Walter Hövel
Vertrauen
Ich wurde 1949 als Kind
zweier nicht bereuender Nazis geboren.
Ich musste sie als Kind lieben
um leben zu können.
Das wusste ich aber nicht.
Ich liebte sie
in einem fremden Leben.
Ich lernte
von ihnen wie sie
und selbst zu überleben.
Überlebenskampf
Leben müssen,
Verantworten müssen
Erfolgreich sein müssen
Funktionieren müssen
Müssen müssen
Heute weiß ich einiges darüber was geschah.
Immer wenn ich nach der Vergangenheit,
der Gegenwart oder der Zukunft fragte,
wusste ich, dass ich etwas Unerlaubtes tat.
Heute weiß ich,
dass ich mich niemals
auf die Aussagen meiner Eltern
verlassen konnte.
Nie erfuhr ich
wie viele Menschen
sie getötet
wie viele Leichen
sie gesehen hatten
Mal erzählten sie, um plötzlich zu stoppen.
Mal leugneten sie.
Mal logen sie.
Dann erzählten sie wieder von früher.
Sie redeten viel über die Anderen,
die „Maikäfer“, die „Bonzen“, die „Verräter“,
die „feigen Italiener“, die „brutalen Russen“,
die “mutigen Franzosen,
die nicht kämpfen konnten,
aber am Ende einer jeden Kinovorstellung ihre Nationalhymne sangen
(auch wenn SS im Raum war)“,
den „Jüdd“,
Sie waren Opfer, niemals Täter!
Ich weiß heute,
dass ich mich niemals darauf verlassen konnte,
was sie mir erzählten.
Eine Wirklichkeit existierte nicht.
Es gab immer das Konstrukt meiner Eltern,
was mit dem in Gesellschaftlich
oder Schule Gesagtem
oft übereinstimmte.
Dazu gab es meine Wirklichkeit
und irgendwo
– so glaubte ich –
eine reale Wirklichkeit.
Später lernte ich,
dass die Wirklichkeit ihrer „Gegner“,
die Wahrheit der Bolschewiken
oder Katholiken
auch keine war.
Heute denke ich, dass jede Wirklichkeit subjektiv ist.
Menschen finden nur Orientierungen in „ihren“ ideologischen Wahrheiten,
mal in der Religion,
mal in den Menschenrechten,
mal im Geschäft,
mal in den Wissenschaften.
Ich musste als Kind lernen,
niemandem zu trauen.
Dabei suchte ich immer das Vertrauen.
Ich vertraue Menschen sehr schnell.
Ich habe es so gelernt,
weil ich niemandem trauen konnte,
zum Überleben aber vertrauen musste.
Schwankend zwischen
omnipotenter Sicherheit
und selbst unterdrückender Bedeutungslosigkeit
zwischen devoter Unterwerfung
und kreativster Auflehnung
zwischen Anerkennung
und Einsamkeit
Viele Jahre hat jede Ent-Täuschung
sehr wehgetan.
Ich lernte
– vor allem von dir –
mir selbst zu trauen.
Ich lernte nicht meinem Bild
von einem anderen zu trauen,
sondern nur dem Wie-sie-selbst-sind.
Ich weiß heute,
wie versaut,
verletzt,
traumatisiert ich
von der Wirklichkeitsverzerrung
der Opfer-Täter
der Hindenburg-, Nazi-, Kaiser- und Adenauerzeit
bin.
Ich liege
voller Angst
in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs
Ich durchfahre
die Weiten Russlands
ohne Hoffnung auf Leben
Ich singe
die Lieder der Freiheit
und der Lebensfreude
Ich weiß nun,
dass ich nicht Opfer noch Täter sein muss.
Ich bin beides
und keins zugleich,
aus meinen Vorfahren geboren
verantwortlich für ein eigenes Leben.
Mein Verhältnis zu Wirklichkeiten wird bleiben.
Mein Urvertrauen ist nicht geradeaus.
Es ist verwachsen, verdreht, verwendet
verwandt und doch noch heute wachsend.
Sonst hätte ich nicht gelebt.
Wo meine Gefühle gestört,
verstört und zerstört sind,
lernte und lerne ich sie wieder zu spüren.
Das geht über den Verstand.
Es geht über das Fühlen.
Ich lerne zu spüren was ich denke
Und zu denken was ich spüre.
Ich lernte mich zu trauen
Erst später mir zu trauen
Jetzt dir zu vertrauen