Walter Hövel
Schlagen in der Schule
Vergangenheit und Gegenwart
Gewalt als Mittel der Erziehung
erzeugt keinen Respekt, sondern Angst
Jesper Juul
Die Grundschule Harmonie machte 2009 ein Jahr lang mit allen Erwachsenen und Kindern das Projekt „100 Jahre Harmonie“. Der Ortsteil wurde 100 Jahre alt.
Unter anderem führte ich ein Gespräch mit einem bereits verstorbenen Mitbürger. Er hatte in der Nachkriegszeit die Schule in Harmonie besucht. Er schilderte einen Lehrer, der die Kinder raus schickte, um eine Weidenrute zu schneiden. Anschließend wurde das Kind von ihm damit geschlagen.
Der ortsansässige Pfarrer schilderte, dass im 19. Jahrhundert die preußische Besatzermacht einen Erlass herausgab, mit dem verboten wurde, dass Schülerinnen und Schüler sich zur körperlichen Züchtigung ausziehen mussten.
2008 kam eine Dame zu unserer Schule. Sie hielt ein großes Din-A-2-Buch in der Hand. „Das habe ich auf der Straße beim Sperrmüll gefunden“. Es war das „Prügelstrafenbuch“ der Volksschule Eitorf-Mühleip aus den 1960iger Jahren. Damals wurde akribisch bei jeder Schülerin und Schüler aufgeschrieben, wann, warum und mit wie viel Stockhieben sie geschlagen wurden. Wir fanden unter anderem die Stelle, die schilderte, dass der damals amtierende Bürgermeister, nach dem die Schule später benannt wurde, vier Schläge wegen „ungebührlichen Verhaltens“ erhielt. Wir kopierten das Buch und übergaben es in Anwesenheit der Presse dem örtlichen Heimatverein.
Im Gründungsjahr unserer Schule stand ein Ratsmitglied mit den Worten in der Tür: „Sie müssen manchmal einfach zuschlagen. Das erzieht besser als die heutige inkonsequente Erziehung.“ Weiter als bis zur Tür kam er nicht.
Noch 2009 waren Menschen in Eitorf, nach eigenen Aussagen „zu feige“ das Schlagen einer Lehrkraft zu melden. Bevorzugt wurden Herkömmlinge unterer Gesellschaftsschichten körperlich gemaßregelt.
In meiner eigenen Gymnasialzeit in der Kölner Südstadt wurden Schüler von 1959 bis 1968 von Lehrern regelmäßig ins Gesicht und den Körper geschlagen. Die meisten Lehrer waren der festen Überzeugung, dass Menschen so besser lernen. 1967 schlug ein Oberstufenschüler zurück. Der schlagende Lehrer wurde immerhin versetzt. Tausende von anderen Schläger-Lehrer wurden aber überall geschützt.
Ein Bekannter erzählte mir, dass er so noch in den 1970er Jahren an der Mosel das Schlagen zur Erziehung in der Schule am eigenen Körper erlebte.
Die türkischen Kinder erzählten in den 1980er Jahren, dass sie in der Schule die Hände ausstrecken mussten, damit der Lehrer auf die Handflächen schlagen konnte.
Seit Bestehen von staatlicher Schule (erste Formen im 16.Jahrhundert) und der Schulpflicht (gesetzlich erst seit 1919) war es bis in die 1970er Jahre so üblich, dass Kinder und Jugendliche in der Schule geschlagen wurden. Ehemalige Berufssoldaten, unverheiratete und residenzpflichtige Fräuleins, arbeitslose Akademiker und miserabel, meist kirchlich, ausgebildete Lehrkräfte wurden auf Kinder losgelassen.
„Christen“ beriefen sich auf viele Stellen aus dem Alten Testament, aber auch aus dem Neuen: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet. Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt? Würdet ihr nicht gezüchtigt, wie es doch bisher allen ergangen ist, dann wäret ihr nicht wirklich seine Kinder, ihr wäret nicht seine Söhne.“ (Hebr. 12,6 ff). Der nichtschlagende Pädagoge war die Ausnahme.
