Birte Hoffmann, Walter Hövel
Heterogenität, Diversität und Kompetenzen
Ein Interview

 

Birte Hoffmann, damals, 2006, Dozentin und Doktorandin an der Uni Flensburg machte das folgende Interview bei einem Besuch der Grundschule Harmonie. Sie sollte später mehrere Monate lang als Klassenlehrerin an der Grundschule Harmonie arbeiten. Heute ist sie selbst Mutter eines Kindes und arbeitet als Coach, als Autorin und im Diakonischen Hilfswerk.

Fast zehn Jahre später, 2017, kommt Walter Hövel, jetzt pensioniert, dazu den Text durchzuarbeiten. „Vieles von dem, was ich sage vertrete ich heute auch noch, auf einigen Gebieten glaube ich mich entwickelt zu haben.“

 

Das Interview

Birte Hoffmann:
Ich habe eure Schule deshalb ausgewählt, weil sie ja vom Konzept her schon so ausgelegt ist, dass ihr euch die Vielfalt der Kinder, die Heterogenität zu Nutze macht. Kannst du mir ein bisschen erzählen, was sich ein Außenstehender darunter vorstellen muss?

Walter Hövel:
Das Negativbild für mich wie eine Schule sein kann ist das alte Trichterbild. Das heißt ich habe Lerninhalte, die möglicherweise nach Schuljahren zugeordnet sind. In DDR- Zeiten war das sogar so, dass Frau Honecker als Schulministerin noch jedem Tag einem bestimmten Lerninhalt zugeordnet hat und im Gleichschritt wurde in der ganzen DDR am gleichen Tag in jeder Mathestunde, in jeder Kunststunde exakt das Gleiche gelehrt.

Ich fand das in ähnlicher Form in den letzten Jahren wieder im gymnasialen Unterricht unserer eigenen Kinder,  wo man noch immer täglich das Buch öffnete und Seite für Seite durchging, und es den Lernern überlässt, was sie sich davon aneignen, was sie sich nicht aneignen. Sie überprüfen kurzfristig, über eine Sicht von 14 Tagen, was hängen geblieben ist, und danach spielt keine Rolle ob da was gelernt wurde, oder nicht. Es wird also nur Lehrstoff kurzfristig verarbeitet.

Was immer verarbeiten ist. Der Gedanke bei uns ist, das Ding genau umzudrehen. Wir sagen, Schule ist eigentlich eine Institution, die gesellschaftlich eingerichtet wurde und für den Einzelnen dafür benutzt werden kann, dass die Entwicklung des Einzelnen verstärkt wird, gesichert wird. Das heißt unser Job als Schule wäre, für jedes Kind herauszufinden, was, wie und wo dieses Kind lernen kann.

Dabei gibt´s die Entwicklungsphasen. Da hat z.B. Wygotsky eine wunderbare Arbeit geleistet. Man kann auch die Montessori nennen, die da so ein bisschen ahnend schwanend drangegangen ist, dass es Phasen gibt. Spätestens Wygotsky hat da ziemlich sauber wissenschaftlich rausgearbeitet, dass wir als Menschen wohl in Schüben leben, - er nennt das die Zonen, aber ich find Schübe dann schöner.

 Die Kunst von Schule ist, dafür zu sorgen, dass die Kinder sich jetzt nicht eine Rezeptur für eine Lernerpersönlichkeit abholen. Sie sollen selbstgesteuert sich selber als Lernerpersönlichkeit bewusst gestalten lernen.

Das heißt im Konkreten, dass wir nicht sagen, was sie zu tun haben, weder inhaltlich, als auch von der Form her. Dass sie also keine Arbeitsblätter, keine Schulbücher bekommen, keine Lehreranweisungen, keine Lehrerwochenpläne oder ähnliches, sondern dass sie selber in die Verantwortung gesetzt werden, tagtäglich ihr Arbeiten und ihr Lernen zu organisieren.

Unsere Kunst ist, sie dabei so zu unterstützen, dass sie auf ihren eigenen Weg kommen, dass die Lerner diesen wirklich herausfinden. Es ist eine riesen Arbeit das rauszufinden.

Das heißt, dass wir die Welt öffnen müssen. Das heißt wird dürfen uns nicht in unser Gebäude zurückziehen, sondern wir müssen die Schule so gestalten, dass sie ein Haus des Lernens ist, wo man rein und raus geht. Wir müssen es schaffen, wie z.B. Richard David Precht das sagt. Wir müssen das Lernen hoch halten, ein Niveau halten. Das heißt für uns Angebote zu formulieren, reinzutragen, an die Kids heranzubringen. Diese Angebote müssen einen doppelten Charakter haben. Sie müssen einerseits genau die Entwicklungszonen des Kindes treffen, und andererseits genau daneben liegen, um ihnen Perspektiven zu eröffnen, auf die sie nie gekommen wären. Es geht darum Lernende in Bereiche zu holen, wo sie sagen: „Oh, das gibt es? Is ja Wahnsinn!“ oder „Boah, dafür interessiere ich mich, das hätt ich nicht gedacht!“ Das sind für mich eigentlich die Kernbereiche, mit denen wir zu tun haben.

Birte Hoffmann: Welche Rolle spielt da dann, ich sag jetzt mal, die Vielfalt der Schüler?

Walter Hövel:
Ja, ich zitiere da gerne Frederic Vesters Denken, Lernen, Vergessen. Das ist zwar gefährlich, weil er sich selbst widersprochen hat. Einerseits hat er Lerntypen entwickelt, andererseits sagte er korrekterweise, dass es so viele Lerntypen wie Menschen gibt.

Ich denke mir, dass jeder Mensch seine ureigene Lernerpersönlichkeit herausbildet. Dies ist Teil oder vielleicht sogar entscheidender Bestandteil von Persönlichkeit. Somit sollte es so viele Lernerpersönlichkeiten geben, wie es Persönlichkeiten gibt. Jeder Mensch hat seine eigene Persönlichkeit, niemand kann mit jemand anderem übereinstimmen. Das heißt die Vielfalt ist im Grunde genommen so groß, wie die Zahl der Menschen, und darüber hinaus.

Weil jeder Mensch noch einmal in sich seine schizophrenen oder mehrfachen Persönlichkeitswerte hat, können uns ja sehr verschieden verhalten. Wir haben unsere eigene Auswahl. Auch ich kann in mir selbst von einer Lernerpersönlichkeit in die andere umsteigen. Ich kann meine blöde, ich kann meine hochintelligente heraushängen lassen. Es kann meine emotionale oder eine andere aussuchen.

Das heißt also im Grunde genommen ist die Vielfalt um einiges höher als die Anzahl der Menschen. Und es gilt, da mit diesen Menschen hinzukommen, dass sie Vielfalt in zwei Arten begreifen. Im Englischen gibt es zwei Wörter für Vielfalt, „Variety“ und „Diversity“.

Variety ist die „formschöne Vielfalt“: „Was es alles gibt!“ Es ist diese Riesenvielfalt, in der man rumschwimmt, das Ganze, was man nie erfassen kann, was überall ist und unermesslich, „Gottes Reichtum“, „Reichtum der Natur“ und so.

Diversitiy“ ist eher die Vielfalt der Verschiedenheiten. So kann man aus der Vielfalt, die man sich aneignet, bewusst das herausholen, was man für bestimmte Situationen braucht. Es ist die Kunst, des demokratisch Seins, des offen Bleibens, der Anerkennung der Würde des Andersdenkenden. Dies basiert darauf, dass jeder Mensch das Recht hat, seine eigene Vielfalt zu erkennen und zu entwickeln, um da auch reingreifen zu können. Und das auch wiederum nicht als gegebene Vielfalt von Persönlichkeit zu verstehen, sondern zu begreifen, dass Persönlichkeiten nur in Kooperation mit anderen Menschen lernen können. Es geht darum zu begreifen, welche Vielfalt Gruppen anzubieten haben. Ich begreife, dass ich solche Gruppen auch selbst bilden kann. Je nachdem welche Gruppe ich bilde, ist es die hohe Kunst.

Birte Hoffmann: Jetzt sprachst du von einer inneren Vielfalt, und nenn ich das andere mal gezieltere, oder auch äußere Vielfalt, wenn du dann an diese Vielfalt an deiner Schule hier denkst - letztendlich welche individuellen Unterschiede, oder welche Vielfalt fällt dir da ein?

Walter Hövel:
Ich weiß noch nicht genau, was du willst, willst du jetzt Beispiele haben für vielfältiges Lernverhalten…?

Birte Hoffmann: Hm

Walter Hövel: Ja? Okay…

Birte Hoffmann: Ja, es geht mir im Prinzip eher mal so um ne Oberkategorie, also man sagt ja so, dass sich eine Schulklasse so verhält, …

Walter Hövel: Ach so, ja, …so die Konsistenz…

Birte Hoffmann: Ja, meinetwegen auch, aber dass sich eine Schulklasse sehr heterogen zusammensetzt, und welche Heterogenität sozusagen unter den Schülern stellst du an deiner Schule fest? Was gibt’s da?

Walter Hövel:
Ich habe noch immer Probleme, aber das macht nichts. Vielleicht rede ich mich ja noch rein …  ich muss richtig darüber nachdenken, weil die… ich habe noch keine richtige Anknüpfung für das was du meinst. Also ich bekomme hier mit, dass es so zu sein scheint, - das tut‘s eben nicht… - ….ich hab totale…frag mich noch mal. Mir gehen tausend Sachen durch den Kopf, aber ich weiß nicht was du willst.

Birte Hoffmann: Ich meine es im Prinzip ziemlich oberflächlich und einfach.

W: Das ist das Problem.

Birte Hoffmann: Ich finde das…. - …da können wir hinterher drüber reden. Ich meine sowas: Alter, Herkunft, Religion, soziale Kompetenzen, so was in die. ja? Ganz allgemein?

Walter Hövel: Ja, aber tut‘s nicht!

