Ulli Schulte
Es mit dem Lesen ehrlich meinen
Diese Fragen beschäftigten mich schon bald nach den überstandenen Stürmen des 1. Schuljahres. Ich wusste, Spass und Freude am Lesen zu haben, in Büchern stöbern und in ihren Geschichten versinken zu können, ist eine besonders kostbare Fähigkeit, die es behutsam (!!!) zu entwickeln und zu fördern galt.
Es ist wie ein Schlüssel zu all dem Niedergeschriebenen, zu all dem Wissen über unsere Welt und Umwelt, zu den Geschehnissen der Geschichte, zu den Entdeckungen und Erfindungen, zu den eigenen Phantasien, zu Wünschen und Träumen.
Im Laufe der Zeit wurde mir klarer und klarer, warum ich so sensibel an die Frage des Lesens heranging. Es war das mulmige Gefühl, geprägt von den Leseerinnerungen und Leseerfahrungen aus meiner eigenen Schulzeit:
Lesen, genau in dem Moment, in dem es der Lehrer/die Lehrerin von allen gleichzeitig verlangte. Und obwohl man nebeneinander in der Klasse saß, las doch jeder vor sich hin, ohne Austausch über das gerade Erfahrene.
Lesen war unkommunikativ!
- Laut vorlesen, nachdem man wieder und wieder geübt hatte und sich nun auf keinen Fall verhaspeln wollte.
Lesen war verbunden mit Stress!
Wirklich interessante Texte, Geschichten oder Bücher musste man jedoch zu Pause lesen, weil es dazu in der Schule keine Zeit gab.
Lesen war eigentlich Privatsache!
Auch noch zu Hause lesen, um besser in der Rechtschreibung zu werden. Dabei gab es doch sooo viel anderes zu tun. Lesen raubte die Zeit fur die spannenden Streifzüge mit Freunden und Freundinnen!
Natürlich gab es auch zu meiner Schulzeit trotz alledem Kinder, die viel und gerne lasen.
Diese Kinder waren mir ein Rätsel. Das war ja fast schon unheimlich!
Diese Erinnerungen ließen das Lesen im 2. Schuljahr der Bärenklasse zum offensten Lernbereich überhaupt werden. Lesen' gab es als freies Angebot in allen offenen Unterrichtssituationen. Zum Lesen benötigten die Kinder, um Sachinformationen zu unseren Themen herauszubekommen.
Lesen' taten die Kinder, wenn ich Elternbriefe austeilte.......
Aber ich erinnere mich an ganz wenige Situationen, in denen ich (wohl aus dem Lehrerlnnen - Gefühl heraus) Kinder aufforderte, mir vorzulesen.
Und dennoch lasen die Kinder. Sie lasen ihre eigenen Texte und Geschichten. Sie lasen ihre Arbeiten auf der Schulversammlung. Sie lasen in Büchern und Sachbüchern. Bücher wurden zu dem zentralen Arbeitsmittel des Klassengeschehens. Die Kinder setzten sich in kleinen Gruppen zusammen, lasen sich gegenseitig Geschichten und Informationen vor. Und sie taten dies immer häufiger.
Ich beobachtete das natürlich mit Freude. Und dennoch wusste ich nicht, wie ich weiterhin mit
dem Lesen als schulischem Lernbereich umgehen sollte.
Zu Beginn des 3. Schuljahres setzte ich mich mit den Kindern im Klassenrat zusammen und thematisierte das Lesen und die dafür nutzbare Zeit. Die Kinder äußerten deutlich, dass sie eine regelmäßige und längere Zeit zum Lesen gut gebrauchen konnten, um zusammenhängend und mit jeweils den gleichen Lesepartnern eine Geschichte oder ein Buch zu Ende bringen zu können. Ich war erstaunt von dem Überblick der Kinder und der Klarheit dieser Aussage.
Wir richteten also in unserem Plan eine feste Zeit für Lesegruppen ein.
Die erste Lesegruppenstunde begann mit der gemeinsamen Organisation der Gruppen, der Auswahl eines Buches und meinem Abschlusssatz: “Sucht euch ein gemütliches Plätzchen, drinnen oder draußen, an dem ihr in Ruhe lesen könnt.“
Wie selbstverständlich wählten die Kinder ihre Plätze aus: Manche unter schattigen Bäumen für die längere Lektüre, manche in Gesellschaft der Wasserläufer, Kaulquappen, Schwimmkäfer und Libellenlarven, über die sie gerade forschten.
