kirche trotzdem noch immer Herrschaftskirche...wichtiger ist für mich, dass es eine Auffassung von GEIST als Prinzip gibt..., dass aber alle Menschen das Recht haben, ihren Zugang zu Religion zu finden, ihren eigenen freien religiösen Ausdruck entwickeln und erproben dürfen..."
"Was mich daran stört, ist unser unmündiges Verhalten- ich kann heute dem Pfarrer verzeihen, er ist auch nur ein Mensch....Ich kann die Rituale unserer Gesellschaft doch erstmal anerkennen ....meine eigene Religionsmündigkeit führte zunächst über das Entdecken der verschiedenen Religionen, vom Buddhismus bis zu den Schamanen, jetzt kann ich wieder ruhig in der Kirche sitzen...Für mich hat Religion mit Glaubenssystem zu tun: Leute, die dazugehören und andere: wir und ihr. Wie hat sich das gebildet?...Bei der Taufe wird man in diese Gemeinschaft aufgenommen und ich finde es wichtig, dass Kinder so etwas erleben und sich dann später damit auseinander-setzen können...Ist die Religion nicht viel offener als was die Leute daraus machen?...Kirchen mussen heute offener sein, sonst sind sie nicht mehr wichtige Gemeinschaften,...Religion hat was mit Glauben zu tun....Unser christliches System hat mit Gnade zu tun, mit Erlösung, es ist nicht so hart, wie andere Glaubenssysteme. Es ist die Religion der schlichten Erdenbürger, mit Gott kom-munizieren, bodenstandig, bescheiden, die Spirits greifen eher nach den Sternen....es ist sehr arrogant, wenn wir die Religionen nicht als Weltkulturen ansehen, die es überall auf der Welt gibt. Sie gehören zu den Menschen, wie seine Kreativitat...auch die Marxisten haben totale Scheiße gebaut - es sind die Menschen und ihre Enge, die das daraus machen, es passiert überall, dass sich Menschen über den anderen stellen, eine Veränderung kann nicht über die Abschaffung der Religionen gehen, sondern über ihre Offnung."
"...Religion wird noch immer so eingesetzt, dass Menschen nicht darüber nachdenken sollen, was mit ihnen, was mit und in der Welt passiert...und das ist ein Stück weit die Ideologie des Christentums...immerhin steht in der Bibel: „Macht euch die Welt untertan“...Sie fordert Menschen auf, andere untertan zu machen...Das Christentum basiert auf der Religion eines ausgewählten Volkes...sie haben ein besseres Verhältnis zu Gott als andere...hat das nichts mit der Eroberungs- und Missionierungspolitik im Namen des Christentums zu tun?...Wir sind gerade einmal am An-fang einer Zeit, wo auch Kirche beginnt anders zu denken, sich zu öffnen oder gar umzudenken...
"Wir führen hier eine Diskussion , die mich an die K-Gruppen Diskussionen erinnert von vor 20 Jahren … Wir stellen uns total arrogant über etwas. Wo sind unsere Zugangs-weisen, die wir auf diesen Treffen haben bei diesem Thema? Was machen wir damit? ...Wir haben hier z.B., andere religiöse Rituale etc. gehabt (im Haus), aber alles selber machen ist mir zu anstrengend, ich war jahrelang mein eigener Priester, das Angebot der Kirche ist interessant, wir sind ein Teil davon...wir werden die Welt nicht umkrempeln als Freinet-Pädagogen .... Die Konsequenzen sind auch wichtig: in der Begegnung der Menschen liegen die Lösungen, in der Akzeptanz der Unterschiedlichkeit...ich suche mir die Leute und die Rituale, die ich brauche und will."
"… Wenn wir Kinder erleben, die sich religios ausdrücken, wenn wir auch mit den starker werden-den humanistischen Kräften aus den Kirchen zusammen arbeiten, dann ist das so ähnlich, wie Freinetleute seit Jahren in der staatlichen Schule arbeiten: Die staatliche Schule hat mindestens zwei Gesichter. Sie verliert nicht den Charakter von Herrschafts-stabilisierender Institution durch Selektion und Disziplinierung und gleichzeitig ist sie die real-existierende Schule mit all ihren Widersprüchen, mit verdummenden Curricula des gleichschrittigen Lernens bis hin zur Institution, wo Kinder die Menschen werden können, die in ihnen stecken. Und da gibt es den Begriff des Lernens, der in und trotz und natürlich auch außerhalb der Schule stattfindet. Und so ist es für mich auch mit Kirche und Religion.
Kirche und Schule sind für mich auf der gleichen Ebene vergleichbar, und Lernen und Religion auf der anderen. Und wenn wir in Schule arbeiten, so dürfen wir den Charakter und die Gefahren dieser Institution genau so wenig vergessen, wie die der Institution Kirche. Unmündig wäre es, wenn wir nicht mehr politisch denken und analysieren... ...und ich denke, es ist kein Zufall, dass wir hier und heute über Freinet und Religion reden, und es ist gut so... nur dabei müssen wir auch über Schule als staatliches Monopol in der Bildung und Herrschaftsreligion mit dem Monopolträgern Kirchen reden. Nur so erfahren wir mehr über das Lernen und die Religiosität der Menschen.
"Wenn Menschen sich mit ihren Herzen treffen, sind sie Gott oder Gott-ähnlich...wie ist/war Gott?"
"Religionsunterricht bindet nicht an...bietet keinen Halt … mögliche Aufgabe der Religion.
Schaffung von Toleranz gegenüber anderen Religionen...wenn ich sie abschaffe - hat jede Gruppe (multikulturell) die Chance ihre eigenen Religionen, - sprich Werte zu finden … Religion hat zu viele Herrschaftsmomente im Rucksack...
Heute Religion abschaffen?...Stattdessen Raum für Spiritualität schaffen...jeder bei sich suchen..."