Walter Hövel
Middle Class Blues

Alle klagen wir Klagen.
Wir sind euphorisch
gleichgültig depressiv engagiert.

Wir sind nicht mehr Ich,
wir sind „Ich persönlich“.
Ausgebildet bis zur Blödheit
funktionieren wir nachhaltig.
Wir sind geordneter als die Verhältnisse.

Wir wollen informiert sein.
Wir fordern
Volle Transparenz aller Vorgänge.
Optimal freundliche Kommunikation.
Alles muss für mich funktionieren.

Wir leben unser Leben
wie eine Soap.
Wir lachen über Witze
Hauptsache Comedy.
Wir sind
also konsumieren wir.

So satt.
Wir optimieren höchstens uns selbst.
Die Verhältnisse ändern wir nicht.

Wir essen gut
bei den Reichsten unseres Landes
aus Aldis und REWEs Regalen.
Mal essen wir Plastik, mal Bio.

„Ich simse, simse im Sauseschritt
und bring mein iPhone mit
zu meinem Facebooktweet“.
Wir können Apps und Shitstorm
Flashmob und Burnout.

Unser Ego braucht ein Tattoo.
Lassen unsere Körper spritzen
Brüste, Lippen, Gene.
Spritzen unsere Kinder nicht,
aber zahlen für Medikamente,
Medien und Moden.
Werden nicht erwachsen
Notenjäger und Kindergeldempfänger
Sind ohne Zeit und eigene Fragen
ohne Verbindlichkeit.

Mal  vegan, mal egal, stets legal.
Die Wirtschaft wächst.
Die Banken wachsen.
Die Zahl der Kriegseinsätze wächst
und der psychisch Kranken.

Die Zahl der Armen wächst
und die Zahlungen an die Reichen.
Selber reich lernen wir zu teilen
Nach Verantwortung klingende Stimmen
beschwichtigten uns
betören mit Werbung
begoogeln uns.

Der Politiker ist korrupt.
Wir sind bestechlich.
Die Seilschaften schieben.
Friedens- und Krisengewinnler
mauscheln und profitieren
in Aufsichtsräten und Abteilungsbetten.
 
Unsere Gemeinde ist bankrott.
Der Staat verschuldet.
Wir kaufen ein neues Auto.
Wir bezahlen den Pump
von dem wir so gut leben.
Wir verdienen uns arm.

Wir erziehen zu Prinzen ohne Burg,
zum Fliegen ohne Helikopter,
zum Ja- oder Neinsagen
ohne Alternative
zu Spielern und Söldnern,
zur Sekundärtugend
ohne Arbeitsvertrag

Die Straßen sind mit uns verstopft.
Drängeln, Schneiden, Aufregen, Drohen
Smarte Spießer, junge Spießer.

Der Darm ist verstopft.
Verstopfung als Lebensweg.

Wir halten uns fit.
Wir treiben Sport.
Kaufen dazu Schuhe und Hanteln
und das passende Design.

Wir hören was wir hören wollen.
Hören nicht was wir reden.
Wir glauben uns und nicht.
Die Wahrheit geht vorüber.
Es wird wieder weggesehen.

Wir schweigen.
Die Vergangenheit wächst.
Der bekannteste Tote ist der Führer.
Seine Enkel werden gestaatsschützt.
Generäle führen wieder Krieg
Mit Waffen und mit Banken.
Nachbarn haben wieder Angst
vor dir und mir  in Großeuropa
während wir sie beschenken.

Kriege werden nicht mehr erklärt.
Der Krieg ist fern so nah.
Adlige Minister tätscheln
das Gesicht der blonden Soldatin.
Militaristen sind wieder in.
Pazifisten werden belächelt.
1984 war 1964 Zukunft
2014 ist 1984 Gegenwart.
Wir dienen wieder.
Sie verdienen es.

Wir verkaufen unsere Zeit.
Ein Rest bleibt für Charity.
Wir vermessen Lebensraum.
Vermissen unsere Zukunft.
Wir verzehren unsere Gelassenheit.

Wo sollen wir etwas sagen.
Sprachlos dürfen wir alles sagen.  
Wir haben ständig etwas zu sagen.
Niemand hat uns etwas zu sagen.
Niemand von uns hat etwas zu sagen.
Wem nützt etwas zu sagen.
Twittern bitter leicht und immer.