 

Birte Hoffmann: Ja, deswegen darfst du auch gerne tiefer gehen.

Walter Hövel:
Woran ich dachte war sofort das Beispiel von einem Sintimädchen vor ein paar Jahren, die hier nicht lesen und schreiben gelernt hat, die nach eineinhalb Jahren hier immer noch rumlief und nicht lesen und schreiben konnte. Da geht auf Walz (Reise) von März bis September, kommt mit ihrer Familie zurück und kann perfekt Lesen und Schreiben. Und keiner hatte es ihr beigebracht. Die konnten das alle nicht. Wir hatten keine Ahnung, wie das ging.

Und das ist die Stelle, wo wir im Kollegium richtig angefangen haben nicht mehr zu glauben zu wissen wie Menschen eigentlich lernen. Wir haben angefangen etwas zu organisieren, was Schule immer als „lernstörend“ ablehnt.

Wir haben gesagt, an das Lernen der Menschen kommst du gar nicht ran. Du musst nur diese Chancen des Lernens aufmachen, und was die Leute daraus machen, das ist ihre Teil ihrer Verschiedenheit.

Was wir ihnen anbieten müssen, ist ein Überblick darüber zu bewahren, was staatliche Schule verlangt. Weil ja diese soziale und menschenrechtliche Schweinerei nach der vierten Klasse läuft, dass Kinder auf selektierende gegliederte Schulen gehen müssen, müssen sie schon wissen, was von ihnen verlangt wird.

Soziale Unterschiede bräuchten mehr Zeit und Mittel als die Grundschule zur Kompensation bereithält. Unterschichtenkinder haben bedeutend größere Probleme, um sich lernend zu befreien, um in den Kasten unserer Gesellschaft aufsteigen zu können.

Wir merken ab der Einschulung deutlich „aus welchem Elternhaus“ die Kinder kommen. So fällt Kindern aus „bildungsfernen Familien“ das Schreiben Freier Texte viel schwerer.

Bei den Unterschichtenkindern platzt der Knoten später. Sie schreiben dann wahnsinnsstolle freie Texte. Ich glaube, das ist bei den Schriftstellern auch so. Auf so und so viele gibt es welche, die aus Unterschichten kommen, und da ist etwas aufgegangen, - wir, … ich kann das Vorurteil bedienen, dass Kinder, die aus deutschrussischen Familien kommen, und weiblich sind, viel leichter ablernen, …

Birte Hoffmann: Was heißt ablernen?

W: Ablernen heißt, du gibst denen ein Mathebuch, und sagst „Arbeite das durch“ und sie arbeiten das einfach durch, berechnen die Päckchen, und eignen sich die Operationen so an, wie Schule das gerne sehen würde…

Oder ich kann so Vorurteile des gesellschaftlichen Ablernens locker bedienen, dass „gerade aus Mittelschichtenfamilien zunehmend Mädchen“ da sind, die ein wahnsinniges „Zickenverhalten draufhaben“, denen scheinbar das Wichtigste geworden ist, wie man „Zickenkriege in Soapdialogen“ gewinnt….

„Rollenspezifische Sachen entwickeln sich anscheinend so, dass der Computer erst mal ein Medium von Jungs geworden ist. Wenn Mädchen an Medien gehen, benutzen sie sie ordentlich, um dann auch eine ordentliche Arbeit“ abzugeben“. Die schreiben dann richtig tolle Texte, mit richtig tollen schönen Bildern, die sie aus dem Netz suchen, die auch dazu passen. „Aber Jungs sind verpeilter, sie versuchen, den Desktop zu verändern, den nächsten Level zu erreichen, Filme zu machen, und auch irgendwo rein zukommen, wo man nicht reinkommen sollte“. Meinst Du so was?

Birte Hoffmann: Ja, perfekt.

Walter Hövel:
Ja, aber es ist total gefährlich, da rein zu gehen, du kannst damit Vorurteile bedienen. Ich glaube, dass die Gefahr ist, wenn du da soziologisch gesellschaftlich drauf schaust, dass etwas anderes passiert, als wenn du streng gläubig nur auf den Einzelnen guckst.

Und sobald du einen soziologisch gesellschaftlichen Blick darauf wirfst, läufst du Gefahr, wieder Schubladen aufzumachen und Kinder da rein zu tun. Du kommst dann in eine Denkweise der Kompensation, die du eigentlich abschaffen wolltest. Es ist so einfach gesehene und gehörte Auffälligkeiten bei Menschen wieder zu finden. Viel schwieriger ist es die Fähigkeiten zu verstehen und zu benutzen.

Wenn du aber konsequent dabei bleibst und nur auf das einzelne Kind schaust, und dann sagst, dass du „Zickenverhalten“, das du von woanders kennst, siehst, kannst du mit ihr über ihr „Zickenverhalten“ reden. Und wenn es gelingt, sie zu fragen, was sie davon hat, bin ich an einer Stelle, wo ich gerne in meiner Schul bin.

Also, nicht diese Abstempelung im negativen oder positiven Sinne. Sie ist eine Riesengefahr, die sich immer wieder anbietet. Sie bietet sich an, weil du ja in der Schule bist, und dort in der Tat weiterhin überprüft wird, durch Noten, durch vergleichende Noten, wie der Entwicklungsstand ist durch diese Vergleichsarbeiten, die von außen kommen.

Auch durch Besuche von Hospitanten, ob sie von der Robert- Bosch Stiftung kommen, oder ob sie aus irgendeiner freien Schule aus Frankfurt kommen, sie haben alle ihre Kriterien, die sie anlegen, und sie machen Schubladen auf. Und Kinder gehören da nicht rein.

Birte Hoffmann:
Da könnte ich gerade so viel dazusagen. Mach weiter…! Mit der Frage ging´s mir so ein bisschen darum, weniger um einzukategorisieren, um für dich jetzt als Erklärung, sondern um herausfinden, über welche Heterogenität wir…wir letztendlich dann nachher sprechen. Ja?

Walter Hövel:
… Wir haben alles. Hier ist wirklich alles. Wir kriegen hier Kinder, die können nicht aufs Klo gehen, die können nicht abziehen, die können nicht bis Drei zählen, die können überhaupt keine Sprache. Sie sind nicht in der Lage, ein Problem in einem Satz, weder in der Familiensprache, in Deutsch oder in einer anderen Sprache, auszudrücken. Das geht hin bis zu Kindern, die anfangen, sich im ersten Schuljahr mit Mathematik der Mittelstufe auseinanderzusetzen, die rumphilosophieren über den Zeitbegriff. Oder …hier… kürzlich ein Drittklässler, der einen Vortrag über Umweltschutz hielt, wo ich wirklich nur noch geschluckt habe, wo der das Vokabular her hat, und wie er das alles kapiert.

Es ist wirklich alles da, und du siehst es nicht. Sichtbar wir es erst mit der Kunst der Atmosphäre, der Kunst der Ansprache und des Sprechens, der Kunst des demokratischen Beziehungsherstellens mit den Kindern. Es gilt überhaupt an diese Bereiche heran zu kommen. Also muss man die Atmosphäre der Akzeptanz schaffen, dass die mittelmäßigen Menschen, und das sind wir alle, nicht ihre Intelligenz immer wieder selbst erschlagen.

Die sich überall entfaltenden Intelligenzen der jungen Menschen dürfen nicht ins Mittelklassefeld, ins Mittelmaß zurück- oder hineingemobbt werden. Das passiert nämlich, wenn du einfach nur offen arbeitest. Dann greifen gesellschaftliche Mechanismen. Du bist verpönt wenn, wenn du etwas nicht kannst, du wirst diskriminiert. Du wirst aber genauso zurückgepfiffen, wenn du zu intelligent bist. Das kann keiner leiden.

Die Schule so zu öffnen, dass es diese nicht die Menschen erzieht, sondern sie sich zum individuellen und kooperativen eigenen Lernen der Menschen öffnet. Nicht mehr die Menschen passen sich der Struktur von Schule an, sondern die Schule begreift den Strukturen des Lernens jedes Einzelnen gerecht zu werden, indem sie Raum, Zeit und das denkende Herausfordern dafür bietet.

Die drei Kategorien schwach, mittel und stark und andere verschwinden. Auf das Individuum schauend lernt sie zu leben: „Also in jedem Menschen sind starke, schwache und mittlere Stellen, aber es ist Sache des Menschen diese einzustellen, zu bewerten, seine eigene Wertigkeit zu entwickeln. Das ist die Kunst dabei.

Birte Hoffmann: Wollen wir zu den Kompetenzen übergehen?

Walter Hövel: Können wir machen.

Birte Hoffmann:
Gut! Ich habe einfach mal die sozialen Kompetenzen und die kognitiven Kompetenzen und auch sonsti-ge Kompetenzen sozusagen mitgebracht. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten des Vorgehens, wo ich dich einfach entscheiden lassen möchte, was dir lieber ist. Zum einen wüsste ich gerne, welche Kompeten-zen dir hier bei deinen Schülern in deiner Schule in besonderer Art und Weise auffallen. Dann wüsste ich gerne, was du in deiner Funktion als Schulleiter oder als Person Walter Hövel tust, damit die Kinder das entwickeln können und wie du diese individuellen Unterschiede der einzelnen Schüler dir auch zu nutze machst?

Walter Hövel:
Meinst du ich wollte die ganze Fragestellung behalten, wenn du mir so ne große gibst…Ich fange vorne anzu-reden und weiß…ich fange einfach mal an.

Birte Hoffmann: Und deswegen, das Vorgehen wäre, … entweder wir fangen mit einer Kompetenz an und springen dann rüber, was tust du, um das zu begünstigen, oder aber wir gehen erst mal die Kompe-tenzen durch, und sprechen anschließend darüber. Welches Vorgehen ist dir lieber?

