Walter Hövel
Eine ganz kleine Geschichte der Handschrift
Ich hörte 2018, dass in Grundschulen nur noch Druckbuchstaben geschrieben werden. Die verbundene Schrift steht nicht mehr im „Lehrplan“.
In einer Radiosendung regten sich eine Gymnasiallehrerin, eine Reporterin, eine Therapeutin, ein Lehramtsstudent und ein Verleger darüber auf, dass Kinder und Jugendliche heute keine Handschrift mehr lernen. Sie brachten viele Argumente, die alle wichtig sein mögen, oder nicht. Nur eines ließen sie weg. Die Geschichte und die Zukunft.
Meine Vorfahren konnten vor wenigen hundert Jahren noch nicht Lesen und Schreiben. Dieses Recht erkämpften sich die unteren Klassen und untere Mittelschichtler in Arbeiterbildungsvereinen, Sonntagsschulen und mit der allgemeinen Schulpflicht. Lange durften in einigen Gegenden nur die wählen, die nachweislich des Lesens und Schreibens mächtig waren. Im Mittelalter konnten bei uns nur die Mönche, Nonnen und Priester schreiben und – die „Heilige Schrift“ lesen.
Dies wird heute gerne der lateinischen Sprache untergeschoben, aber meine Vorfahren konnten auch kein Deutsch lesen, geschweige denn selber schreiben. Das blieb den Privilegierten den Kirchen und somit den Adligen, die aber oft genug auch Analphabeten blieben, vorbehalten.
Bis dann vor 500 Jahren die Buchdrucker Buchstabe für Buchstabe die Heilige Schrift auf Deutsch setzten und diese verbreiteten. Jetzt wurde das Erlernen des Lesens und Schreibens, weil diese Bücher in der Sprache geschrieben war, die jede*r sprechen konnte. Zudem wurde es ein Mittel der Schaffung einer nationalen Identität.
Und so blieb es bis heute mit jedem Buch. Es ist in Blockschrift geschrieben. Die wenigen Handschriftexemplare fanden nie einen Absatz. Und so ist es heute auch mit den Computern und anderen Medien, sie schreiben alles in Blockschriften!
Wenn heute keine Handschrift mehr als „verbundene Schrift“ gelehrt wird, geht es offengrundig weniger darum nicht mehr zu lesen und zu schreiben. Wichtiger ist, dass jeder seine Mails, die Infos der Apps, Werbung, des Netzes und der anderen Printprodukte lesen kann. Zudem werden Texte heute nicht mehr geschrieben, sondern getippt.
Wenn das Schreiben noch vermittelt werden soll, hatte ich als Lehrer nur wenige Ansagen. Zwei seien genannt: „Liebesbriefe sollten mit der Hand geschrieben werden. Das kommt besser an“, und „Solltest du subversiv arbeiten wollen, musst du Botschaften mit der Hand schreiben, damit Netz und Staat sie nicht kontrollieren können“.
Aber es steht eine viel wichtigere Frage im Vordergrund. Verlernt das Gros der Menschen wieder das Lesen und Schreiben? Schon gibt es Hörbücher, die nicht mehr gelesen werden müssen. Schon kannst du einen Text in ein Gerät sprechen und die Maschine lässt das Gesagte in Textform erscheinen. Diese Entwicklungen werden ganz sicher weiter gehen.
Und die Menschen? Werden sie noch die Notwendigkeit sehen und haben, selber zu lesen und zu schreiben? Wenn das doch Maschinen können? Wird da nicht (wieder) eine neue Kaste ausreichen, die diese „Kunst“ des Lesen und Schreibens beherrscht?
Brauchen wir Lesen und Schreiben zur Aufrechterhaltung von Menschenrechten, für die Bildung Aller und für den menschlichen Fortschritt in Gleichberechtigung und Freiheit?
Brauchen wir Lesen und Schreiben im Mittelpunkt der schulischen Kulturtechniken?