Walter Hövel
Michael will aber kein „Vorleser“ werden

 

Heute vor einigen Jahren setzte ich mich mit Michael von den Zauberdrachen[1] hin. Er ist im zweiten Jahr in der Grundschule. Seine Eltern wollen ihn in die Nachhilfe schicken. „Er kann noch nicht richtig lesen“, sagen sie und ihr Motto ist: "Lieber jetzt reparieren als später".

Von der Klassenlehrerin weiß ich, dass die Eltern von Michael zuhause mit ihm Schreiben und Lesen üben. Sie  wollen auf „Nummer sicher“ gehen.

Sie nennen es wie andere Eltern „Hausaufgaben“. Gehören sie zu denen, die der Schule und dem eigenen Kind nicht vertrauen? Solche Eltern haben oft das Gefühl ihre Kinder nicht mehr zu verstehen. Greift hier das, was Johannes Beck einmal die „überorganisierten Lernprozesse“ als „staatliche und wissenschaftlich verklärte Misstrauenserklärung gegenüber der nachfolgenden Generation“[2]nannte?

 

An der Grundschule Harmonie bringen sich die Kinder durch eigenes Schreiben das Lesen als Folge des Schreibens selbst bei[3]. Wir üben kein Vorlesen. Erika Altenburg verglich das Üben des lauten Vorlesens fremder Texte einmal mit dem  „Vorbellen“. Bei uns entscheiden die Kinder beim Vorstellen eigener Texte in der wöchentlichen Dichterlesung wann und wie sie ihre Texte selbst vortragen. Für die Entwicklung der Schreib- und Lesefähigkeit bieten die Lehrpläne des Landes Nordrhein-Westfalen korrekterweise bis zu zwei Jahren, in dieser um ein Jahr verlängerbaren Schuleingangsphase, sogar drei Jahre Lernzeit an.


Der Eigenantrieb Lesen zu wollen, ist in der Regel bei den Kindern so groß, dass sie trotz Schule, also auch bei verschulten Fibel- oder Buchstabentagestrategien, das Lesen selber erlernen. Einige Kinder haben sich das Lesen schon vor der Schule in Kindergarten oder Zuhause selbst beigebracht.

Wir wissen heute, auch wenn es staatliche Programme für das „Deutsch“lernen im Kindergarten gibt, dass es keine Rolle hierbei spielt, welche Sprache du als Kind zuerst gelernt hast. Wichtig ist „nur“, dass du mindestens eine Sprache auf einem möglichst hohen Niveau möglichst komplex sprechen lerntest. Die eine „richtig“ gelernte Sprache ermöglicht gerade Kindern den Transfer in eine zweite Sprache, vor allem beim Prozess des Lesen- und Schreibenlernens.

 

Deutliches Beispiel für diesen von Kindern erfolgreich geleisteten Transfer können wir bei Kindern aus deutschsprachigen Familien in den Ländern Österreich, Luxemburg und der Schweiz oder Regionen Deutschlands mit tief verankerten Dialekten[4] beobachten. Die Kinder haben entweder ihren „Dialekt“ und die „Hoch“sprache gleichzeitig oder nur eine Sprache gelernt, der meist sehr weit weg ist von der schriftdeutschen „Hochsprache“. Sie erlernen Lesen und Schreiben im „Hochdeutschen“ mit nicht mehr oder weniger Problemen als scheinbar „hochdeutsch“ aufgewachsene Kinder[5].

Die generellen Probleme einer sichtbaren Abstufung der gerade in der Sprachbeherrschung entstehenden schulischen Erfolge erscheinen nach meinen mehr als 30jährigen schulischen Erfahrungen wie oft behauptet durch die soziale Herkunft bedingt, andere durch „erzieherische“ Probleme.

Die deutsche Schule scheint mir in der Tat auf die bürgerlichen Mittelschichten ausgerichtet, so dass „gut (auch sprachlich) erzogene oder sozialisierte Mädchen“ aus den Mittel-schichtenfamilien bessere Schulerfolge, auch das problemlosere Leselernen vorweisen können. Kinder der so genannten „Unter“schichten sind beim Lernen einer verschrifteten „Hoch“sprache benachteiligt.

