Walter Hövel
Ästhetik
Die Ästhetik scheint älter, archaischer, aber weniger bekannt und demokratisiert.
Wir sollten sehr vorsichtig mit ihr umgehen, aber öfter!
Unter Ästhetik verstehen Dozent*innen oft die Formen der Darbietung. Lernende sollen anders sein. Nicht zu trocken, nicht so theoretisch, reichhaltiger, bunter sollen Schüler*innen und Student*innen das Studium und das Lernen machen.
Oft sind Ästhetik studentische Präsentationen mit Theaterspiel, Filmen, Fotos, Musik, Kunst, PPPs, Freien Texten, Computerpräsentationen, Gruppenvorträgen, Spiel, Comics, Text- und Bilderbüchern, animierte Mitmach-zenarien, Schattenspiel, Tanz, Bewegung, Experimenten und vieles andere mehr. Seit den 1970er Jahren halten diese Darstellungsformen Einzug in Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Und in der Tat beleben und bereichern sie Seminare, manches mal schriftliche Arbeiten.
Coronazeiten verbieten aber reale Zusammenkünfte Lernender und Lehrender, Seminare, ja das Studium und die Kreativität. Das Vorwärts zu elektronischen Maßnahmen ist in der Regel das Zurück zum herkömmlichen, autoritären Studium. Das fordern die Vertrtreiber von Computern und anderen elektronischen Techniken regelrecht.
Dass „ihre“ Schüler*innen ihren eigenen Kopf zum Denken haben, ihre eigenen Wichtigkeiten kennen und benutzen, sollen sie aber für viele Professor*innen, Erzieher*innen und Lehrer*innen nur in der Adoption und Verarbeitung der Wissenschaften, der bekannten Ideologien zeigen. Sie sollen in unserer Welt der Arbeitfunktionieren.
Lehrer*innen und Dozent*innen sind keine Wissens-Schaffer, sondern Macht-Schaftler. Sie fordern von Ihren Schüler*innen das „richtige“ Denken und Handeln, nur wenige Schüler*innen werden von ihnen gefördert. Sie fordern Leistung, anstatt das Leisten jedes Menschen zu fördern. Sie fordern von Menschen ein Eingepasstsein in vorhandene Systeme. Sie wollen, dass sie wie sie werden. Das tun sie mit ihren Mitteln. Oft sind es Formen, viel öfter Inhalte ihrer Ästhetik. Sie unterscheiden nicht Formen und Inhalte ihrer „Wissenschaften“. Sie sind „Belehrer“, sie lernen selbst zu wenig.
Ästhetik ist selten das Mittel den Dingen andere Inhalte zu geben, veränderte oder zu verändernde Inhalte zu zeigen oder sie nur anzudeuten. Ästhetik aber will eine andere Wahrnehmung, eine neue Empfindung. Sie sucht überall alte, bekannte Gesetzmäßigkeiten und Harmonien. Ästhetik ist näher am einzelnen Menschen als Schule, Studium oder Wissenschaft.
Die Tatsache, dass ein und die selbe Arbeit, egal in welchem Fach, wissenschaftlich nachgewiesen mit allen Zensuren von sehr gut bis ungenügend benotet und selbst unterschiedlich bei gleichen Lehrern beurteilt wird, wird einfach ignoriert. Lehrer*innen glauben, das individuell besser zu können. Und das müssen sie, weil sie das vorhandene, abgesicherte und bekannte System als gute Lehrer*innen auszugleichen versuchen.
Eine Fremdbeurteilung geht immer von der festgelegten Ästhetik des Prüfenden aus. Dabei geht es um eine befreite Ästhetik der Menschen, die die eigene Leistung erproben. Die Kinder, die Schüler*innen, um die es eigentlich geht, geben keine Note. (Oder wollen sie gar nicht?). Es prüft das alte, das „wissenschaftlich“ Erwiesene, das Bewährte.
„Die Schule ist für die SchülerInnen da, und nicht andersherum.
Deshalb sollten SchülerInnen die GestalterInnen ihrer Schule sein,die heute nicht nur Lehrraum, sondern auch Lebensraum ist.“
Michel Dornbusch, Berater im Bildungswerk für Schülervertretung und Schülerbeteiligung e.V.
Dabei geht es um die Ästhetik der Lehrenden. Wie gehen sie mit den Kindern um? Wie sehen sie Kinder und Jugendliche? Wie gehen sie mit der Welt um? Schon ein Comenius forderte vor 500 Jahren die Entfaltung der Sinne. Er oder sie sieht die gesamte Palette der von den Menschen wahrgenommenen Gegenstände. Lernen ist für ihn mehr als das angesammelte Wissen für Eliten. Er will eine Bildung für alle.
Er sieht Zweifel und Zuversichten, Ängste und Vertrauen der Lernenden. Er nimmt den Menschen in seiner Ganzheit wissenschaftlich, also umfassend wahr.
Sie oder er sieht das Design, die Gestaltung, die Theorien der Kinder, der Menschen. Sie oder er sieht, hört, fühlt, riecht oder schmeckt die Art und Weise der Sinnlichkeit, der Sinnhaftigkeit jedes einzelnen Menschen, nicht die seine zu erst. Sie oder er sucht Kriterien, und gerade die neuen, die ungewöhnlichen, die die Kinder bilden. Er sucht ihre Bildung.
