Walter Hövel

Rezept Q

Célestin Freinet sprach 1923 von „Praktiker(n), die gleich den Handwerkern an ihrer Werkbank mit manchmal beschränkten theoretischen Kenntnissen ihre Werkzeuge erfinden oder vervollkommnen, Handbewegungen ausdenken, Verfahrensweisen ausprobieren, die sie später systematisieren und ordnen, um sie ihren weniger erfindungsreichen oder begünstigten Kollegen mitzuteilen.“1
An anderer Stelle stellte er fest: „
Die Freinet-Pädagogik ist keine Pädagogik der Worte, sondern sie basiert auf Werkzeugen und Techniken2
Heute ist seine Sprache oft veraltet und langweilig. Das ist aber kein Grund sie bei der ständigen Anpassung an die Zukunft und Modernisierung zu verfälschen. Freinetlehrer*innen sind keine Handwerker, keine Rezepteanwender. Sie warten nur nicht bis etwas erfunden oder benannt ist. Das andere Mal lobt er für mich, Werkzeuge und Techniken, die das Lernen der Schule verändern.

Rezept Z

Setzte Freinet Techniken und Werkzeuge mit Rezepten gleich

Für Freinetleute können heute vieles Techniken und Werkzeuge sein. Das sind der Freie Ausdruck, das Freie Schreiben, das Wort geben, die Wahl eigener Themen, die Wahl erwachsener und kindlicher Lehrer*innen, das selbstbestimmte Lernen, das tastende Versuchen, der Klassenrat, die Demokratie in der Klasse, die kritische eigene Auseinandersetzen mit der Welt, die Fragen zur Welt, Präsentation und Dokumentation oder die Beherrschung der eigenen Sprache und Sprachen. Er sind vor allem die Natürliche Methode, die Kooperation über die Schule hinaus, die demokratische Kommunikation und Korrespondenz, das demokratische menschenrechtlich bestimmte Zusammenleben oder kinderschützende Beziehungen. Es sind das Lernen ohne Fächer, Alters übergreifendes zusammenleben, Leben und Lernen in der Natur, Draußen sein, Rollenspiel, Imagination und Ästhetik oder ökologisches und gesundes Leben. Es ist das Recht Fehler zu machen, die Freiheit der Partnersuche, die Selbstverständlichkeit der Inklusion oder das mit Freunden lernen. Es ist das Streben nach einer freien Welt ohne Armut in Frieden und keine Macht von Mehrheiten, eine selbstbestimmte Welt ohne Ausbeutung der Menschen und der Welt selbst und sehr vieles mehr. Freinetpädagogik umfasst heute wie gestern die gesamte Pädagogik.

Zu all diesem selbst bestimmteren Lernen gibt es Techniken, die in sich demokratisch sind, für und von Kindern gemacht. Sie funktionieren auch ohne Erwachsene. Sehr viele von ihnen kommen aus der Vergangenheit der Freinetpädagogik. Ihre Anwender*innen wissen dies oft nicht (mehr). Es ist allerdings von Vorteil, wenn du demokratische Techniken und Werkzeuge vorher an dir selbst erprobst und kennst. Das machen und machten Treffen, Weiterbildungen und eigene Ausbildungen der Freinetleute. Sie vermitteln Techniken und Werkzeuge.

Rezept Y

Setzen nicht Rezepte auf eine umgekehrte Reihenfolge als Techniken?

Durch Rezepte weißt du vorher, was du tun musst. Techniken und Werkzeuge hingegen setzt du ein und du weißt erst im Nachherein, was geschah. Freinetpädagogik fordert dich zur Anerkennung von Veränderbarkeit von Umwelt und Anerkennung der Individualität jedes Lerners auf. Veränderung,Lernen kannst du bei anderen nicht durch den Einsatz von Techniken erzwingen. Demokratische Techniken und Werkzeuge können nur helfen die eigene Veränderung zu finden.

Rezept W

Ich kann z.B. einem Gérald Schlemminger, und anderen „Wissenschaftler*innen“ und ihren Definitionen3 nicht folgen. Ich verstehe sie einfach nicht, weil ich sie als „gewöhnliche theoretische Pädagogik“ nicht in den Kindern und ihren Bedürfnissen basiert wiederfinden konnte und kann.