Walter Hövel:
Ich fange einfach mit den Kompetenzen an. Irgendwann habe ich das Bild von Humberto Maturana übernommen, für mich, nicht weil die Theorie so toll ist, sondern um ein Bild zu haben, um mich verständigen zu können. Über Kompetenzen. Und was ich glaube begriffen zu haben ist, dass dieses Emotionieren-Können die Grundkompetenz von Menschen ist. Dass sie also in der Lage sind, weltbildend zu reagieren, auf sich selber, auf Umwelt, auf Partner. Dass also alles, was intellektuell, sprachlich, handelnd geschieht, eingebettet ist in Emotionen. Das heißt ich halte die Entwicklung von Emotionen für die Hauptkompetenz.

Birte Hoffmann: Die Hauptkompetenz, die du entwickeln möchtest, oder die du feststellst bei deinen Schülern?

Walter Hövel:
Beides! Aber das ist eine sehr oberflächliche Antwort. Weil es wieder so ist, dass Jeder, also jedes Kind, alle möglichen diversen und variierenden Kompetenzen, emotionale Kompetenzen mitbringt. Und sie sollen nicht alle die gleichen haben, sondern sie sollen lernen, dass sie ich in ihren eigenen Gruppen, in ihren kleinen Gesellschaften, die sie als Lerngruppe, als Klasse oder sonst was bilden, sich diese Kompetenzen gegenseitig abzuholen und sich zusammen arbeitend ergänzen.

Also dass darf durchaus derjenige welcher, oder diejenigen welche sein, die besonders gut einen Kreis leiten können, weil sie gerade spüren, wie die Stimmung ist und das kanalisieren können, so, dass nichts von ihnen manipuliert  wird, sondern dass der Flow für die Gruppe entsteht. Die haben Flowgefühl.

Es gibt Kinder, die so bockig sind, und so eine gesunde Art von Bockigkeit haben, dass sie spüren, wann etwas falsch läuft, wo sie sich auflehnen können, auch gegen etwas was eigentlich alle wollen. Aber sie spüren früh genug, dass es nicht richtig ist, dass es anders geht. Sie haben Bockgefühl. Und dieses kann entwickelt und versprachlicht werden.

Es gibt Kinder, die einfach eine tolle Art von Fürsorglichkeit haben, wo sie nicht die Mutter, den Muttertyp nachspielen, der ihre Kinder zupampert und zuordiniert, sondern wo eine echte Fürsorglichkeit ist, wo sie begreifen, wann man jemandem helfen kann.

Es gibt noch viele Bespiele für Empathie, Ängste, Mut, Wut, Zufriedenheit, Lebensfreude oder Vertrauen etc. Wie im einzelnen Menschen die Entwicklung der emotionalen Kompetenzen die Basis für das ist was intellektuell und sonst wie lernend geschieht, ist das für mich auch in einer demokratischen Schule so. Deshalb arbeite ich als Schulleiter dran, dass eine menschliche Grundatmosphäre in der Schule ist.

Birte Hoffmann: Wie machst du das?

Walter Hövel:

Indem ich das klar habe, aber wie ich das wirklich mache, … aber…ich hab…ich weiß es nicht wirklich. Ich weiß nur, wenn ich hier rein komme, und die Atmosphäre stimmt nicht, dann leide ich, und dann muss ich möglichst schnell aus meiner eigenen Leidensschleife raus, kommen, um zu begreifen, was zu machen ist, um das zu ändern, und ich weiß schon, dass Veränderung nicht immer über Abschaffung geht, sondern über Input. Manchmal muss man auch was rausnehmen. Aber das geht nie ohne Input.

Birte Hoffmann Kannst du versuchen, von dieser abstrakten Ebene das ganze ein bisschen anschau-licher zu machen? Vielleicht helfen Beispiele, vielleicht kannst du´s nochmal anders beschreiben.

Walter Hövel:

Ich kuck mir dann wieder an, was gerade da ist bei meinen Leuten. Zum Beispiel, eine Mirja geht diese Woche hin und interviewt ihre Kinder zu dem Thema, was wir nächste Woche mit den Eltern behandeln. Bei den Eltern heißt das Thema „Was erwarten Eltern von Schule, was erwartet Schule von den Eltern?“ Mirja geht hin, und dreht das in ihrer Klasse auf die Kinder zurück und sagt, ich habe mit den Kindern darüber gesprochen, was erwarten Kinder eigentlich von Schule, und was erwarten sie von sich selbst? So, und dann tu ich nichts anderes, als das wiederholen, dass Mirja das gerade getan hat, das mache ich am Tisch morgens.

Birte Hoffmann: Bei der Frühkonferenz?

Walter Hövel:
Ja, bei der Frühkonferenz! Und dadurch gebe ich Inputs, das tue ich jeden Tag drei viermal, von denen ich glaube, dass die Atmosphäre schaffen an der Schule. Also keine „Harmonie“atmosphäre, kein „Wir mögen uns alle“, sondern Inputs, die ich von ihnen selbst oder anderen erhielt, (zurück)geben. Inputs, die es Menschen möglich machen, aktiv zu werden, nachzudenken.

Birte Hoffmann: Woran merkst du denn dann, dass deine Inputs fruchten?

Walter Hövel:

Die tun‘s ja dann nicht immer. Ist mir völlig schnuppe, ob die alle fruchten, oder nicht. Ich geb so viele, dass die entweder fruchten, oder nicht. Und ich halte gar nicht nach, ob das alles richtig war. Das überlasse ich den Leuten- ich bin nur der Inputer, ich biete an, das ist so ähnlich, wie ich mit Kindern arbeite.

Ich kann die Kinder nicht zwingen, das zu lernen, was ich gerne hätte, was sie lernen würden. Ich kann ihnen nur sagen, da gibt es Gelegenheiten, Möglichkeiten, Forschungsgebiete, Fachgebiete und …Notwendigkeiten. Das eine sind eure Lernchancen, das andere, und ihr wisst, was da ist, müsst ihr können, sonst werdet ihr in der weiterführenden Schule keine Mathearbeit durchhalten. Aber ansonsten ist das eure Sache, was ihr an Angeboten annehmt.

Und so gehe ich dann auch mit der Schule um. Zum Beispiel ist so ein Input, das du gerade hier bist (gemeint ist die Interviewerin). Ich sage das nicht, weil du die nette Birte bist. Das bist du zwar und ich freu mich, dass du da bist. Aber ich weiß, dass du gerade durch deine Fragestellungen eine Wahnsinnsreflexionsarbeit bei meinen Kollegen initiierst. Und ich weiß, dass das die Atmosphäre meiner Schule besser macht, weil das Team danach selbstbewusster klar hat, was sie eigentlich hier machen.

Und so initiiere ich, oder besser, ich nehme Angebote von außen an, kanalisiere sie in die Schule hinein, um Atmosphäre zu machen. Also zum Beispiel diese Atmosphäre, wir sind die Schule, die nicht nur für Eltern offen ist und Hospitanten, die möglicherweise im Weg stehen, sondern hier kommen Leute an, die mit uns was total Gutes machen, was man sonst als Systemberatung, Moderation oder Prozessbegleitung  teuer bezahlen muss.

Du leistest also gerade eine Arbeit, wo Profis, die das dann als Evaluationsarbeit oder als - wie heißt das Wort-es fehlt mir gerade- ja, Coaching, ja die dann eine Coachingarbeit machen, wo ich tausend Euro für drei Tage mindestens auf den Tische hinlegen müsste. Das machst du gerade umsonst. Mit deiner Arbeit. Und das organisiere ich. Weil das eine wissenschaftliche Atmosphäre, also Wissen schafft.

Und zwar eine Atmosphäre vom „Ich fühle mich wohl, wenn ich lerne!“ Na also, ich versuche wieder an diese Emotionsfrage anzuknüpfen. Und „meine Leute“, die artikulieren in letzter Zeit immer häufiger „Wir machen uns gerade an dieser Stelle mehr Arbeit, damit es uns nachher besser geht.“ Und das ist ein Satz, ich glaube, da würde mancher Schulleiter sein Leben für geben, damit er heute so was sagen kann. Und sie haben‘s klar. Sie wissen, dass Investitionen, die sie sich selbst geben, atmosphärisch wirken, und von dieser Atmosphäre aus anders gearbeitet werden. Bin schon wieder so theoretisch. Ich sollte ja etwas Praktisches sagen.

Birte Hoffmann:
Nein, nein, das ist okay. Und diese Atmosphäre, von der du sprichst, die du ja auch schon …also ich habe sie für mich jetzt schon klarer bekommen, durch das, was du erzählt hast. In wie weit wirkt sie sich denn noch auf die Entwicklung dieser emotionalen Kompetenzen, die du so als Grundlage siehst, in wie weit wirkt die sich da noch aus? Was ist da das besondere dran?

Walter Hövel:
Also zum Beispiel eine Besonderheit ist, dass wenn so eine Grundatmosphäre da ist, dass ich auch mal streiten darf. Dass Reserven da sind. Es sind emotionale Reserven da, die es mir erlauben, einer Kollegin gerade aus zu sagen „Mach das nicht, was du da gerade machst! Mach was anderes!“ Also ich dürfte das sonst nicht, wenn schon die die Grundlage emotional negativ geladen wäre.

Das ist ein Punkt. Der andere Punkt ist der, dass in so einer Atmosphäre Menschen eigeninitiativ werden. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene. Das heißt, dass eine Kollegin, obwohl es ihr gar nicht so gut geht, in dieser Situation den Geigenbauer rein holt und sie begreift, obwohl sie eigentlich ein halbes Jahr etwas anderes bräuchte, sie begreift, dass sie gerade Atmosphäre mit schafft, und das ist gut so. Und sie spürt die Anerkennung. Und das sag ich dann auch. Ich sage dann auch vollkommen offen, ja wie sagt sie? „ Du bist heute meine Lieblingslehrerin!“. In einer anderen Atmosphäre würde ich für diesen Satz erschlagen. 