Im Gegensatz zum Erfolg konsequent bilingual erzogener Kinder, scheint die „beidseitige Halbsprachigkeit“ in „Unterschichtenfamilien“, die aus anderen Sprachgebieten kommen, das Problem der Nichtbeherrschung einer Grundsprache zu verschärfen. Vermutlich beschreibt die Theorie des „restringierten Codes“ das seit vielen Jahren für deutschsprachige „Unterschichtenkinder“.

Ein neueres Phänomen sind die Kinder, oft „Jungs“ aus „normalen“ Familien. Sie beherrschen ihre Sprache mündlich meist recht ausgeprägt bis hin zu einer ausgesprochen auffälligen Beredtheit. In der Schule können/wollen sie das Lesen und Schreiben nicht oder nur sehr schwer, oder später lernen.

Wenn herkömmliche körperliche oder andere gesundheitliche Gründe ausgeschlossen sind, kommen seit einigen Jahren Begriffe wie „Minicelebrale Dysfunktionen“, „Lese-Rechtschreibschwäche“, „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom“, Asberger Autis-mus, „sozial-emotionale Auffälligkeiten“, „Lernbehinderung“, oder „netter“ „Hochbe-gabung“, „Teilbegabung“ oder „Inselbegabung“ oder „Hypersensibilität“ auf.

Die „Schuld“ für sprachliche Probleme wurde zunächst dem „Fernseher“ gegeben, dann den Computern, Handys, Spielkonsolen,  Internet Games und sozialen Netzwerken.

Der Markt boomt gerne mit diesen Problemen, wie die Probleme mit dem Markt boomen. Mir scheint dies eher ein politisch-psychologisches System einer Medienkonsumgesellschaft zu sein, in der die Kommunikation zwischen den Menschen, vor allem zwischen Kindern und Erwachsenen, störbar wird. Es müssen neue Wege und Erfahrungen gefunden werden.

 

Es gibt Eltern, die Lernprozesse voller Ungeduld beschleunigen wollen. Sie lassen ihre Kinder zuhause fremde Texte so abschreiben und vorlesen wie sie es in ihrer Kindheit in Schule selbst erfahren haben. Aber es ist wie der Kinderarzt Largo sagt: „Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Noch weitreichender ist es, dass solche Übungen die Entwicklung des Lesens und Schreibens behindern, ja sogar verhindern können[6].

War es so mit Michael geschehen? Wenn ja, sahen die Eltern nur: „Unser Sohn kann nicht lesen“ und wussten nun: „Er muss repariert werden“.

Eine voraussehbare Strategiefolge so verstandener elterlicher Fürsorge ist es oft, die „Hausaufgaben zu verschärfen. In Folge wird ein „Nachhilfe“lehrer angedroht, dann besorgt.

Mit jährlich Milliarden von ausgegebenen Euro bezahlen deutsche Eltern was sie selbst oder Schulen im Lernen der Kinder mit veralteten Bildungs- und Erziehungsmethoden - oft unbewusst - anstellen. Eine weitere „Lösung“ ist die Kinder zunächst die Klasse wechseln zu lassen, dann die Schule. Die Eltern lassen Kinder, damit sie selbst in der Haltung unverändert handlungsaktiv bleiben können, zu „bewährten Unterrichtsformen zurückkehren“.

Wenn wir als Schule bemerken, dass unsere Lernberatung bei den Eltern nicht ankam, versuchen wir mit dem Kind ein „Selbst-Reparatur-Programm“ zu entwickeln. Möglicherweise wird das Kind dieses parallel zum weiter durchgeführten elterlichen Lern- und Arbeitsstrategie für sich selbst einsetzen können.

 

Ich habe mich an diesem Tag mit Michael hingesetzt. Er liest sofort vor, er liest für mich vor! Er versucht nicht "selbst", also für sich zu lesen.

Er liest sehr langsam und bleibt dann hängen, bei "n" in "ging", weil er nicht das "g" hinter dem „n“ sieht. Ich habe mit ihm Wörter wie „bang-bäng-scheng-schung-kling-klong“ und „schlingen“ und „Spangen“  gesucht und geübt.

Dann bleibt er beim Vorlesen bei einem Wort wie "gar" hängen und sieht nicht das "nicht" dahinter. Ich forderte ihn auf weiter zu lesen und es kam "Ach so: "gar nicht"! Klar!".

 

Dann habe ich versucht herauszubekommen, ob er das Gelesene versteht. – Mit dem Leseverständnis hat er keine Probleme. Er erfasst alles!