 

Paul le Bohec sagte4 über sich und sein Weglassen von Freinet:, „Freinet hat dazu gesagt: 'Ich versteh ja, dass du das tun kannst, aber du bist ein außergewöhnlicher Lehrer, und als Beispiel für andere ist das gefährlich. Andere können es nicht so machen, wie du das machst. Andere brauchen die Techniken'.“

 

Ich brauchte gerade Paul le Bohec und viele andere ungewöhnliche Beispiele vieler pädagogischer und anderer Künstler*innen, um zu verstehen, was ich tat, was ich tun konnte und was ich nie ohne sie lernte. Ohne deren Vor-Arbeit hätte ich nicht begriffen, was geht.

 

Es waren manche Techniken und Werkzeuge, die ich im In- und Ausland fand. Sehr viele fand ich auf den typischen Freinetfortbildungen und deren anderer, in Seminaren an Hochschulen oder bei Hospitationen. Viele musste ich selber herausfinden und entdecken. Aber die meisten Techniken und meine handelnde Haltung lernte ich von Kindern, Jugendlichen und Studies.

 

Nichts desto trotz erschien und erscheint mir ein Paul le Bohec politischer, aber in Fragen der Pädagogik oft auch altmodisch. Ihm war es noch wichtig zu lehren, ihm war es wichtig, „Richtiges“ heraus zu finden. Heute komme ich mir selbst angesichts der „Friday for Future-Bewegung“ oder der Kinder vor allem in Kitas und vieler Studies veraltet vor.

Rezept J

In seinem bei ihm Zuhause gemachten Interview, sagte Paul le Bohec zu Jochen Hering und mir5 - zu unserer Überraschung - er hätte in seiner Klasse einmal Freinettechniken wieder abgeschafft“. Er nannte explizit „eine Schülerzeitschrift, das Drucken, die Korrespondenz und eine kooperative Organisation der Klassenlebens“ Uns verschlug es fast die Sprache.

 

Er sagte, dass er damals wissen wollte, ob er dann immer noch Freinetpädagogik mache. Und so fand er heraus, dass diese Pädagogik, seiner Freinetart zu lernen zuerst eine Einstellung ist, die zur Tat werde. Später erklärte le Bohec, dass er die individuellen Freiheitsrechte und die Kraft der Gruppe als entscheidende Grundlagen des Lernens sehe. Zum Beispiel hatte er in Fragen der Natürlichen Methode der Mathematik Célestin Freinet gegen sich, nicht aber Elise Freinet6.

 

Seitdem weiß ich, das demokratische Techniken des Lernens zweifelsfrei wichtig sind. Aber ich lernte, dass meine rigorose Haltung für die Rechte und die Umsetzung der Menschenrechte jedes Kindes, jedes lernenden Menschens, das Entscheidende sind. Er wollte etwas wissen. Er machte nicht zwei Schritte zurück, um einen nach Vorne zu gehen. Er erprobte alles was zur Vorwärtsentwicklung möglich war weiter! Das - und einiges mehr - prägte mich.

Rezept P

Gute Lehrerinnen sind psychisch gesund., sind glaubwürdige und demokratische Persönlichkeiten. Sie können auf die Kooperationsangebote von Kindern und Jugendlichen adäquat eingehen. Sie werden nicht übergriffig. Sie wollen keine Macht über Menschen. Sie lassen anderen die Verantwortung für das eigene Lernen. Sie beantworten nicht alle Fragen, sondern hören die Fragen und Antworten der Kinder. Sie sind verantwortlich für die eigene Haltung, Handlung und das eigene Verändern. Sie wissen noch um die eigene Kindheit. Sie können lernen lassen und Lernland-schaften anbieten. Kinder brauchen Lehrer*innen aus Unterschichten, die ihr eigenes Aufwachsen begriffen und verarbeiteten, die nicht 'unterrichten' und selber intelligent sind.“7

 

Und dann las ich, abgesehen von der unreflektierten, immer wieder gepflegten Setzung von „Unterricht“ oder gar „Fachunterricht“, in der FuV 169 das Vorwort der Redaktion. Vieles war für mich erfreulich. Aber hier wurde die Wiedereinführung der „Rezepte“ begründet. Es ging nicht um die Berechtigung von Back-, Koch-oder medizinische Rezepturen. Es ging um pädagogische Rezepte, auf die sich gerne auf die Theorie der Wissenschaften und vor allem auf eine Pädagogik des Alltags in Kitas, Schulen und Hochschulen beruft. Manche Reformpädagog*innen vermitteln in ihren „Aus“bildungen Rezepte, andere Techniken.

