Walter Hövel

Wenn Kinder selber lernen

 

Wenn du eine offene, demokratische, inklusive und lernerwärtige Lernumgebung willst, kannst du als Lehrerin oder Lehrer das Gefühl bekommen „auf einer Welle des eigenen Unvermögens zu surfen“. Du lernst „auch bei Gegenwind weiter in die richtige Richtung zu segeln“.

 

Um dich herum siehst du Kinder, die arbeiten. Einige nicht so wie du dir das vorstellst. Wieder andere gar nicht.

 

Eingreifen? Zur Arbeit auffordern? „Vergeudete Lernzeit“ verhindern?

 

Meist ist es eh richtig sie zu lassen. Sie finden ihre eigenen Lernrhythmen, alleine, oder mit ihren Freundes- und Kooperationsgruppen.

 

Lassen heißt nicht, die Kinder allein zu lassen. Es ist nicht Roger Waters „Leave the kids alone“. Eher ist es, wie Jürgen Reichen immer wieder sagte, „das qualifizierte Nichtstun des Lehrers“. Du musst da sein, ohne dich aufzudrängen, ohne eh alles besser wissen zu wollen. Aber auch ohne die letzte Instanz der Lösung oder der Hilfe oder die oberste Kontrollinstanz sein zu wollen.

 

Du bist vielmehr ein Lernender von vielen. Dabei darfst du Erfahrung, Kompetenz, Wissen und menschliche Qualitäten haben. Du darfst sogar Überblick, Ideen, einen Blick für Entwicklungen und pädagogische Qualitäten haben. Aber nicht die Macht über die Kinder. Du hast nicht zuerst das Vertrauen der Kinder, sondern du vertraust ihnen!

 

Du tust also alles, damit die Kinder lernen ihre eigenen Lernstrategien, ihr eigenes Lernbewusstsein durch eigene Erfahrung aufzubauen.

 

Aber da siehst du einen oder eine, die nichts tut.

 

Du weißt, dass Kinder, wenn sie nicht arbeiten, immer einen (vernünftigen) Grund dafür haben. Am Häufigsten haben ihre Eltern Streit. Andere Kinder haben gemerkt, dass sie etwas nicht können. Sie entwickeln Vermeidungsstrategien. Andere probieren aus, wie viel Macht sie haben. Andere haben bereits so schlechte Erfahrungen gemacht, dass sie Erwachsenen und der Institution Schule nicht trauen. Andere machen eine Pause, träumen, grübeln oder denken nach. Es gibt so viele Gründe, wie es Menschen gibt.

 

Es dauert, bis du den Grund findest. Es dauert, bis das Kind über sein scheinbares „Nichts-Tun-Wollen“ redet. Irgendwann gelingt es, vielleicht im Kreis des Klassenrates, mit dem Kind allein, im Sorgenkreis mit Freunden, im Gespräch mit Eltern, im Gespräch mit einem anderen Kind oder

 

Erwachsenen, mit oder ohne dich. Vielleicht weiß das Kind selbst nicht, warum es sich am Arbeiten hindert. Es dauert, bis es den Grund findet.

 

Vielleicht findet es keine Lösung für sein eigenes von ihm selbst nicht gewolltes Verhalten. Vielleicht will es sich so verhalten, vielleicht ist es seine „Lösung“. Es braucht eine Alternative im Verhalten seiner Umgebung oder im eigenen Verhalten.

 

Um zu begreifen was passiert, berätst du dich möglicherweise mit den Kolleginnen in der Kinderkonferenz1. Ziel ist nicht eine psychologische Bearbeitung oder eine Sozialarbeiterlösung durch die Lehrkräfte, damit dem Kind nun die richtige Therapie verschrieben wird um wieder „zur Mitarbeit“ zu finden. Vielmehr geht es immer darum den Zugang zum eigenen Handeln und Lernen vom Kind selbst (!) finden zu lassen. Wir können nur beraten, begleiten und den Kindern das eigene Gehen auf eigenen Lernwegen in eigenen Zeit-Räumen zu lassen.