Birte Hoffmann:
Du sprachst, sagst, ...ich bleibe mal bei der Grundlage von dieser Entwicklung der, dieser emotionalen Kompetenzen, was initiierst du noch, was machst du noch, dass das geschaffen werden kann, oder dass die entwickelt werden können?

Walter Hövel:
Das ich´s selber vormache. Also, wie sind im dreizehnten Jahr, und ich glaube von den dreizehn Jahren war ich neun Jahre Klassenlehrer, und ich habe die Leute niemals gezwungen,  Klassenrat, einzuführen, oder sonst was, sondern einfach vorgemacht, wie das geht. Und irgendwann haben sie alle Klassenrat gemacht. Freie Texte, Experimentieren, Draußen lernen, Arbeit ohne Bücher, ohne Noten, Selbsteinschätzungsbögen, die Frage zur Welt oder Theaterspiel habe ich genauso eingeführt. Dies funktioniert auf der Grundlage, dass die Kinder immer wieder Neues leisten, die Lehramtsanwärterinnen ständig fachlich innovieren, gute neue Kolleginnen und Kollegen kommen, engagierte Eltern mitwirken, aktive Hospitanten vormachen und wir eine eigene Fortbildungsarbeit haben.

Birte Hoffmann: Als Lehrer jetzt?

Walter Hövel:

Als Lehrer! Also selber Lehrer sein und selber vormachen, was ich mir vorstelle, und nicht beschreiben, nicht befehlen, nicht rumjammern, sondern vormachen, ich glaube, dass das einer der absolut entschiedensten Kriterien ist, warum du eine Atmosphäre hoch kriegst.

Mit anderen zusammen die Dinge machen. Also immer wieder Projekte anfassen, wo wir dann eben Englischunterricht zusammen machen. Wo wir Dichterlesungen mit zwei Klassen machen, die dann jahrgangsübergreifend sind, … mal einen Jungskreis machen, mal einen Mädchenkreis, also immer wieder Dinge initiieren, wo kurze Projekte, oder längere Projekte gemeinsam gemacht werden.

Nicht auf der Ebene von erzwungener Teamarbeit, sondern als Initiative wieder und immer auch zeitlich überschaubar, dass es nicht  zu einem Langstress wird.

Birte Hoffmann:
Diese Atmosphäre, diese gute Atmosphäre, wo halt überhaupt das Lernen entwickelt werden kann oder stattfinden kann, sagen wir‘s mal so, erlebst du dies auch bei den Schülern, diese Atmosphäre?

Walter Hövel: Ja!

Birte Hoffmann: Kannst du´s beschreiben, wo du das da erlebst? Können Beispiele sein.

Walter Hövel:
Ja, an allen Ecken geschieht das ständig, dass sie auf einmal was bauen, was schreiben, was tun, wo keiner damit gerechnet hat, dass sie auf so was kommen. Da geht Aaron hin und entwickelt auf dem Desktop verrückte Zeichentrickfilme. Weil er irgendein Programmierprogramm gefunden hat, womit man Zeichentrickfilme auf dem Desktop hinkriegt. Und ich steh dann da und denk „Hallo?“

Da geht der Lukas hin und bietet selber eine Echsentier-AG an und zieht das durch. Da sind Mädchen, die Theaterstücke aus dem Boden stampfen, ohne dass sie jemand gebeten, gefragt hat oder sonst was. Isabell macht vor, wie man selber ein Lied komponiert und textet, stellt sich auf der Schulversammlung vorne hin und singt das so ins Mikro. Diese Dinge passieren ständig.

Birte Hoffmann: Und die führst du auf diese Atmosphäre zurück?

Walter Hövel:

Ja. Weil, weil alle wissen, dass sie mit Erwachsenen und Kindern zu tun haben, die das gut finden. Also es ist auch ein bisschen „Entwicklung vollzieht sich durch Anpassung!“

Also wir Menschen entwickeln uns ein Stück weit dadurch, dass wir uns an Gesellschaft anpassen. So, und wenn die Anpassungsnormen so gesetzt sind, dass Eigeninitiative, was Kreatives tun, was Außergewöhnliches tun gewertet, zur Wertschätzung kommt, dann tun sie das auch. Und genau so verhalten sie sich.

Oder so kommt man auch durch schwierige Dinge durch, also schwierige Dinge z.B. wir haben jahrelang Schulzeitungen, ne Schulzeitung hergestellt, und immer in Begleitung einer Lehrerin. Und die Zeitung gab es immer nur dann, wenn eine Lehrerin Zeit hatte, Zeitung zu machen. Ich bin auf irgendeinem Kongress, und höre von einem Gymi, dass die Zeitung von den Schülern gemacht wird, und die Lehrer damit gar nichts zu tun haben. Ich denke „Bitte? Das können unsere auch. 

Das können die, die machen Powerpoint-Sachen und sonst was, das ist doch technisch überhaupt kein Problem, und schreiben freie Texte. Und dann hat das Kinderparlament auf meinen Vorschlag hin beschlossen, dass die Zeitung jetzt von den Schüler gemacht wird. Vier Wochen lang hat das überhaupt nicht funktioniert. Die haben sich nur im Weg gestanden, die haben das nicht hinbekommen. Auf einmal kommen zwei Schüler an und haben eine Zeitung fertig.

Was überhaupt nicht geplant war. Ob das eine Konkurrenzkiste war, weiß ich nicht, oder ob es einfach nur aus Nettigkeit entstanden ist. Keine Ahnung.

Und dann sind die alte Redaktion und die Leute der neuen Zeitung zusammen gekommen, haben noch ein paar neue dazu geholt. Wir haben darüber gesprochen, wie man Zeitung macht, und auf einmal klappt es. An allen Ecken und Enden werden plötzlich Artikel geschrieben.

So Sachen ständig stricken. Also, ich versuche es mal so beschreiben: Ich versuche permanent meine Lehrerinnen und Lehrer daran zu hindern zu unterrichten.

Birte Hoffmann: Kannst du das ausführen? Was sollen sie stattdessen tun?

Walter Hövel:
Etwas, was sie können, was ihnen Spaß macht. Stattdessen die Kinder selber arbeiten und lernen lassen. Also ich arbeite seit Jahren konsequent daran, ihnen zu sagen, das sie keine Lerninhalte vermitteln müssen. Sie sollen sie bekannt machen, sie müssen mit den Kindern darüber reden, dass es die gibt, und welche Relevanz die haben, all das. Aber sie dürfen sich nicht vorne hinstellen, und glauben, sie könnten Kinder jetzt zwingen, das genau in dem Augenblick zu lernen, wo sie glauben, dass das zu lernen wäre.

Und ich gebe ihnen die Rückendeckung, dass, wenn die Eltern dann versuchen, sie zu erschlagen, dass sie sie nicht erschlagen können. Du kennst das ja auch…, ne? Da leg ich mich pädagogisch und gesellschaftlich grundsätzlich mit diesen Eltern an. Ne, also dann müssten sie mich abschaffen, als Schulleiter. Sie haben es oft genug probiert, einzelne, nicht die Elternschaft. Aber es hat immer wieder die Mehrheit der Eltern für unser Konzept gegeben. Gegner haben vorne rum keine Chance.

Birte Hoffmann:
Und welche Auswirkungen hat genau das, wenn das die Lehrer dann tun, oder wenn du denen, also wenn du ihnen diese Rückendeckung gibst? Also das heißt ja jetzt dann lange nicht, dass die Kinder dann vielleicht automatisch lernen.

Walter Hövel:
Dann lernen wir, wie man diese Prozesse strukturiert. Kinder bekommen die Chance eigene Prozesse zu strukturieren. Eine ungeheuer harte Arbeit, weil sie es eben nicht gelernt haben. Aber nicht ungeheuer hart für die Kinder, sondern für die Lehrenden. Sie haben es weder in ihrer Schulzeit, an der Hochschule oder in der zweiten Ausbildung gelernt

Aber hier treffen in der Regel (80%) schulfremde Erfahrungen als Einzelkompetenzen zusammen. Die Kinder können das! Das Kind hat Kompetenzen von Mama und Papa, von den Geschwistern oder der Tante, vom Oma und Opa abgeholt. Sie sahen wie ein Kaninchenstall oder Möbel gehämmert und geschraubt, wie ein Buch gelesen, wie ein Computer bedient, ein Fahrrad oder Auto gefahren, wie eine Beziehung gelebt, wie gekocht, geputzt wird, und so weiter und so fort.

 Und die Kunst ist es jetzt, aus der Kreissituation heraus diese Kooperation der Klasse zum eigenen Lernprogramm zu machen. So kommen Unmengen von Kompetenzen zusammen. Kinder lernen Lern- Kompetenzen anderer zu adoptieren und bei sich selber und ihrer Umfeld immer wieder zu finden. Das bedarf keiner teuer finanzierten Schulreform, sondern ist hier und heute gepaart mit dem Wissen der Welt möglich. Sie entdecken, dass sie diese und jene Kompetenz zumindest so ähnlich auch haben.

Und dann folgt der entscheidende Vorgang, - ich glaube, man nennt das hochwissenschaftlich Evaluieren. Also dieses ständige Evaluieren von sich entwickelnden Kompetenzen, und den Zuwachs begreifen, begreifen, warum das kommt, woher das kommt. Was einen daran hindert, das gut zu machen. Was es gefordert hat, dass das entsteht.

Und das Irre ist, diese Kinder verlassen uns ja alle 4 Jahre, und wir haben eigentlich die 13. Generation, also wir haben die 13. Generation Kinder hier, weil es uns seit 13 Jahren in dieser Form gibt. Wir hatten vorher keinen Jahrgangsübergreifenden Unterricht, und trotzdem hatten die neuen Kinder das schon gekonnt, was die alten sich erarbeitet hatten, obwohl sie sich im direkten Lernen nie begegnet sind.