 

Einige konnte ich sofort übernehmen andere musste ich nur in mein Konzept abwandeln. Aber die meisten Methoden dienen der Aufrechterhaltung einer Pädagogik, also der Macht „in Psychologie und Politik“ (auch das ist die Pädagogikdefinition von Paul le Bohec). Erst allmählich begriff ich, dass Freinettechniken solche sind, die in sich demokratisch sind.

 

Ich lernte Positionen, die nicht mehr brauchbar, überholt oder nicht mehr up-to-date sind aufzugeben. Aber da werden Grundpostionen missverstanden und daraus „neue“ Schlüsse gezogen.

Ich hätte nicht diesen Artikel geschrieben, wenn da nicht auch noch die Umkehrung des Boheczitats gestanden hätte: „Es gibt Grundrezepte, wie z.B. das freie Schreiben, die Druckerei, den Klassenrat, die einfach wichtig und unumstößlich sind...“

 

Und da irren die Schreiberinnen. Techniken sind nicht „umstößlich“, sie sind abschaffbar. Und genau da ist der Irrtum mit den Rezepten. Sie sind keine!

Rezept S

Vor fast 40 Jahren, noch ein junger Lehrer, war für mich ein Grund für die Freinetpädagogik der, dass es eine Pädagogik ohne Rezepte war.

 

Ich war froh eine Pädagogik gefunden zu haben, die mich nicht mehr einschwor auf Gurus und eine Herrschaftsform, auf Führer*innen oder Vorsitzende, die wussten wie es geht. Ich musste nicht, wie bei der Einführung des Rechtsverkehrs nur die Straßenseiten und Fahrerplatz wechseln.

 

Ich durfte selber denken und fühlen, Fehler machen, Neues erproben und mitten ins Alte setzen, wieder verwerfen, Gutes zurückholen,und keiner Autorität mehr folgen. Ich durfte für mich selbst verantwortlich sein und mich selbst, vor allem als Lehrperson in Frage stellen.

 

Ich musste nicht Mitglied in einem Verein werden, der schon wusste wie es geht. Ich musste nicht nach Rezepten backen, sondern durfte alle anderen und mich selbst als Mensch sehen, die sich entwickelten.

 

Ich musste nicht mehr wissen wie Bildung, Schule, Unterricht und Lernen gehen, um ein „guter Lehrer“ zu sein. Ich lernte zu kooperieren, zu würdigen, ernst zu nehmen,. Ich lernte zu lernen, zu fragen, selber zu fragen, in Frage zu stellen, auch mich selbst, meine Haltung und Handlung.

 

Ich lernte zu schreiben, wobei Mann (, damals gab er keine Lehrerinnen bei uns,) mir schon in der Schule sagte, dass ich dazu zu dumm war. Ich lernte das Malen, das Schauspielen, das Singen, Naturwissenschaften als meine Fragen zu sehen und sogar die Mathematik wurde wieder ein bisschen spannend.

 

Ich war froh und stolz eine Pädagogik gefunden zu haben, die ich für mich immer wieder neu erfinden musste und nicht einfach in Lehrgängen und Büchern ablernte.

 

Ich wollte diese Pädagogik, die die Benachteiligungen der Armen, denen von unten oder aus anderen Ländern abschaffen will.

 

Ich durfte junge Menschen, Kinder und ihre Rechte, Wünsche und Träume, mich selbst verstehen. Unterdrückte, Unterschichtler, Frauen, Schwule und Lesben, Ungebildete, Ausländer, Flüchtlinge, Ausgesonderte, Ausselektierte, Rentner*innen, alle wurden zu Menschen, die alle die gleichen Menschenrechte haben.