 

Sie finden ihre Wege! Da macht eine einen „Freundes-Stundenplan“, wo sie festlegt, wann sie mit wem zusammenarbeitet. Die nächste malt und malt, der nächste liest und liest, die dritte geht in die Küche helfen, um dort mit den Köchinnen zusammen sein zu können. Die nächsten gehen in unseren Waldraum, bekommen für einige Zeit das geheime Zimmer auf dem Dachboden oder eine Begleitung durch ein Kind. Jemand anderes braucht eine Integrationshilfe oder eine andere Klasse oder eine andere Lehrerin. Und wieder jemand anderes macht seine Dinge einfach anders ohne je zu verraten wie. Es gibt so viele Lösungen wie es Menschen gibt.

 

Oft glaubst du die Situation des Kindes zu verstehen, glaubst zu wissen, was du tun könntest, um ihm zu helfen, indem Wege abgekürzt werden, Entwicklungen zu beschleunigen wären.

 

Aber du hast zu wenig Zeit gerade für den Menschen, der immer noch keinen Weg für sich findet. Du schaffst es gerade mal an einem Morgen mit zwei, maximal drei Gruppen oder einzelnen Kindern zu arbeiten. Aber genau das eine Kind arbeitet weiterhin nicht.

 

Es ist hier anders als im gleichschrittigen Unterricht. Bei uns fällt alles auf, die Probleme werden viel eher sichtbar. Wenn Kinder selber lernen, lernst du als Lehrerin oder Lehrer viel mehr zu sehen, auch was dir nicht gefällt.

 

Der Alltag des offenen Lernens zwingt dich oft nicht helfen zu können. Peter Petersen sagte einmal in den 1920iger Jahren, dass erst Klassen über 40 Kinder wirklich selbstständiges Arbeiten zulassen, weil dann der Lehrer keinen Überblick mehr hätte. Heute kannst du als Mutter oder Vater schon bei einem Kind den Überblick verlieren und „allein-erziehende“ Lehrerinnen und Lehrer sehr sicher bei ganzen „Klassen“.

 

Und beim Offenen Lernen willst du eben nicht der Lehrer sein, der das Lernen der Kinder steuert! Die Kinder sind und werden verantwortlich für das eigene Lernen. Zu viele Erwachsene und zu viele Erwachseneneingriffe be- und verhindern in der Regel eigenständige Entwicklung.

 

Beim offenen Lernen wirst du als Lehrerin oder Lehrer nicht lehren, damit die Kinder lernen, sondern selber lernen, was die Kinder dich lehren.

 

Und du lernst jeden Tag bis zu deinem letzten Arbeitstag. Du lernst den Kindern und ihrer eigenen Lernkraft zu trauen.

 

Du musst sie lassen können, lernen lassen können. Nicht eingreifen, kanalisieren oder „wie Rosen beschneiden“, nicht noch fairer und transparenter bewerten oder besser testen. Nicht vorgeben, abgeben lassen und Noten verteilen.

 

Du musst nicht alle Probleme lösen. Du musst nicht immer funktionieren. Du musst nicht für jedes Kind das optimale Lernprogramm finden.

 

Das tun sie selbst. Und du kannst dabei helfen. Du musst aber selbst auf das Beste gebildet sein, um die Eigenbildung der Menschen zu fördern und fordern. Du musst auf möglichst hohen Lernwellen surfen, mit deinem Unvermögen des Eingreifens.

 

Und wehe, du surfst nicht! Du fängst an das Salzwasser zu saufen, den Boden unter den Füßen zu verlieren, du gehst unter.

 

Eine Kollegin meinte, dass sie das kenne, ihre Freundin und sie sagten immer „Wir schwimmen“.

 

Aber so ist es, wenn an, mit und im echten Wasser gelernt wird. So ist es mit Kindern und ihrem Lernen zu leben, du lebst, wie Antoine de Saint-Exupery sagte, „die Sehnsucht nach dem großen weiten Meer“.

 

Ich kenne auch Leute, die versuchen sich ständig ans Land zu retten. Wieder andere legen sich auf eine Luftmatratze und lassen sich treiben.

 

Auch bieten viele Schulen kein „ Wasser des Lernens“ an. Hier gibt es Schulwasser zu trinken. Schulen werden gerne als Freibad, Hallenbad oder Pool gedacht. Einige bieten sogar nur Trockenkurse an, mit Computer animierten Wasserfällen, Arbeitsblättern ohne Wasserzeichen oder Lernbibeln mit ein paar Tropfen Weihwasser.

 

Wenn du willst, dass die Menschen ihr eigenes Leben leben und ihr eigenes Lernen lernen, lerne das pädagogische Surfen als hohe Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern.