Walter Hövel

 

Sinn-Vor-Schrift in eigener Les-Art

 

Vor der - in der - nach der Schule - schreiben

 

 

 

Immer mehr Kinder beginnen das Schreiben vor ihrer „Einschulung“. Schreiben beginnt bei Kindern früher als in früheren Zeiten. Wir haben mit der Zeit, auch die Bedeutung des Schreibens verändert?

 

 

 

Heute geht es nicht zuerst um das Schreiben(-, Rechnen-, Lesen-Können). Eher wird ökonomisch, politisch und kulturell der Spracherwerb betont. Die „richtige Sprache“ wird verpflichtend gemacht. Erst(mals) müssen alle Menschen in unserem Land zuerst Deutsch, später alle Englisch können.

 

Es wird nicht die Nutzung des Reichtums einer Sprach- und Sprachenvielfalt, nicht der Erhalt und die Pflege von Familiensprachen, Minderheitensprachen, Begegnungssprachen oder Dialekten zum Ziel der Bildung des öffentlichen Denkens erklärt. Es geht zuerst um das „Deutschkönnen“, also um eine „Integration auf deutsch in Deutsch“.

 

Schule ist heute immer noch so gemacht, dass du ohne die „Beherrschung“ der Schriftspra-chentechniken und ihrer Orthografie in der Schule nicht gut bist. Ohne sie bist du ohne Bil-dung ohne Ausbildung bald arbeitslos. Also musst du möglichst schnell, möglichst kreativ, möglichst richtig, möglichst viel schreiben können, um möglichst erfolgreich durch die Schule zu kommen. Das wissen Eltern. Und Wissen wird gerne an die nächste Generation, also „unsere“ Schul- und Vorschulkinder weitergegeben. Was ein Aspekt des Lernens ist.

 

Die Lehrpläne der Schulen aber geben korrekterweise dem mündlichen Sprachgebrauch die Priorität, weil hier wissenschaftlich, nicht politisch gedacht wurde. Dagegen wiederum bewertet und selektiert „gewöhnliche Schule“.  Weil das schriftlich leichter messbar, ist, werden Lehrpläne nicht verstanden, sondern politisch umgesetzt. Die heimlichen Lehrpläne des gegliederten, teutschen Schulwesens, fundamentieren über die Bevorzugung des Schriftsprachlichen (nicht über das Schreiben!) soziale Ungleichheit und Menschenrechts-verletzung! Klassenarbeiten, Tests, Klausuren - mündlich, vorgetragen, gesungen, gemalt, vorgespielt, - alleine das vorzuschlagen, würden einen in Lehrerkreisen lächerlich machen.

 

Die Überbetonung des Schreibens gegenüber dem mündlichen Sprachgebrauch erreicht auch engagierte pädagogisch denkende Pädagogen. Sie entscheiden sich mit dem Freien Ausdruck für das Freie Schreiben, mit Dichterlesung und selbst gemachten lyrischen Büchlein, Schul- und Klassenzeitungen oder digitalen Pages. Doch mit dem Zeitgeist treibend, überbetonen sie das Schreiben und vernachlässigen das freie Erzählen, das Berichten, Fabulieren, das Rollenspielen, das freie und gebundene Spiel mit Sprache und Ausdruck.

 

Eltern können das Geschriebene sehen, mit dem Gesehenen Schule eher „kontrollieren“. Die „Neuerung“ des freien Schreibens wird leichter verstanden, und somit auch die Lehrperson. Schule übernimmt gegen die eigene Verschulung immer mehr das „Freie Schreiben“, weil es Schule so verändert, wie es die gesellschaftlichen Bedingungen verlangen. So verstehen heute viele Lehrkräfte „freies Schreiben“ als jede Form des Schreiben außerhalb der vorgegebenen Aufsatzform und nicht als Inhalt, als „eigenen Text des Lebens“, als „text libre“.

 

 „Vielleicht kannst du schon deinen Namen zu deinem Bild schreiben“, frage ich immer bei der Schulanmeldung, ein Jahr vor der Einschulung. Fast alle können es. Etwa der Hälfte der Kinder hat es die Mama beigebracht, weil das „Alle“, also „auch die Anderen“ im Kindergarten oder Zuhause üben, oder, weil sie wissen, dass das bei der Einschulung „gut aussieht“. Einige dieser Kinder haben die Initiative von Mama oder Papa oder das Beispiel älterer Geschwister als Anregung, als Chance verstanden und sich bereits einen Teil der Welt der Buchstaben und ihres Verständnisses zunehmend selbst erschlossen. Andere haben es sich direkt selbst beigebracht.

 

Dabei ist das Schreiben mit der Hand im außerschulischen „wirklichen“ Leben doch eigentlich out. Schrift wird fast immer getippt. Das Schreiben mit der Hand reduziert sich auf kurze Notizen, Liebesbriefe und (in Zukunft vielleicht auf das digital nicht zu erfassende) Schreiben privater oder gar geheimer Botschaften.