Aber, so sagt er, ihn interessiere Lesen nicht mehr. Versteht er Lesen als Vorlesen, zum Vorlesen konditioniert? Ich mit ihm darüber gesprochen, dass er nicht vorlesen sollte, sondern lesen, weil er das ja kann. Ich versuche ihm den Unterschied erfahrbar zu machen.

Aber er weiß eben nicht, was Lesen ist. Weil er zum Vorlesen erzogen wurde - und dabei ist er langsam und stockt -  zögert er verunsichert, um nichts falsch zu machen.

Wie sollte ich ihm also erklären, dass er Texte für sich lesen darf, um sie zu verstehen und sie nicht vorlesen muss?

Im Forum hängt die große Europakarte, allerdings in Englisch. Da bin ich mit ihm hin und habe ihm erklärt: "Was da steht ist auf Englisch und klingt oft so ähnlich wie im Deutschen, ist also „falsch“ geschrieben. Du guckst dir das englische Wort an und sagst mir wie das auf Deutsch heißt." So machte er aus „France“ Frankreich, aus „Spain“ Spanien, aus „Belgium“ Belgien und aus „Italy“ Italien, ohne das die Wörter dort stünden oder von ihm geschrieben werden. So konnte ich ihm erklären, wie Lesen geht: "in ein Wort `reinsehen und wissen was es heißt!" Er strahlte schon ein bisschen.

Dann habe ich ein englisches I-Spy-Buch geholt, und die Bücher kannte er! Und die findet er super! Hier haben wir Wörter rausgeholt wie hand, helmet, hotel oder andere dem Deutschen ähnliche Wörter, uns die Bilder angeschaut und richtig Freude gehabt.

 

Da die Geschichte einige Jahre her ist, kennen wir den Ausgang. Er blieb an unserer Schule, in seiner Klasse, in einer Atmosphäre der Würdigung der eigenen Texte, ohne Zwang zum Vorlesen. Er wuchs (auf) im Erleben der wöchentlichen, kooperativen Dichterlesung der Klassengemeinschaft. Er erfuhr durch die Klassenlehrerin und seine Lernumgebung die nötige Wertschätzung für die Entwicklung seiner eigenen Individualität. Er lernte seinen eigenen Willen zu prägen und seine Zeit selbst zu gestalten.

Vielleicht trug auch die Trennung der Eltern einen Teil zur Lösung des Problems bei, wobei beide Elternteile das Vertrauen in die Schule und die Klassenlehrerin beibehielten.

 

Heute ist Michael ein erfolgreicher Schüler der gymnasialen Mittelstufe. Er begann schon in der Grundschule geist- und ideenreiche Geschichten im Kreis der Klasse vorzulesen, ohne den Drang zu entwickeln, ein großer Schriftsteller werden zu müssen.

 

 



[1] Namen geändert

[2] Johannes Beck zitiert nach J.Hering/W.Hövel, Immer noch der Zeit voraus, Bremen 1999

[3] Walter Hövel. Lesen durch Schreiben“ und „Natürliches Lernen“. Eitorf 2011. Download:  http://www.grundschule-harmonie.de/artikel-pdf/Artikel_2_pdf/Lesen%20durch%20Schreiben.pdf

[4] Ich kann der wissenschaftlich vertretenen These des „Dialekts“ nicht folgen. Meine eigene rheinische Sprache kennt viele grammatikalische und semantische Eigenheiten, die es in der deutschen Hochsprache nicht gibt. Ich finde diese in anderen Sprachen wieder. Ich behaupte als Kind bilingual aufgewachsen zu sein. Rheinisch und hochdeutsch sind noch heute zwei getrennte und absolut eigenständige Sprachen in meinem Gehirn und in meinem sozialen Handeln.

[5] Sie haben aber viel klarer, dass nicht geschrieben wie gesprochen wird. In Österreich sagt man z.B., dass  „nach der Schrift“ gesprochen wird, wenn Hochdeutsch geredet wird.

[6] Wir wissen nicht wie viele Kinder zuhause einem konventionellen Schreib-Lese-Unterricht ohne sichtbare Folgen unterzogen wurden. Uns fallen  nur die „Problemfälle“ auf, die dann allerdings in einem hohen Prozentsatz beschriebenen  „zusätzlichen Hausaufgaben“ unterzogen wurden.