„In der Deutschen Demokratischen Republik wurde das Schlagen von Kindern in Schulen 1949 verboten, in der Bundesrepublik Deutschland 1973. Erst im Jahr 2000 wurde durch eine Gesetzesänderung das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft.“[1]
„In Bayern wurde das Verbot der körperlichen Züchtigung von Schülern durch Lehrkräfte erst am 1. Januar 1983 gesetzlich verankert. Dennoch entschied das Bayerische Oberste Landesgericht Anfang der 1980er Jahre in einem Fall zu Gunsten eines Pädagogen mit der Begründung: In Bayern ‚besteht ein gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht insoweit, als der Lehrer an Volksschulen die von ihm unterrichteten Knaben körperlich züchtigen darf‘.
Zu den verbreitetsten Körperstrafen gehörten Ohrfeigen, ‚Kopfnüsse‘ sowie die Tatzen (Schläge mit einem Lineal oder Rohrstock auf die Handflächen des Schülers). Körperstrafen auf das Gesäß, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Hauptrolle gespielt hatten, wurden in den Schulen im deutschen Sprachraum seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend reduziert.“[2]
Bei der Abschaffung des Schlagens in der Bildung wurde den Lehrkräften allerdings nicht gesagt, wie das Lernen und Lehren ohne Schlagen funktioniert. Die Lehrer*innen und Schulleitungen griffen zu erziehenden Ersatzformen.
Diese waren Nachsitzen, das Stehen neben der Bank, Einträge ins Klassenbuch oder der „Blaue Brief“. Immer noch findet man das Eckenstehen, zusätzliche Hausaufgaben, Verweise aus dem Klassenraum, Klassenschelte, Klassennotenspiegel, Abschreiben, Kopfnoten, also „Verhaltensnoten“ oder stupides Niederschreiben von Merksätzen (wie noch bei Harry Potter geschildert). Gang und gebe sind die Fehlerkorrektur von Klassenarbeiten in roter Tinte, das Gespräch mit Eltern als schulischer Verweis, Noten, Tests, Klassenarbeiten und Sitzenbleiben. Die Abschulung, das Schicken auf die Sonder- oder Förderschule und der Verweis von der Schule wurden weitere immer präsente Ersatzformen. Sie wurden und sind teilweise immer noch die Mittel schulischer Gewalt.
Wie viele Lehrer*innen missbrauchen ihre Stellung durch Drohungen, Lächerlichmachen, ständiges Korrigieren, Entlarven, zynisches Kommentieren, durch eine spürbare Haltung von oben nach unten.
Die „züchtigenden“ Ersatzformen von „Kopfnoten“, „das Nachsitzen“, ja sogar das „Sitzenbleiben“ werden heute in Frage gestellt. Vollkommen unberührt von jeder Abschaffung sind unter anderem das Testen, die Benotung, die Fehlerkorrektur von Klassenarbeiten, Hausaufgaben, die Abschulung oder der Verweis von der Schule. Die Note wurde das Hauptmittel der täglichen schulischen Gewaltausübung durch Erwachsene.
Es gibt auch andere Stimmen über “unsere“ Schulen. So sagen Angelika Bachmann und Patricia Wolf noch 2007 in ihrem Buch „Wenn Lehrer schlagen. Die verschwiegene Gewalt an unseren Schulen“: „Vor einem Vierteljahrhundert wurde in Deutschland die Prügelstrafe an Schulen verboten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Kopfnüsse und Ohrfeigen sind bis heute an der Tagesordnung, von Psycho-Terror und sexuellen Übergriffen ganz zu schweigen. Und das nicht nur in den höheren Klassen – auch immer mehr Grundschulkinder leiden unter der Gewalt von Lehrern“.[3]
Schule bleibt ein Terrain gesellschaftlicher Gewalt. Wo direkte oder strukturelle Gewalt gegen Menschen eingesetzt wird, entstehen andere Formen der Gewalt. Schüler*innen richteten immer die Gewalt gegen einander. Damals richtete sie sich gegen andere Religionszugehörigkeiten, die „Bekloppten“, die „Behinderten“, die „Dummen in der letzten Reihe“, „Bastarde“, gegen „Juden“, „Zigeuner“ und andere „Volksschädlinge“. Dann gegen Flüchtlinge, Unterschichtler, Ausländer, Andersgläubige und wieder Flüchtlinge. Untereinander gibt es seit der Entstehung von Schule die Einstellung zum Lächerlichmachen, das Ausschließen hin bis zum Mobbing. Verkürzte und anonymisierte Kommunikation durch elektronische Medien verschärft diese Zustände. Auch Lehrpersonen wurden nie ausgenommen, sogar tätlich angegriffen.