 

Vielleicht ist dieses Schreibenkönnenwollen der jungen Kinder das notwendige individuelle Nachvollziehen und „Erlernen“ einer gesamtmenschlichen Entwicklung der letzten paar tausend Jahre Menschheitsgeschichte. Wir haben uns aufgerichtet zum aufrechten Gang. Die Hand ist frei geworden, zum Hand-Werken, zur Hand-Arbeit, um gemeinsam zu arbeiten. Um über die Hand unser menschliches Denken selbst zu formen, gemeinsam denken zu lernen. Um sich gemeinsam zur Hand gehen zu können, Hand in Hand. Um über die Hände Arbeit das Denken, - mit der Notwendigkeit der Kommunikation, des Miteinandersprechens, - das Sprechen, die Sprache und Sprachen zu lernen. Um gemeinsam zu werden. Um unserem Dasein den Sinn zu geben, den wir in jeder Stufe unserer Entwicklung erreicht haben. Und dann beginnt der Mensch vor nicht allzu langer Zeit mit dem Schreiben, mit der Hand. Wir lernen das zu lesen, was wir mit Hand, Denken und Sprechen schaffen…. Und wir müssen noch immer mit der Hand schreiben, um lesen und denken zu können, um ein demokratisches Gemein-Schafts-Wesen zu schaffen und selbst zu werden.

 

Vielleicht lernen wir - ohne Philosophie – aber auch nur das Schreiben für die Schule, nicht fürs Leben, damit wir überprüfbar, benotbar und selektierbar bleiben. So wie Rechtschreiben und Hausaufgaben als soziale Selektionsmechanismen funktionieren. Zehn bis zwölf Jahre vollkommen verschulte (Nicht-)Mathematik - ähnlich wie früher die lateinische Grammatik angeblich das Denken schulen sollte, - wie Heftführung und das Melden zum Toilettengang den Charakter stählen sollten.

 

Und vielleicht erleben Kinder – ohne Schule, oder auch mit Schule (wir „unterrichten“ bei uns  kein Schreiben und Lesen Lernen) – dieses neu-archaische Erlebnis des Erkennens des ersten Buchstabens, des ersten selbst geschriebenen Lauts, des ersten geschriebenen Wortes, des ersten Erfassen des Sinns des mit der eigenen Hand und dem eigenen Verstand geschaffenen schriftlichen Gedankens - intensiver denn je.

 

Aber, wenn wir pragmatisch denken, ist dann Schreiben-Lernen das Wichigste? Ich denke, es geht heute eigentlich um das Lesenlernen. Menschen müssen, um optimal funktionieren, arbeiten und konsumieren. Wir brauchen es, umdenken, entscheiden und lernen zu können. Und, um humane Werte und demokratische Wege zu erkennen, lesen und vermitteln zu können. Bildschirm-, Bücher-, Zeitungs-, Reklame- und Gebrauchsanweisungstexte müssen verstanden werden, und zwar richtig, schnell und selektiert, sofort in Handlung umsetzbar. Zum Kaufen, Lernen, Arbeiten, Kommunizieren und Kooperieren muss man Lesen können.

 

Der historisch pädagogische Verdienst von Jürgen Reichen und anderen Schweizer Kolleginnen war es, zu erkennen, dass Menschen über das selbst gesteuerte Schreiben Lesen lernen können. Entscheidend war, dass sie „Lesen durch Schreiben“ praktizierend als praktizierbar in der heutigen Schule gegen alle Gegnerschaft durchgesetzt haben.

 

Lesen eröffnet den Weg zur heutigen Kenntnis und Erkenntnis der Welt. Dieser Weg geht über das Schreiben, eingebettet in Fühlen, Sprache, Denken, demokratisches Handeln.

 

Wenn heute immer mehr Kinder in die Schule kommen, die bereits Schreiben und Lesen können oder lernen, sollten wir uns nicht über so etwas „Normales“ wundern. Verwundern sollte eher, dass Kinder in der Schule mit Fibel, Buchstabentagen und gleichschrittigen „Lernen“ überhaupt Schreiben und Lesen gelernt haben oder auch heute noch in entsprechenden Grund- und Volksschulen lernen können.

 

Didaktik und Unterricht, Fibeln und Lehrer machten es Kindern schon immer schwer das Lesen und Schreiben zu lernen. Es gibt heute vier Millionen erwachsene Analphabeten und drei Millionen Erwachsene mit niedrigstem Leseverständnis in Deutschland. Das ist fast jeder zehnte Elternteil an jeder deutschen Schule!

 

Bei mir selbst war es so, dass meine Mutter in meinem zweiten Schuljahr entdeckte, dass ich gar nicht lesen konnte. Ich hatte als Kind wohl beschlossen, die Texte der Fibel, die vorgelesen werden mussten, einfach auswendig zu lernen. Ich war nie aufgefallen. Ich konnte abschreiben und vorlesen. Mehr wurde ja nicht verlangt. Ich hatte eine Lösung für mein Problem Schule gefunden.