Schon ab der darauffolgenden Lesestunde organisierten die Kinder selber ihre Gruppen und die Verteilung der Bücher. Sebastian und Sophia wollten in der Fortsetzung der vorherigen Lesestunde wieder eine Lesegruppe bilden, doch wollte der Eine ein anderes Buch lesen als der Andere.
Auch sie fanden eine Lösung!
Lesen bei leichter Schaukelbewegung oder Lesen auf dem Balancierbalken. Lesen und Gleichgewicht halten - Konzentration und Körperanspannung! Ausgleich? Intensivierung? Herausforderung? Leistung?
Ich besorgte von unserem Klassenetat einige neue Bücher für die Klassenbibliothek. Aber auch die Schulbibliothek wurde von den Kindern viel genutzt.
Eines Montags, nach einem Wochenende bei meiner Mutter, brachte ich einige alte Bücher aus meiner Kindheit mit. Dies fanden die Kinder besonders spannend. Sofort übernahmen sie diese Idee und schleppten allerlei Bücher von sich selbst, hin und wieder auch alte Bücher ihrer Eltern zu den Lesestunden mit in die Schule.
Mittlerweile gehen einige Kinder auch nachmittags in die Bücherei der Gemeinde, um Lesestoff für die Lesegruppen zu organisieren. Häufig lesen sich die Kinder gegenseitig vor. Ich wandere dann herum (wenn ich nicht gerade fotografiere), setze mich einfach zu den Kindern und höre ihnen beim Vorlesen zu.
Die Kinder stört das überhaupt nicht. Sie lesen, um den Inhalt ihres Buches zu erfahren und haben nicht das Gefühl, mir vorlesen zu müssen. Aber sie suchen sich hierzu ihre eigenen Platze. So waren weitere Lieblingsplätze der Kinder (vor allem auch im Winter oder bei schlechtem Wetter):
■ die Leseecke im Klassenraum
■ die Treppe zum Dachboden
■ die Empore im Forum
■ die Ecke hinter dem Weihnachtsbaum
■ eine Deckenhöhle im Raum der Übermittagsbetreuung
■ der Platz unter der Krankenliege im Lehrerzimmer
■ das Schulleiterzimmer
Ich staunte nicht schlecht, als ich eines Tages zwei Kinder beobachtete, von denen der eine draußen auf einer kleinen Treppe saß und der andere an dem Treppengeländer hing und seinem Partner eine Fußballgeschichte vorlas (siehe Foto auf der Rückseite).
Einige Kinder benötigen einen Platz, an dem sie trotz Konzentration auf das Buch noch alles mitbekommen. Manche verkriechen sich in die Tunnelrohre, um abgeschieden und ungestört lesen zu können.
Es kommt vor, dass ein Kind zu der Zeit der Lesegruppen gerade noch eine andere, eigene Arbeit fortführen mochte, die ihm im Moment sehr wichtig ist.
Hier ist der Punkt, den ich an den Kindern in den letzten Jahren besonders zu schätzen gelernt
habe: Sie lesen, weil sie lesen wollen. Sie lesen, weil es sie interessiert. Sie lesen, weil es ihnen ein
Anliegen ist. Und gibt es mal eine Situation, in der das Lesen für sie nicht diese Zwecke erfüllt,
weil eine andere Sache Priorität hat, so lesen sie nicht.
Natürlich wissen sie auch, dass Lesen zu den schulischen Anforderungen gehört und das eine gewisse Leseleistung von ihnen verlangt wird. Dennoch wagen sie in diesen Situationen ab, inwieweit das Lesen und ihre momentanen Bedürfnisse stimmig sind.
Dies birgt für mich eine weitere, viel tiefere Leistung: Sie meinen es mit dem Lesen ehrlich!
Draußen zu lesen macht mehr Spass, als in der Klasse
Und der Andere kann gleichzeitig turnen.
So macht das Lesen viel mehr Spass.
Manchmal setzten wir uns auch auf die Fensterbank,
aber das ist nicht so lustig.
Wenn es regnet lesen wir lieber drinnen, sonst wird das
Buch nass.
Wir lesen das Buch "Wir werden Meister".
Das ist sehr spannend.
Einmal wäre ich fast runter gefallen.
Aber es ist noch einmal gut gegangen.
Wir lesen fast immer montags
in der vierten Stunde an diesem Platz.
Manchmal wird es ein bisschen laut,
aber das stört nicht
Freier Text von Matthias Fuchs
(Und auch wieder hier fehlen ganz viele Fotos)