Höchstens in der Atmosphäre der Schule, auf Schulversammlungen, gab es im Vorübergehen zu sehen, wie die anderen arbeiten in diesen offenen Arbeitsformen. Sie, die Neuen, können im Grunde genommen sofort alles, was die Alten können. Und sie können sofort wieder weiter machen, sich die nächste Entwicklungsstufe erobern. Und die Schule hat ständig Entwicklungsstufen.

Wir haben z.B. so eine Stelle gehabt in den letzten Jahren, die große Kampagne gegen die Langeweile. Auf einmal wurde auch hier Lernen langweilig. Und wir haben mit den Kindern darüber gesprochen, wie lange Weile entsteht.

Was das ist, warum kann Langeweile beim Lernen entstehen. So, und die Kids haben herausgefunden, dass es um Herausforderung geht.

Einerseits, sich selbst herausfordern lernen, und andererseits von den Lehrern herausgefordert werden. Das ist die Stelle wo Leon als Zweitklässler in der Schulversammlung gesagt hat „Ich weiß jetzt warum es langweilig geworden ist. Ihr Lehrer seit nicht gut genug vorbereitet.“ Und es stimmte! Nicht im bösen Sinne, so wie der Seminarleiter das sagt: „ Sie haben ihre Unterrichtsstunde nicht richtig vorbereitet!“.

Wir alle haben sofort darüber nachgedacht, wie wir wieder das Lernen attraktivieren. Was wir tun können, damit das hier spannender wird. Weil das ist hier die Hauptursache. Nicht das die Kinder sich nicht selbst organisieren wollen, nicht das sie nicht lernen wollen, sondern dass sie eingelullt sind, von dieser Gesellschaft, oft auch von ihren Eltern und ihrer Lehrern.

Birte Hoffmann: Und das bedeutet dann im konkreten, was ist dann die Aufgaben des Lehrers?

Walter Hövel:
Die Kinder zu befähigen, sich selbst zu befähigen, immer wieder die Stellen herauszufinden, wo die Herausforderungen sind, wo die Problemstellungen sind, wo die Zielsetzungen sind.

Das ist dann auch die Stelle, wo wir im Kreis gelernt haben, morgens nicht nur mehr zu fragen, was machst du heute, sondern mit welchen Problemen setzt du dich auseinander, welches Ziel hast du heute. Und so sind wir das geworden, was man „lernende Schule“ nennt.

Also dadurch kommen wir immer mehr in diesen Vorbehalt, dass wir spüren, dass wirei ne lernende Institution sind, also dass wir eine dritte Ebene der Kompetenzen entwickeln, nicht nur bei den Kindern, nicht nur bei den Lehrern entwickeln sich andere Kompetenzen, und kommen zur Entfaltung, sondern die Institution selber wird zu sowas wie einem lebendem Mechanismus und entwickelt eigene Kompetenzen. Also, wie machen wir das jetzt, dass die Langeweile in der Schule weggeht? Schulversammlung! Im Kreis daran arbeiten, Fragebögen machen, ausprobieren, drüber nachdenken, wo war es nicht langweilig, das wieder zeigen.

Birte Hoffmann:
Das machen jetzt eventuell andere Schulen auch. Was ist dann das besondere hier? Was passiert dann damit, wenn ihr das macht?

Birte Hoffmann:
Also was habt ihr initiiert? Also du hast gesagt, ihr initiiert das, ihr macht Schulversammlung, ihr macht, es passiert im Kreis, es finden Gespräche statt, ihr macht Fragebögen, was passiert dann damit? Also man kann das ja alles initiieren und dann ist es nett gesagt, man hat mal darüber geredet. Reicht das schon? Vielleicht ist es das ja?

Walter Hövel:
Ich glaube, im Mittelpunkt steht, dass an dieser Schule Erwachsene sind, die selber Spaß am Lernen haben. Uns macht das einfach Spaß, dafür zu sorgen, dass uns nicht langweilig wird. Und, wir haben zumindest gerochen, was wir tun müssen, damit das funktioniert.

Das ist die Bereitschaft jeden Tag mit den Kindern darüber zu reden. Wolfgang Klafki hat das beschrieben, in den 70er Jahren. Der hat gesagt, die eigentliche Kunst des Unterrichts ist, den Unterricht mit den Kindern vor- oder gar nachzubereiten. So, und ja, das ist ein Kern. Nur das wir nicht von Unterricht reden und von Stoffvermittlung, sondern an die Stelle den Lernbegriff setzen und sagen, es geht uns um Lernen, um die Erringung von Kompetenzen, und das Planen und Reflektieren mit den Kindern.

Wir tun das auch untereinander. Das heißt, dadurch, dass wir uns jeden Morgen treffen, dadurch dass wir uns einmal pro Woche zur Konferenz sehen, und ständig miteinander reden, entwickeln wir auch ständig Ideen, und eigentlich ist einer der Motoren die Idee. Ideen, Ideen haben, die immer wieder zulassen, das was anderes, was neues ausprobiert wird. Dass das Repertoire erweitert wird. Ich glaube, dass unsere Kinderkonferenz eine ganz entscheidende Stelle ist.

Birte Hoffmann: In welcher Hinsicht?

Walter Hövel:
Eine Zeit lang haben wir nicht jeden Monat unsere Kinderkonferenz gemacht, wir machen sie seit einem Jahr wieder ganz konsequent. Einmal im Monat sitzen wir um den Tisch rum, und wir erzählen unsere Probleme, die wir mit Kindern haben. Unterforderte und überforderte Kinder (und Erwachsene), Verhaltensprobleme, Lernprobleme, emotionale Probleme, psychische Probleme, spielt alles eine Rolle. Alles wird vorgetragen, und wir unterhalten uns zusammen darüber, was wir für das Kind tun können, damit das Kind in sein eigenes Lernen reinkommt. Und da müssen wir alles anwenden, was wir gelernt haben. Wir müssen ständig alle unsere Erkenntnisse wieder auspacken, auch die ganz alten.

Weil es passiert uns auch, dass wir ganz gute Dinge gemacht haben, und wir vergessen dass, dass wir das konnten. Und gerade an der Stelle, wo wir über einzelne Kinder nachdenken, erinnern wir uns häufiger an ganz alte Vorgänge, wie wir wieder raus wollen, und dann wieder zurückholen, ohne die Kinder in Schubladen zu stecken. Wir versuchen, das Kind zu verstehen, um ihm seine Arbeits- und Lernbedingungen zu schaffen.

Und das Ganze funktioniert durch den Klassenrat, weil der Kreis der Klasse eben nicht die Stelle ist, wo Konflikte ohne die Arbeit gelöst werden, sondern der Kreis ist, wo die individuelle und gemeinsame Arbeit organisiert wird, wo darüber nachgedacht wird, und das ist Institution.

Das sind unsere Schulversammlungen, das Kinderparlament, Sorgengruppen, das sind Einzelgespräche.

Etwas intelligentere Kinder gehen hier und im Alltag manchmal hin und orientieren sich am Mittelmaß, oder lassen ihre Langeweile so raushängen, dass sie sich nicht mehr herausfordern. Sie machen einfach nur noch, was wir dann für „Blödsinn“ halten. Wir sehen nur: Sie wollen nicht arbeiten.

Ich gehe als Schulleiter z.B. hin, und lade mir 5, 6 von diesen Kindern ein und rede mit denen darüber, was Lernen bedeutet. Den Artikel hast du gerade bekommen. Ja, solche Kreise mach ich. Dass ich auch als Schulleiter ganz bewusst Kinder zusammenhole, um mit ihnen ein Problem zu lösen, was vielleicht die Kinder gar nicht alleine als Einzelperson gelöst kriegen. Und dann kann ich wiederum zu den Lehrern hingehen und sagen, wie die Kinder das gemeinsam lösen. Und das funktioniert.

Birte Hoffmann:
Okay. Ich würde ganz gerne noch mal auf die Kreise zu sprechen kommen, in denen Gespräche stattfinden. Weil du´s ein paar Mal erwähnt hast. Kannst du ein bisschen beschreiben, wozu diese Kreise dienen, außer zu der Organisation von Arbeit und dazu dass die Kinder dann das Lernen organisieren, ja, vielleicht erst mal so. Wobei mich das andere natürlich auch interessiert, das frage ich aber noch.

Walter Hövel:
Also, wenn die Kreise nur dazu gut wären, die Arbeit zu organisieren, dann würden sie mir schon reichen. Das ist ihr zentraler Sinn .

Birte Hoffmann:
Okay. Wie genau wird denn da Arbeit organisiert? Wie geht das von statten, wer organisiert die Arbeit, wer hat die Oberhand darüber?

Walter Hövel:
Es ist in jedem Kreis vollkommen anders. Es ist mit jeder Lehrerin vollkommen anders. Also ich weiß z.B., dass ich eine Lehrerpersönlichkeit im Kreis bin, die richtig lenkend eingreifen kann, und das  auch tut, und am nächsten Tag mich so zurückhalte, und so rausnehme, dass das wirklich die Kinder organisieren müssen.

Es gibt fantastische Erwachsenenpersönlichkeiten, die sich so raushalten können, dass die Kinder es wirklich immer alleine schaffen. Und die nehmen sich da auch so viel Zeit und Geduld für, dass ich da nur bei stehe und nur denke: „Boah, ist das toll! Dass die das können!“

Es gibt welche, die reinquatschen, die sich also nicht daran halten, dass sie erst sprechen dürfen, wenn der Präsident oder die Präsidentin sie dran nimmt. Und das auch gar nicht merken, dass sie es tun. Aber die Kinder haben gelernt, das zu ertragen, und damit umzugehen. Dass sie trotzdem ihre Dinge organisieren.