Die Zahl der psychischen Erkrankungen, Burnout (besser „überfordernde Depressionen“), Lern- und Verhaltensstörungen, Alkoholismus, Drogensucht oder soziale Reaktionen war bei allen Betroffenen auf allen Seiten immer groß.
„Ein geschlagenes Kind trägt die Spuren der Folter“, sagte Janusz Korczak. „Unsere“ Lehrer*innen, einschließlich meiner Person, wurden in der Mehrzahl in Familie, Schule, Heim oder „Freundes“kreis[4] geschlagen. Alle Lehrer*innen lernten ihre Arbeit dadurch, dass sie über zwei Jahrzehnte selber Schüler*innen waren, um dann – ohne Übergang – Lehrer*in zu werden.
Anbetracht der Tatsache, wie wenige Lehrer*innen über die von ihnen in Schule erlebte Gewalt reden wollen oder können, sollte das System unserer unreflektierten Bildung aufschrecken lassen.
Wenn wir zunehmend junge Lehrkräfte finden, die zum Glück niemals geschlagen wurden, wird die Aufgabe im Kontext des Schulalltags und in ihrer Ausbildung, die „im System steckende und von ihr produzierte Gewalt“ offenzulegen, um eine enttraumatisierte bessere Zukunft des Lernens schaffen zu können.
Biographische, geschichtlich-soziale, psychologische und pädagogische Forschung wären Mittel dieser Arbeit. Was in der jetzigen Ausbildung und in schulinternen Konferenzen geschieht reicht bei weitem nicht. Die Forschungen der neuronalen Wissenschaften, der Traumatherapie, der Kindheit, der Systemik, der Inklusion und der Demokratie sind um einiges weiter.
Unsere Gesellschaft hat noch einen sehr langen Weg der Abschaffung von Krieg, Gewalt und Entwürdigung zu gehen. Dieser geht nur, wenn auch mühsam und nicht gradlinig, über die eigene Bildung und Erziehung.
In vielen Ländern der Welt wird immer noch in der Schule geprügelt. So berichtete der Spiegel 2008 über die USA: „Prügelstrafe - 200.000 US-Schüler werden geschlagen - In fast der Hälfte der US-Staaten dürfen Lehrer ihre Schüler schlagen. Und sie tun es auch, am liebsten mit Holzpaddeln aufs Gesäß. Eine neue Studie verzeichnet 200.000 Fälle jährlich, meist in den Südstaaten. Verdroschen werden vor allem schwarze Kinder.“[5]
President Trump kündigte 2017 an: „Ich werde waffenfreie Zonen an Schulen abschaffen“ und seine Schulministerin sagt laut, dass „sie staatliche Schulen verachtet und private bevorzugt“.
Die oben genannten Inhalte und Formen der schulischen Praxis, und einige andere mehr[6], wurden aus dem Lernalltag der Grundschule Harmonie verbannt. Hierbei konnte man sich ausnahmslos auf bestehende Lehrpläne und Richtlinien berufen! Eine andere Haltung und Praxis sind nicht nur möglich, sondern gewünscht!
Es gibt immer wieder Lehrer*innen und ganze Schulen, die ihr pädagogischen Repertoire erweitern und die Entwertungen und Entwürdigungen der Freiheit der Menschen weglassen. Leider verstehen Schulverwaltungen nicht, diese Beispiele zur Regel im Schuldienst zu machen.
Die generelle Tabuisierung des Schlagens in der Schule durch Lehrer ist allerdings eine wirkliche Verbesserung im Schulwesen. Sie zeugt davon, dass es trotz des Schneckentempos der Entwicklung von und in der Bildung Fortschritte gibt. Es lohnt sich unermüdlich das zu tun, was das Lernen fördert und die Entwürdigung und Unbildung des Menschen verbietet. Das gilt für alle Bereiche der Gesellschaft.
„Gleichwohl“, so Professor Butterwegge von der Uni Köln, „stößt die öffentliche Reformdebatte selten bis zum eigentlichen Problem, der hierarchischen Gliederung des Schulwesens in Deutschland, vor“.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarze_P%C3%A4dagogik
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6rperstrafe
[3] https://www.amazon.de/Lehrer-schlagen-verschwiegene-unseren-Schulen/dp/3426274256
[4] In der Familie wurde ich nie geschlagen
[5] http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/pruegelstrafe-200-000-us-schueler-werden-geschlagen-a-573301.html
[6] Siehe www.walter-hoevel.de