 

Vielleicht wollte ich nicht mit dieser Lehrerin, oder diesen über 50 Kindern in einem Raum oder dieser Zwangsanstalt Schule lernen. Vielleicht wollte ich es ja nur Zuhause mit der Mama lernen, die nie Zuhause war, weil sie arbeiten ging und mich immer zu „fremden Leuten“ in Kindergärten und zu Tagesmüttern schickte. Vielleicht wollte ich nur erleben, dass sie wenigsten in der Zeit, in der sie mir Lesen „beibrachte“, ich sie - als für mich sinnvoll - erlebte. Vielleicht hatte ich auch einfach nur vollkommen andere Interessen, ich konnte noch bei Tage träumen, in der Nacht im Traum fliegen und mich mit dem „lieben Gott“ unterhalten, mit mir selbst reden und denken, glücklich mit mir selbst sein. Vielleicht war ich einfach auch nur traurig, allein gelassen mit der Entwicklung meiner Gefühle, meiner Gedanken, meiner Sprache und meinem Lernen. Vielleicht wollte ich das alles später lernen, oder vielleicht…, oder es fiel mir leicht, oder…viel zu leicht….

 

Was ist es also was Schreiben und Lesen für viele Kinder so attraktiv macht, dass sie trotz Schule und sogar ohne Schule vor der Schule Schreiben und Lesen lernen?

 

Ich glaube, dass die Erkenntnis, seit über zwanzig Jahren von den USA über die EU bis ins heutige deutsche Gymnasium kommend, das „Sinn entnehmende Lesen“ in den Mittelpunkt eines guten Lernens zu stellen, den eigentlichen Weg weist. Es sollte uns nicht um das Schreiben als formale Fertigkeit oder um das Lesen als formale Kompetenz gehen. Es geht um „Lebe(n) voll Sinn“ im Sinne Viktor Frankls. Schreiben wäre dann in der Umkehrung nichts anderes als den „eigenen Sinn“, die eigene Sinnsuche sichtbar zu machen, durch das Schreiben Sinn zu finden. Lesen, um den „anderen Sinn“ zu erfassen, sich selbst, andere und die Welt im Schreiben zu erfahren. Sich auszudrücken und die Welt und sich selbst im Lesen erfahrbar machen. Sich beeindrucken zu lassen. Die Verantwortung für die eigene Verantwortung im Leben zu übernehmen.

 

Es ist nicht „das Schreiben“ und „das Lesen“, sondern das Bedürfnis von Menschen das auszudrücken und mitzuteilen, was einen selbst oder andere beeindruckt. Es ist ein Mittel zur Konstruktion von Welt, Schaffung von Beziehungen zwischen Leben, Lebendigem und Lebenden, also Lernen. Gesprochene und gehörte, geschriebene und gelesene Sprache ist in der Vielfalt von Sprache und Sprachen Grundkraft und Kraftgrund des Lernens zugleich.

 

Vielleicht beobachten wir mit dem früheren Schreiben und Lesen den früheren Einstieg der Kinder in die Welt des Sinnfindens. Und das Schreiben und Lesen ist ein notwendiger Zugang zu diese verschriftlichten und digitalisierten Kenntnisse und Erkenntnisse. Vielleicht wollen die einen einfach nur mehr für sich selbst wissen und erkennen, die anderen mit den anderen mehr zu tun haben, oder ihre Fragen auf die Fragen zur Welt finden. Vielleicht stolpern viele Kinder auch nur hinein in die immer mehr verbildlichte und verschriftlichte Zweitrealität von Welt. Was vielleicht einfacher ist oder von der Erwachsenenwelt eher angeboten wird als selber hören, sehen, schmecken, riechen, fühlen und denken.

 

Vielleicht ist es ja auch eine Flucht nach vorne, weg von jenen Erwachsenen, die keine Zeit mehr für sich, ihre Beziehungen, die Kinder, die Welt, die Verantwortung oder die Zukunft haben. Vielleicht sind die, die Lesen und Schreiben lernen, die die einen eigenen Weg des Verstehens in diese Richtung finden. Anderen fehlt diese Kraft, bereits zu sehr geschädigt von dem sie umgebenden geistigen und sozialen Milieu, kaputten wertelosen, perspektivlosen oder ehrgeizkranken Eltern, Gewalt-, Sucht-, Ess- oder Psyche-kranken Erwachsenen. Vielleicht schlagen sie auch unbewusst-bewusst nicht diesen Weg ein, wollen andere erproben und wir vergewaltigen sie mit unserem Zwang zum Lesen- und Schreibenlernen, mit unserer Art, den Sinn von Welt finden zu wollen.

 

Fakt ist, dass immer mehr Kinder das Lesen und Schreiben selbst erlernen wollen.

 

Sie bei ihrem Selbst-Lernen zu unterstützen, sollte uns selbst-verständlich sein.

 

Auch, damit sie  nach der Schule noch lesen und schreiben.