Es gibt Konstellationen von Kindern, die überhaupt keine Probleme damit haben, ihre eigenen Sachen zu organisieren. Die können es im Grunde genommen vom ersten Tag an. Und es gibt andere Kreise, ob das jetzt soziale Zusammensetzungen oder sonst irgendwas, die brauchen Monate, wenn nicht Jahre dafür, bis sie geschnallt haben, dass sie eigentlich für ihre eigene Arbeit verantwortlich sind, und welche  Kraft dieser Kreis hat. Wo man genau daran arbeiten muss.

Birte Hoffmann: Wie?

Walter Hövel:
Indem man immer wieder die Verantwortung zurückgibt. Indem man immer wieder den Kindern die Frage stellt, warum sie hier sind und was ihr Lernen für einen Sinn hat.

„Was kannst du Sinnvolles machen? Wenn du das nicht tust, wirst du dich sinnlos zu Tode langweilen. Ich werde aber nicht zulassen, dass du aus dieser Langeweile heraus jetzt anfängst, Aggressionen zu entwickeln, oder anderes. Spiel ich nicht mit. Da ist nämlich meine Verantwortung als Erwachsener. Aber deine Verantwortung ist, dafür zu sorgen, dass du etwas Sinnvolles hier tust. Und das musst du hier im Kreis lernen.“

 Und diese Fragen stelle ich immer wieder zurück. Immer wieder. Dann ist das nächste, das so zu organisieren, dass die Kinder immer wieder Vorschläge artikulieren können, für die anderen, wie das denn geht.
„Zeit sinnvoll gestalten? In ein Lernen hinein kommen? Welche Erfahrungen habt ihr? Dafür Platz und Raum schaffen, dass das der entscheidende Teil ist, dass die Kinder den anderen erzählen, wie es geht. Sie auch einladen, mit ihnen Verabredungen machen.

Birthe Hoffmann: Ja, wie initiiert ihr das dann hier bei den Kindern?

Walter Hövel:

Nicht immer erfolgreich. Das ist jetzt eine Frage der Qualität? Willst du zu „Was tut ihr, wenn ein Kind immer nur Mathematik macht, und nicht schreibt?“

Birte Hoffmann: Nee, weniger. Sondern einfach, was tragt ihr jetzt als Lehrer dazu bei, dass überhaupt andere Kinder dem einzelnen Kind diese Vorschläge machen?

Walter Hövel:
Indem wir sie auffordern. Also, das ist der aktive Job der Lehrpersonen im Kreis. Wenn sie das nicht von selbst tun, den einfachen Satz zu sagen: „ Nele, erzähl mal wie du das gestern gemacht hast!“, „Khan, wo war die Stelle, wo das Langweilegefühl weg war? Was hast du an der Stelle gemacht?“

Wir sind dann die Moderatoren, wir moderieren den Kreis so, dass die Kinder erkennen, auf was sie schauen, um sich selber organisieren zu lernen. Das kann harte Arbeit sein.

Manchmal gibt es 1, 2 Kinder, die so eine Kraft, und so eine soziale Gewalt haben, Macht haben, dass eine andere Atmosphäre in die Klasse reinkommt. Manchmal auch über Eltern. Die einfach ganz falsche Ansprüche von der Seite über ihre Kinder reingeben, und Verschulung fordern, und ihre Kinder auch damit geimpft haben. Und ihre Kinder sitzen im Kreis und fordern Verschulung ein, und gleichzeitig tun sie alles, um der Anforderung auszuweichen.

Und da muss man richtige machen. Da muss man richtige Systemrucks organisieren, dass das zurückgeht, dass man zurück kommt zu einer Sichtweise von Eigenverantwortung. Aber eine Rezeptur dafür gibt es nicht.

Es ist dieses, das du auch da über die Jahre als Erwachsener Erfahrungen sammelst, und auch die Kinder, vor allen Dingen. Und wieder die Kunst, da nicht als Macher auftreten zu müssen, sondern die Ruhe zu haben, abwarten zu können, dass die Kinder drauf kommen.

Aber dann eben zumindest absichern, dass Kinder das Recht haben, auch veraltete Meinungen sagen zu dürfen, dass das ausgehalten wird im Kreis. Zu warten, bis diese Dinge kommen, die wichtig sind.

Man könnte das genauso unter dem Störungsaspekt betrachten. Also, ich könnte jetzt lehrerhaft hingehen, und zwanzig Gründe nennen, warum man eigentlich keinen Kreis machen kann, weil die Mechanismen, die es alle gibt, die Kreise schwieriger machen, sogar verhindern. Z.B. dass wir Kinder aus Familien haben, wo ihnen klipp und klar gesagt wird, was sie zu tun haben, und diese Kinder das auch weiterhin einfordern. Dass wir Kinder haben aus Familien, wo Mama oder Papa alles übernehmen. Und die Kinder an uns ausprobieren, dass wir ihre Lernverantwortung wieder übernehmen, und ihnen sagen, was sie zu tun haben. Bis hin zu dem Satz „Zwing mich doch! Das finde ich dann gut!“

Ich rede über Kinder, die selten in ihrem Leben die Chance hatten, sich Zeit für eigene Beobachtungen, eigene Wahrnehmungen zu nehmen. Über Kinder, die zu Hause keine Erwachsenen hatten, wo sie über ihre Gefühle reden konnten, wo sie also kein Gefühlsrepertoire entwickeln durften. Ihnen fehlen Grundlagen für ihr Lernen. All das gibt es. Du könntest also auch negativ begründen, warum das alles nicht geht, was wir tun.

Birte Hoffmann: Und warum funktioniert es trotzdem hier?

Walter Hövel:
Weil du jedes Kind siehst. Weil du nur die einfache Einstellung brauchst, dass wenn du an die Ursache herangekommen bist bei dem Kind, dass du eigentlich schon wieder weißt, wie das anders geht.

Das heißt, wenn du dir jedes einzelne Kind anschaust, und sie nicht fütterst mit Lehrstoff, sondern du beim Aufbau von Lernerpersönlichkeiten hilfst, dann schaust du dir die Stellen an, wo ihr Arbeiten bereits funktioniert, und wo es nicht funktioniert.

Und die Stelle wo es nicht funktioniert ist nicht der Fehler, sondern ist die Beschreibung der nächsten Zone. Also, in dem Augenblick, wo du Probleme erkennst, hast du sie eigentlich schon gelöst. Und dieses Denken vermittelst du auch den Kindern.

 Also z.B., was du eben gesagt hattest, bei deinen Studentinnen, „der kann nicht in der Gruppe lernen, sondern der muss einzeln sitzen“. Ja, das Programm lautet „Wie lerne ich in der Gruppe“. Und zwar nicht wie entwickeln das das Kind, sondern der Kreis entwickelt, wenn das Kind mitmacht. Wir müssen das Kind im Kreis „nur“ davon überzeugen, dass hier ein Ort ist, an dem es sagen kann was es machen und denken will. Es kann sich jede Hilfe aus dem Kreis holen, aus der Gruppe. Und dann findest du den Weg. Und so gehen wir da dran, und deshalb funktioniert das bei uns. Nicht als Kollektivismus, sondern als Chance zur Gemeinschaft auf der Grundlage der eigenen Individualität.

Menschen können transferieren. Wenn Menschen einmal eine Situation gelernt haben, müssen sie vielleicht noch ein oder zweimal wiederholen, aber spätestens dann übertragen sie es auf andere Situationen.

Und da sind wir immer bei Karl Proppers „Leben ist Problemlösen“ Wir freuen uns, wenn wir ein Problem haben. Wir sagen dem Kind: „Ei, super, das wir das Problem sehen, wie sieht die Lösung aus?“ Und dann können sie leben. Daher fand ich auch die Beschreibung schön, die eine Hamburger Professorin gemacht hat. Sie hat unsere Schule als „Lebenswerksschule“ bezeichnet. Wobei ich dann wieder beim Emotionieren wäre. Wenn man Wert da hat, kann das im Grunde genommen nur zu emotionaler Würde führen. Oder zuerst, und „von dort aus lebst du“.

Birte Hoffmann:
Gibt es irgendwelche…ne…ich frage erst mal anders. Wenn ich irgendwelche Kinder fragen würde, was das besondere an dieser Schule ist, wie die halt all das lernen können, was sie hier können. Was würden die mir nennen, was würden sie ergänzen?

Walter Hövel:
Alles! Ja, … ein Kinder, die dir antworten würden, „Ja, ich finde das so schön hier, ich muss die Sachen nicht zu Ende machen!“ Und für diese Kinder ist das möglicherweise total wichtig.

Oder auch genau der Fehler, in dem sie gerade in ihrer Zone drin stecken, und Kinder, die dir viele, viele einzelne Dinge berichten, die für sie hier sehr wichtig sind, die total verschieden sind, bis hin zu  Leonhard und Leon und sonstigen, die dir nachher eine Examensarbeit schreiben, als Begründung, warum diese Schule hier gut ist. Ist alles da. Alles.

Birte Hoffmann:
Was würden die mir hier erzählen, was die Lehrer so tun, damit sie das machen können? Oder auch, was das in der Klasse ausmacht, mit Mitschülern?

Walter Hövel:
Also du bekommst so Standardantworten über gute Lehrer, wie „Ich weiß, dass die Lehrer mich akzeptieren!“, „Ich weiß, dass sie mich ernst nehmen!“, „Die mögen mich!“, „Ich fühle mich angenommen!“. Solche Standardsachen kommen.

Birte Hoffmann: Also, letztendlich beschreiben sie Haltungen.

Walter Hövel:
Ja, Ja! Du findest Kinder, die überhaupt nicht die Lehrpersonen sehen, sondern sich selber sehen, oder ihre Umgebung. Sie würden wenig Aussagen treffen, aber viel mehr Aussagen treffen, wenn du sie über ihr eigenes Verhalten fragst. Bis hin zu Kindern, die die Systemfrage stellen.  Also die Lehrer als die Menschen ansehen, die dafür sorgen, dass es den Kreis gibt, dass es das Kinderparlament gibt. Also die, die Institution vertreten und aufrechterhalten. Du würdest all diese verschiedenen Dinge finden. Wer vielleicht sogar hochspannend, unseren „Professor“ zu interviewen, wenn man Lennart holt und du würdest ihm all diese Fragen stellen. Der würde wahrscheinlich einen runterdozieren. Ja, der kann das.

