Walter Hövel
„Du musst deinen Kindern vorlesen“
Es gibt Sprüche, die halten wir für wahr. Zum Beispiel den: „Du musst deinen Kindern vorlesen“.
Jetzt bin ich mit meinen fast 71 Jahren ein echter Intellektueller. Ich war 35 Jahre Lehrer, fast 20 Jahre Schulleiter. Ich bin seit fast 30 Jahren Dozent an Unis. Ich lese Bücher, Fachbücher, Zeitungen, Websites. Ich rede viel mit jungen und alten, weiblichen und männlichen, ausländischen und inländischen Menschen. Ich esse gerne, koche, mache Politik, male, singe und schreibe viel auf meiner Homepage, in Zeitschriften und Büchern.
Eigentlich musste mir viel vorgelesen worden sein. Aber meine Eltern taten das nicht. Sie gingen arbeiten und schauten abends sehr müde fern. Der eine war ohne Schulabschluss, die andere mit einem achtjährigen Volksschulabschluss völkisch bedient worden. Als Kind las mir keiner vor. Ich hatte jedes Jahr ein Meckibuch und das Bambibuch. Ich las die Texte nicht, sondern schaute mir immer wieder die Bilder an. Lesen lernte ich auch erst Ende des zweiten Schuljahres. Bis zu meinem 14. Lebensjahr las ich nie ein Buch, nur Lektüren, zu denen mich mangels Filme das Gymnasium damals noch zwang. Ob mich Vorlesen anders gemacht hätte?
Ich begann Science-Fiction-Romane von Lem oder Le Guin, pädagogische Bücher von Makarenko oder die Schäfergeschichten von Freinet, politische Pamphlete von Apitz und Engels zu lesen. Ich verstand Marx und zu lesende „Sachbücher“ nicht. Ich mochte viele deren Protagonisten nicht.
Lieber hörte ich Menschen ( selbst im Ausland) zu und lernte, was sie sagten. Ich begann „meine“ Welt mit 14 bis 23 zu verstehen. Lieber las ich fortan freie Texte von Kindern und Jugendlichen, oder schrieb zunehmend selbst. Erst allmählich las ich Rowling, Shakespeare, Colfer, Sachtexte, Boal, Renz-Polster, Examensarbeiten und hörte immer mehr Vorträge von Kindern und Studies.
Ich wurde gebildeter, begann zu lesen. Aber niemand las mir je vor, dann auch nicht meine Kinder, Freunde oder Ehegattinnen, niemand außer Hörbücher bei langen Fahrten. Für mich gilt nicht, dass über das Vorlesen oder Lesen Bildung geschah. Falsche Theoretiker mag ich immer noch nicht.
Wenn ich heute darüber nachdenke, begegnete ich auch sonst vielen gebildeten Menschen, denen nie oder wenig vorgelesen wurde.
Auch den eigenen Kindern sang ich Lieder vor und erzählte Geschichten. In der Schule las ich aus Momo oder Harry Potter vor. Regelmäßig in jeder Schulwoche lasen wir über 30 Jahre lang in der Dichterlesung die selbst geschriebenen Freien Texte vor. Es gab „meine“ Schule voller erreichbarer Bücher und wir hörten ständig die Erwachsenen- und Kinderpräsentationen eigener Themen.
Heute weiß ich, dass es nicht das Vorlesen als solches ist. Es ist die Tatsache, dass Menschen, ja ganze Systeme, sich Zeit für andere Menschen nehmen und sie ernst nehmen. Ich weiß, dass einige viel lesen, andere viele Filme sehen, andere anderen zuhören, malen, musizieren, einfach wahrnehmen oder scheinbar nichts tun, aber immer selber lernen. Wir lernen von Menschen, die uns interessieren, die uns imponieren. Älter werdend lerne ich mehr und mehr von authentischen Menschen, klugen Ideen und in demokratischer Umgebung.
Ich lese, was mir gefällt! Ich lese nicht, was mich nicht interessiert oder was ich für falsch halte.Es sei denn, ich will es wissen. Also mein Wille und Gusto waren es, nicht das „Vorlesen“.
Ist die Reduktion auf „Vorlesen“ eine erfolgreiche Kampagne der (Schul)buchindustrie, die ihre Verkaufszahlen erhöht? Sie beweist und zementiert „nur“, dass Mittel- und Oberschichtler bessere Bildungschancen haben müssen, da ihre Klientel Bildungsnäher begabt, also „belesen“*1ist?
Lernen wir selbst. Lernen wir selbst zu verstehen und die Welt zum freien Leben zu gestalten.
1In vielen Kreuzworträtseln gilt „belesen“ als gleichbedeutend mit „begabt“.