 

Ich wurde mehr und mehr ein Menschenrechtler. Demokratisch sein heißt für mich unaufhörlich dem Abdriften in Unmenschlichkeiten entgegenzutreten.

 

Rezept F

Unter Freiheit verstand und verstehe ich nicht die Freiheit des Geldes, unter Sicherheit nicht den Schutz der klügeren Rechthabenden und mächtigeren Gebildeten, unter Frieden nicht die Abwesenheit von Krieg, unter Klima nicht den Sonnenschein im Urlaub und unter Gesundheit nicht die Überwindung von Krankheiten.

 

Ich lernte und lerne nicht mehr in „Gute und Böse“ aufzuteilen, in Europäer und Asiaten, in „Dumme und Schlaue“, in „Behinderte und Normale“, in „Fleißige und Faule“.

 

Ich wollte und will eine Pädagogik ohne Rezepte, die Geschichte, Gesellschaft, unsere Psyche versteht und für eine andere, gerechtere Menschheit eintritt.

 

Ich wollte und will nicht die gleichen angepassten Ergebnisse der Rezepturen, sondern Neues, Glück, Leben, lernende Menschen.

 

Ich will, wohl wissend, dass andere Angst genau davor haben, oder mit dem was sie haben, zufrieden sind, anders denken und fühlen, aggressiv oder anpasslerisch sind, eben verschieden sind.

 

Das Schlimme ist nicht, dass die Freinetpädagogik mit ihren älter werdenden Protagonisten aus er Zeit verschwindet, schlimmer ist, wenn sie dabei zu einer Rezeptur verwässert.

 

Zum Glück gibt es eine immer größer werdende Zahl junger Erzieher*innen, Lehrer*innen, Student*innen und Kinder(!), die sich immer mehr für das selbstbestimmte Lernen der Menschen und unsere Welt einsetzten. Freinet kennen sie dabei oft nur noch als historische Größe.

 

Ab und an werde ich auch sentimental und wünsche mir noch immer in einer Kooperative und nicht „Freinetpädagoge“ oder Mitglied einer „Bewegung der Modernen Schule“ zu sein. Doch ich verstehe mich eh als Künstler.

Rezept L

Ich muss immer an eine sehr engagierte Frau in der deutschen Freinetbewegung denken. Sie erzählte mir mal, dass sie die Freien Texte in Deutsch und Englisch toll fand, die Kinder und Studies bei mir schrieben. Aber ihre Studies und Schüler*innen hätten das nie gekonnt, obwohl sie es so anbot, wie ich es beschrieb. Das frustrierte sie ziemlich.

 

Nun schätze ich sie sehr. Sie versuchte immer die politische Diskussion voranzutreiben, die Rechte der Kinder, die Demokratie und das freinetische Lernen. Sie machte für mich eine gute Arbeit im Bereich der Weiterbildung und eine miserable Arbeit in den internationalen Organisationen der Freinis. Sie ist für mich das wandelnde Beispiel dafür, dass Freinetpädagogik und Demokratie nicht einfach die Übernahme von Rezepten als Techniken und Werkzeugen ist. Es reicht nicht einfach eine Natürliche Methode, den Freien Ausdruck, das Abhalten von Klassenräten in vollendeter Kooperation, oder das „Dorf“ als kindgemäße Lerngemeinschaft zu verstehen. Es ist eine Ästhetik und Kunst der menschlichen Gemeinschaft, die weiß, warum jemand was macht.

 

Mir wird immer klarer, nicht das beste ökologischste Waschmaschinenmodell kaufen zu müssen, sondern dass wir saubere Wäsche brauchen.

 

Mensch muss selbst sein8, mit allen zusammenarbeiten, gerade für arme und diskriminierte Menschen eintreten und - vielleicht dabei auch „imponieren“.

 

1www.walter-hoevel.de, unter Vorschläge, da

3izB. „Glossar zur Freinet-Pädagogik.“ In: Matthias Riemer (Hrsg.) (2005): Praxishilfen Freinetpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 233 ff.

4Hering/Hövel; Immer noch der Zeit voraus, S.232

5 Ebenda S.232

6 Ebenda, S.233

7www.walter-hoevel.de, unter „Vorschläge“, da „Lehrer*innen,gute“

8 Das ist übrigens „Gestaltpädagogik“