Birte Hoffmann: Was würden die da erzählen, welche Rolle Mitschüler spielen?

Walter Hövel:
Erika Brinkmann hat sie in Siegen bei einem Demokratiekongress  gefragt, welche Tipps sie an Lehrerausbildung haben, und ich habe da nicht damit gerechnet, dass sie sagen, meldet sich irgendwer von den Kindern und sagt:  „Sagen sie den Lehrerinnen und Lehrern, dass sie altersgemischt arbeiten müssen, weil so wird einem geholfen.“ Du weißt also nie in welcher Sprache sie antworten.

Birte Hoffmann: Haben die Beispiele gebracht, woran die das merken?

Walter Hövel:

Ist da nicht nachgefragt worden, aber können sie.

Birte Hoffmann: Was würden die sagen? Was glaubst du?

Walter Hövel:

„… der und der hat mir gerade das und das erklärt. Die und die machen das mit mir zusammen, damit ich das auch kann.“ So Sachen kommen. Aber wieder Vorsicht! Es gibt genauso die Kinder, die das nicht sagen!

Birthe Hoffmann: Ja klar!

Walter Hövel:

Du kriegst alles geliefert, alles was du haben willst. Oder du bekommst nichts.

Birthe Hoffmann:
Spielen da jetzt die Lehrkräfte auch eine Rolle, dass das dann so statt finden kann, dass die Kinder sich untereinander fragen, oder passiert das einfach?

Walter Hövel:
… „Wenn das Fräulein zu oft darauf drängelt, dass man sich gegenseitig hilft, werden sie sich weniger helfen.“ Wenn der Lehrer das nie sagt, dass man sich helfen kann, werden sie sich auch weniger helfen.

Es ist wieder die Kunst, sie zu lassen, dass sie das Ihre entwickeln können und dürfen. Der Platz sollte da sein. Halte dich raus, aber mache den richtigen Vorschlag in der richtigen Sekunde.

Für mich ist das oft die Situation, ich erklär gerade einem Kind etwas, und ich sehe bei einem anderen, dass es gerade Erklärungen braucht, dann frage ich in den Raum, wer kann dem erklären. … Das lernst du hier als Lehrer.

Wobei da wieder die Begrenzung ist: Du darfst die Kinder nicht als Hilfslehrer instrumentalisieren, dann bist du wieder an der falschen Stelle, sondern das muss der natürliche Prozesse sein, dass die Kinder in die Situation gebracht werden, dass sie am meisten lernen, wenn sie lehren. Und wenn das in dem, Bereich bleibt, dann ist das super.

Birthe Hoffmann:
Gibt es weitere Situationen, wo die Kinder genau in die Situation gebracht werden, dass sie lernen durch lehren?

Walter Hövel: Ja!

Birthe Hoffmann: Kannst du die beschreiben?

Walter Hövel:
Wir machen auf Schulebene richtige Lehrerausbildungen mit Kindern. Wir machen mehrtägige Seminare mit unseren Kindern, wo sie lernen, wie man sich selbst und anderen hilft. Es gibt Spezialgebiete, wie Teamtraining ist, Kommunikationstraining, Pausenspiel, mit dem Computer umgehen, selber komponieren. Es gibt Phasen, wo wir im Kreis der Klasse verabreden, dass wir an Informationsverarbeitung arbeiten.

Birthe Hoffmann: Was heißt das?

Walter Hövel:
Dass sie in Gruppen Aufträge bekommen und uns interessiert nur das Teamergebnis. Also was Teams rausfinden, um ihnen zu zeigen, aufzuzeigen. Uns interessiert jetzt, was der einzelne bringt nur als und noch mehr die Arbeit des Teams. Bis hin zu der Gruppe, wo die Kinder drin sind, die sich mit dem Lernen und Arbeiten in Kooperation schwerer tun, und mit denen machen wir richtiges Teamtraining.

Birthe Hoffmann: Wie sieht das aus?

Walter Hövel:
Klassisches Training. Du bekommst dein Päckchen Tempotaschentücher, dein rohes Ei, ein Stück Kordel, und den Auftrag, etwas zu konstruieren, so dass das Ei von der Brüstung runterfallen kann. Also richtige klassische Teamaufgaben, die sie lösen. Und wenn du den „Egomonstern“, denen, “die überhaupt nicht lernen wollen, mit anderen zu arbeiten“, Teamaufgaben wie Mathe- oder Forschungsaufgaben stellst, dann gehen sie dran. Dann teamen sie plötzlich, was sie oder wir vorher nicht gedacht hatten. Zusammenarbeit ist lernbar!

Birthe Hoffmann: Alles klar, okay. Ist spannend.

Walter Hövel:
Ja, das ist total spannend, weil das im Grunde genommen gegen unser Konzept der Öffnung zu sein scheint. Wir unterstellen im Grunde genommen die Fähigkeit auf der Kooperationsebene arbeiten zu können. Aber wir reflektieren, verstärken, erforschen die Kooperation. Wir glauben, dass Menschen gerade das lernen, was sie können. Bei uns ist noch viel mehr drin. Schließlich nutzen wir nur 15% unserer Hirnmasse.

Birthe Hoffmann:
Naja, aber…eine andere Frage, also die Gegenfrage wäre, ist das wirklich gegen das Konzept wenn du halt vorher erzählst, dass ihr genau schaut, wie lernt jemand, und was braucht er, und es ist dann genau das, was er in diesem Moment braucht.

Walter Hövel:
In dem Moment, wo die Kooperation mit dem individuellen Lernen der Kern der Arbeit ist, kannst du wieder Teamarbeit machen. Aber es gab Zeiten an dieser Schule, wo sich das erst aufbaute, weg vom Unterrichten hin zum eigenen Arbeiten, da wäre es möglicherweise zu früh gewesen, wieder Teamtraining zu machen. Wer also glaubt, in eine die Inhalte und Form vorgebende Schule einfach Kooperation setzen zu können, dann ist das besten Falls nett gemeint. An Gymnasien haben sie seit 10 Jahren Lernen-lernen-Mappen, die die Kinder durcharbeiten müssen. Herrlich daneben!

Birthe Hoffmann: Okay…? Naja, wem´s hilft, welchem Lehrer es hilft…!

Walter Hövel:
Ja, ja. Besser als vorher. Selbst das hat schon Leuten geholfen. Die haben dann begriffen, wie Mindmappen und Heftführung geht, als sie die Mappen durchgearbeitet haben...

Birthe Hoffmann:
Es würde mich jetzt noch interessieren, ob es irgendwelche inneren Strukturen in dir, in den Lehrkräften, in dieser Schule gibt’s, die also ein Außenstehender nicht  sehen kann und kennt, die aber dennoch maßgeblich sind, zu wissen, und zu kapieren, warum es funktioniert, oder wie, also nicht warum sondern wie es hier funktioniert.

Walter Hövel:
Jetzt rede ich einfach. Weil mir das als erstes einfällt. Während du fragtest war das erste Stichwort in mir Vertrauen.

Birthe Hoffmann: Hm. Kannst du´s ausführen?

Walter Hövel:
Ja. In der Übergangszeit, in den ersten 2, 3 Jahren unserer Schule, als wir nur ganz „stinknormale“ Lehrer und Lehrerinnen aus  „stinknormalen“ Systemen hier zusammen kamen, haben wir als erstes gelernt, die Kinder ernst zu nehmen und uns von Eltern nicht nervös machen zu lassen, wenn sie sagten, „Die Parallelklasse ist aber im Mathebuch auf S. 43!“. Wir haben die Antwort gelernt „Gute Kollegin! Die kann das!“

Öffnen der Klassen, die Eltern reinlassen, jederzeit reinlassen, die Karten so offen lassen, wie es nur irgendwie geht. Durch dieses schwierige Zeit durchkommen, wo man das aushalten muss, dass einem ständig jemand über die Schulter kuckt, und dann an die Stelle rankommen, „Ich kann akzeptieren, dass meine Kollegin anders ist als ich.

Und sie ist nämlich anders kompetent. Und wenn ich die Kompetenz meiner Kollegin brauche, kann ich ja mal ausprobieren, ob ich die kriege.“ Und diese Erfahrung war meist positiv. Wenn du einen Menschen bittest, dir ein Stück seiner Kompetenzen abzugeben, fühlt er sich gebauchpinselt, angenommen, eine vollkommen normale Reaktion: „Ja klar helfe ich dir!“

Birte Hoffmann:
Jetzt hast du gesagt, dass es schwierig ist, da hin zu kommen, wie hast du es geschafft?

Walter Hövel:
Indem ich meine Leute immer wieder aufgefordert habe, nicht zu unterrichten. Und ihnen immer wieder signalisiert habe, dass ich keinerlei Interesse an einem Matheunterricht habe, sondern die Kinder sollen Mathe lernen, und keinen Matheunterricht haben. Und wenn sie dann angegriffen wurden von Eltern, aus der Gemeinde, dass sie mitbekommen haben, dass ich bedingungslos auf ihrer Seite stand. Bedingungslos! Und einige, übrigens wenige Eltern habe ich toben lassen, gehen lassen, sonst irgendwas. Wir alle haben nicht aufgehört ihnen das für sie Neue ständig vorzumachen: „Das ist richtig!“, möchte ich – übrigens mit ihren Kindern – entscheiden.

Birte Hoffmann:
Meine Frage zielte ein Stück weit auch noch auf noch was anderes, und zwar weil du gesagt hast, es war auch für dich ganz schwierig, irgendwie dahin zu kommen, zu erkennen, also den Kollegen als jemanden anzuerkennen, der etwas tolleres, anders macht, weil er hat die Kompetenz. Wie hast du es geschafft? Du persönlich, da hinzukommen, also das annehmen zu können, irgendwann? Welchen Weg bist du da gegangen?