Gewöhnt  an alles
Klimawandelkatastrophe
Sex mit Vampiren
Atommüllzwischenlager
Abschlachten von Orks
Zauberministerien
Halbwertzeit von Skandalen

Wir haben alles
Bildfläche, Oberfläche,
homogene Flächen.
Immer das Neueste
individuell für die Massen.

Freiheit verkommt zur Gleichheit.
Demokratie zu Abstimmung.
Wir haben Uhren, aber keine Zeit
Bekommen Noten, aber keine Werte.
Wir haben Religionen, aber keine Seelen.
Wir sind Herrschaften ohne Herrschaft.

Wir verlieren jeden Überblick.
Wegschauer und Gaffer
Weggeher und Raffer

Wir jobben und mobben.
Arbeiten bis zum Umfallen.
Sterben tun die Anderen.
Wir bleiben jung bis zum Tod.
Bis dahin bleiben sie,
die guten Bürger unter sich,
 wir unter uns.

Wir haben Angst
vor dem Abstieg
vor der  Überarbeitung
vor der Arbeitslosigkeit
vor der Krankheit

Vor Einordnung in soziale Milieus
Angst vor Änderung
vor zu wenig Beziehung
vor zu viel Beziehung.
Wir trauen Niemandem
und schreien nach Bindung.

Angst vor der Mittelmäßigkeit
Angst vor jedem
der nicht mittelmäßig ist.

Wir müssen reisen.
Suchen das Andere.
Suchen die Anderen.   
Danach können wir etwas erzählen.

Zuhause üben sie den Umgang
mit dem Fremden.

Sich selbst fremd sein.
Hecheln nach Sinn.
Klammern an Gott und Ideologie.
Geil auf ein wenig Macht.
Kiffen um zu verstehen.
Die Einsamkeit wegsaufen.
Furcht vor der Zeit danach.

Middle Class fühlt sich klasse.
Wir posen uns selbst.
Wir gigglen middle class green.
We’re the left class left.


Mal 5 Sterne mit Ambiente.
Mal grau übertüncht.
Schwarz und  rot und grün.
Wir lügen belügen dich mich.
Wir können nicht mehr wählen.
Gaben schon lange unsere Stimmen ab.

Zahlen Gebühren fürs Wartezimmer.
Warten  auf Wunderwaffeln.
Schwenken kleine Fähnchen
jubeln
bis die Pisse in den Augen steht.

Danach sind die Ränge leer
die Teller und Grills
die Dosen und das Meer.
Und die Augen sind leer.
Ersoffen im Trauma
Nazigroßvater im Betttuch
 Opferschuld der Großmutter


Männerfeindlich zickig.
Frauenfeindlich aggressiv.
Kinderfeindlich subversiv.
Er schlägt  Frau und Kinder.
Das Kind schlägt die Eltern.
Wir schützen die Familie.

Der Arbeitslose ist voll
wie die Taschen der Reichen.
Schlagen zu mit Milliarden.
Am Aufladegerät der Zeit.

Die Gedankenpolizei
erlöst nicht mehr.
Im Menschenmeer
menschenleer.
Wir können alles posten und filmen.
Wir können alles schreiben und mailen.

Keiner braucht „eigentlich“
„wenn ich ganz ehrlich bin“
„quasi“ den Störenfried.

Sprich  nicht radikal
Bleib ahnungslos
Korrekt und normal
Alles muss gut bürgerlich sein
wie der andere und auch du

Du bereicherst eine Vielfalt
ohne Widerstand
Er ist zwecklos
Sie werden assimiliert.

Lebe in relativer Bedeutungslosigkeit
Bleibe unentdeckt entdeckt.
Um zu bleiben wer du bist.

Wie die Vielen
die sich dagegen stemmen.
Die Zeit umlenken wollen.
Sinn stiften.
Zeit schenken.
Mit Menschlichkeit mit Demokratie
mit Liebe mit Hoffnung mit Zeit

Bleibt Zeit. Zeit zu warten. Vielleicht.

 

Warten wir
auf den nächsten Middle Class Blues.