Wenn im Volk die Klage aufkommt, dass die aktuell Herrschenden nicht mehr in der Lage sind, die neueste Gesellschaft komplex zu organisieren, greifen viele auf alte, bekannte Lösungen zurück. Aber etwas Neues wird kommen. Neues wird gebraucht! In der „Schule“ kommt erst an, was in der Gesellschaft angekommen ist. Schulen und Hochschulen sind und bleiben Lehrräume der vorhandenen Lehrer*innen, Lehrpläne und Prüfungsordnungen.. Wenn Schule Lebensraum wird, dann als Lehrraum. Dieser Lehrraum ist mittelschichtig und mitteleuropäisch. Er ist mittelmäßig. Auch im Sinne der Mittel, die für seine „Wissenschaftlichkeit“ eingesetzt werden.
Ein Weg der Veränderung ist der Weg weg von Religion, weg von Wissenschaften wie Religionen. Wie eh und je werden Wissenschaften gekauft und als „richtig“ bewertet. Sie geben vor eine individuelle, menschenrechtliche, auf Kinder orientierte Wissenschaft der Ästhetik sein zu wollen. Sie sagen sie wollen Imagination, Phantasie, eine Wirklichkeiten für alle.
Aber gleichzeitig wollen sie zwei Herren dienen. Das ist einerseits die Tradition der Macht, der Herrschaft der einen über die anderen, anderseits die der Freiheit und Menschlichkeit der bürgerlichen Ideologie. Frei sind noch einige Kinderjahre, bedingt das Alter, zu oft verdingt Künstler und die, die es sich leisten können oder wollen. Wir brauchen aber mehr Menschen, die frei denken können. Unser Ziel sind alle.
„Dies beinhaltet die Abführung von Überschüssen..., die dann an andere Mitglieder mit entsprechendem Defizit umverteilt ...ihnen medizinische Betreuung
und Schulunterricht angedeihen lassen und sie ... unter Kontrolle bekommen lassen.“
Jared
Diamonds
Wer schafft Kontrolle? Wir nicht über andere, sondern wir über unser menschliches Handeln.
„ – Erfahrung von Kausalität – Selbstwirksamkeit – Aufmerksamkeit – enge und fehlende Rückzugsmöglichkeiten – Bedrängung – zu viele Spielsachen – zu viele Eindrücke – zu stressiger Tagesablauf – zu langes Warten – Müdigkeit – Hunger – Langeweile – fehlende Sprache
– Emotionen, Frust, Ärger – hohe Anspannung – Angst, ...“
D. Gutknecht 2014
Nicht Ängste sollen über uns herrschen. Wir können können, Fangen wir in Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Beruf an.
Wir experimentieren mit uns selbst, unseren Bedingungen, unserer Zukunft, unserer Ernährung, unserem Weiterleben. Aber wir versuchen Erreichtes zu erhalten anstatt Neues, Notwendiges zu schaffen. Wir verhindern das Erproben von Neuem.
In den letzten 25 Jahren hat sich die Zahl der privaten Schulen gegen den Widerstand der Schulaufsicht und des Grundgesetzes in Deutschland um fast 100% gesteigert.
Ästhetik aber kennt Unzulängliches. Da ist Raum für Überraschungen, Neues und Altes, Noch zu Tuendes, Handlungen, Über- und Vordenken, Erkenntnis, Erfindung. Kreativität, Unwichtiges, Privates, Fragen, Versuche, Unbekanntes, Unerreichtes, Magisches, eigenen Ausdruck, Leben, ...
Sie führt wieder dazu, dass jede wissenschaftliche oder gesellschaftliche Erkenntnis auf individuelle Empfindung oder Wahrnehmung zurückgeführt werden kann.
Sie führt zur Weiterentwicklung von Sprachen, Kooperation und Demokratie, weil sie Erweiterung und Klarheit unseres Sprechens und Tuns fordert.
Und wenn wir Menschen aus Allem etwas „Wissenschaftliches“ machen wollen? Wenn wir,
in den von uns geschaffenen „Wirklichkeiten“ - nur Zufälle mit zufälligen Gesetzen, Reihenfolgen und Wichtigkeiten „erleben“ und sehen, wie wir sehen können?
„Als Entstehungsvariablen konnten u.a. demütigende und wenig unterstützende Verhaltensweisen
des Lehrers aufgezeigt werden“
(vgl. auch Jacobs & Strittmatter 1979)
„Die Lehrer-Schüler-Beziehung kann direkten Einfluss auf das Angsterleben des Kindes oder Jugendlichen nehmen“
Rankl 1994, S. 104
Unser Wissen, unsere Darstellungskraft, unsere Handlung brauchen mehr Mut, mehr Lebensfreude, mehr Offenheit, mehr Freiheit.
Ästhetik macht alle Menschen zu Philosoph*innen, Dichter*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen.
Wir brauchen mehr Ästhetik des Widerstands gegen unsere eigene Geschichte der Gewalt, Macht, Arbeit, Ausbeutung und Armut. Wir können lernen mit uns wie Menschen zu leben.