Walter Hövel:
Mir fällt da so eine spätere Station vor der Grundschule Harmonie ein, als ich irgendwann von der Hauptschule und Gesamtschule, herüber in die Grundschule wechselte. Ich kam in die fatale Situation, dass ich stockkonservative uralte Fräuleins als Kolleginnen da hatte, die einfach das Handwerk besser konnten als ich.

Ich hatte von Tuten und Blasen im Grundschulunterricht keine Ahnung, vielleicht von Pädagogik, - und ich konnte zig Dinge sehen, die sie einfach konnten. Ich musste mir ihr Können abholen. Ich hätte das mit der Grundschule sonst nicht gekonnt, weil in der Ausbildung habe ich das nicht gelernt.

Das heißt also, wahrscheinlich ist es der eigene innere Lernzwang, den ich habe, dass ich etwas lernen will.

Das zweite ist, ich kann mich an die eigene Schule ab der 5. Klasse erinnern als Zwangsanstalt, die nichts anders mit mir getan hat als mir erfolgreich einzubläuen, dass ich doof bin. Und mein Vergnügungen war da, was ich jetzt auch jetzt noch gerne tue, wenn ich denke, wenn ich rede, kucke ich zum Fenster heraus. Das habe ich als Schüler den ganzen Tag getan. Diesen Blick. Wenn ich in einem Raum sitze, kucke ich zum Fenster raus, weil das habe ich über 10 Jahre meines Lebens getan. Und ich habe mir Gedanken gemacht, mit mir selbst gesprochen, weil Schule so öde und langweilig war.

Ich beschloss Lehrer zu werden, aber niemals Lehrer, wie ich sie kennenlernte.

Ich versuche, so mit meinen Leuten umzugehen. Ich kommentiere es auch ironisch, wenn sie Lehrer spielen. Da müssen sie dann durch, das wissen die auch. Dann haben die mit mir ihr Leid. Wenn jemand das Fräulein spielt oder es versucht, sage ich: „Lass es. Du bist viel zu gut. Du hast andere Kompetenzen.“

Und diese Kompetenzensache habe ich mir nicht aus der heutigen pädagogischen Diskussion geholt. Die pädagogische Sichtweise kommt von Elise und Célestine Freinet. Die künstlerische von Max Ernst und Augusto Boal. Die psychologische von Viktor Frankl oder Aleksei Leontiev. Vieles habe ich aus der biologischen, philosophischen Ecke. Das ist wirklich Humberto Maturana, Gregory Bateson, Karl Popper oder Heinz von Foerster.

Das ist Entwicklung ökologischer Systeme, wo ich das herhabe, und dass ich da irgendwann angefangen habe, auf Qualitäten von Menschen zu schauen. Und zu sagen, du kannst Menschen keine neuen Qualitäten hineinzwingen, sondern du kannst nur zu sehen, dass Menschen die Qualitäten haben, diese rausholen. Du holst die Menschen zusammen, die du brauchst, um Probleme zu lösen.

Also, dadurch ist mein Projektdenken, mein Kompetenzdenken entstanden. Ich versuche, so mit allen Menschen, ob Erwachsene oder Kinder, so umzugehen. Ich könnte hier genauso argumentieren wie beim Kreis, warum Kreise nicht funktionieren. Ich kann dir eine lange Liste sagen, warum Lehrer die „schrecklichen Menschen sind, die Lernen verhindern“, auf der ganzen Welt, und so „Kleinigkeiten“, was Lehrer alles falsch machen. Es ist leicht beschreibbar.

Birte Hoffmann: Beschreib es!

Walter Hövel:
Mein Sohn Hannes wurde im Alter von 7 Jahren auf einem Freinettreffen gefragt, was ist für dich eigentlich ein Lehrer? Hannes kuckte den an und sagte, „Naja, die Erwachsenen versuchen immer einem was beizubringen!“ Danke! Also alleine, wenn du das Bedürfnis hast, ständig einem was beibringen zu wollen, ist das unerträglich!

Birte Hoffmann: Aber tust du´s nicht trotzdem?

W:

ja klar!

Birte Hoffmann: Aber wo ist dann der Unterschied?

Walter Hövel:
Meine Frau ist meine härteste Kritikerin. Sie sagt immer zu mir „Du hast gut reden. Du lehrst, und lehrst und lehrst, und es ist so, die hören dir auch noch zu! Du darfst das!“

Ich glaube, das ist wieder so dieser Wechsel. Ein innerer… der innere Wertewechsel, der stattfindet, wenn du einmal beschlossen hast, dass die Leute selber lernen dürfen, dann akzeptieren sie auch wieder, wenn du ihnen was erzählst. Das ist wahrscheinlich so. Aber oft genug merke ich immer noch, dass ich jetzt besser schweige.

Birte Hoffmann:
Gibt es noch was, was du mir erzählen kannst in der Hinsicht, du hast beschrieben, wie du handelst, was du tust. Welche Haltung dahinter steckt, ein Stück weit, hinter dem was du tust…Kannst du erzählen, wie du dazu gekommen bist?

Walter Hövel:
Der eine Teil ist der simple Versuch, Schule anders zu machen. Wo ich eben schon mal war.

Ich habe nicht wirklich studiert. Ich habe meistens gar nicht verstanden, was die wollten. Ich habe zwar meine Prüfungen gemacht, aber das hat mich…ich habe das alles nicht verstanden, was man da in der Pädagogik erzählt hat. Ich habe da gesessen und gedacht „Blödsinn, was erzählen die da?“

Bis auf so ein paar positive Dinge da. Ich habe später herausgefunden, dass das fast immer Reformpädagogen waren, die da was von Schule erzählt haben, wie das funktioniert. Da fand ich so ein bisschen Gefallen dran. Naja, so ähnlich könnte das sein.

Beeindruckt hat mich die Psycholinguistik, der Umgang mit Sprache, den uns Professor Theo Lewandowski vermittelte.

Als Student hatte ich eine sehr demokratische Grundhaltung entwickelt. Mir war ganz wichtig geworden, dass eine Schule von der Würde jedes Menschen ausgeht. Akzeptanz von Menschen wurde zu meiner Grundlage gemacht. Das habe ich aus dieser Zeit mitgenommen.

Dann bin ich in Schule gekommen, und habe Schule wieder kennengelernt als ein System, dass sich in ein soziales Konzept hineinzwingt, und die ersten, die sie zwingen, sind die Schüler.

Ich kam an eine Hauptschule, da machten dich Schüler und Lehrer zum Lehrer. Du hast kaum eine Chance, du kannst so cool spielen wie du willst, oder sonst was, sie wollen, dass du der Lehrer bist. Und sie zwingen dich da rein, und spätestens die Kollegen machen das, und spätestens die Struktur einer Schule. 

So habe ich herrliche Anfangsfehler gemacht. Ich bin mal in eine Hauptschulklasse gegangen, die ich übernommen habe und habe die Schüler nach ihren Interessen gefragt. Habe ich nie mehr wieder gemacht. Ist ein Fehler. Ihr Hauptinteresse war Fußballspielen. Die wollten Fußball spielen. Ich musste es zulassen. Ich hab ja den Fehler vorneweg gemacht. Und den Ärger, den ich anschließend im Kollegium hatte, „Wie können sie die Fußball spielen lassen, sie sind in der Schule!“, waren unerträglich.

Das heißt, ich habe angefangen, darüber nachzudenken was brauche ich, um das zu verwirklichen, was ich da im Schädel habe: Kein Lehrer zu sein, und das noch als demokratischer Lehrer.

Wie schaffe ich diese Paradoxie? Wie kriege ich das hin?

Und was mir simpel und einfach den Weg gezeigt hat, ist die Freinetpädagogik. Ohne jeden Abstrich! Also ich habe noch bei Korczak oder bei Makarenko abgeholt, bei Sachen, die ich sehr beeindruckend fand… Aber der Kern der Sache ist Freinetpädagogik, weil dort Techniken des Lernens entwickelt worden sind, die in sich demokratisch sind.

Das heißt, wenn ich mit freien Texten arbeite, die können nur selber geschrieben werden, sonst sind es keine freien Texte. Wenn ich mit Kindern in den Schreibprozess reingehe, lesen und schreiben lernend, dann kann ich ihnen nicht die Sprache neu beibringen. Sie können sie schon.

Das heißt ich gehe entweder den uralten Freinetweg, dass die Kinder mir die Texte erzählen, und ich schreibe sie auf, und sie schreiben sie wieder ab, damit sie wirklich ihnen sind, oder ich gehe den Weg, den die ganze Freinetpädagogik mit Lernern gegangen ist …, und sage: „Hier, ihr könnt das!“, mit der „Methode Naturelle“.

Z.B. Englisch musst du denen nicht beibringen. Die haben den Schädel voll mit Englisch. Ich muss nur einen Weg finden, wie sie selbst in ihrem eigenen Schädel da dran kommen. Das geht in allen Fächern, ob in Sport, Sachunterricht, Mathe oder Kunst,…

Kreis! Selbstorganisation von Arbeit! Dienste übernehmen. Sichtbar machen, was man will, eigene Zeitungen machen, egal wie das geschieht.

Unmengen von Techniken habe ich bei den Freinetleuten gelernt, und kapiert, dass man darüber strukturieren kann, indem die Leute sich selbst strukturieren.

Und daher findest du an dieser Schule alle Freinetelemente wieder. Wir würden es aber niemals „Freinetschule“ nennen. Das ist doch vollkommen unwichtig. All diese Elemente sind da, und wir holen bei anderen Leuten und Schulen ähnliche Dinge sofort ab, von denen wir glauben, dass sie dem Lernen nutzen und entwickeln sie selbst.

 

Birte Hoffmann: Okay, dann danke ich dir recht herzlich.