Walter Hövel

 „Lesen durch Schreiben“

und

„Natürliches Lernen“  

 

Ein Dankeschön an Jürgen Reichen

 

 

Jürgen Reichen, der 2009 verstarb, verbreitete die unwiderlegbare Einsicht, dass Kinder in der Lage sind, sich das Lesen und Schreiben selbst, - erfolgreicher als es der Unterricht kann, - beizubringen. Eine große Zahl von Pädagogen richtete danach ihre Praxis aus und führte das „Lesen durch Schreiben“ in ihren Klassen und Schulen ein.

 

Jürgen Reichen fiel damit höchst unangenehm auf. Verlage mögen es nicht, wenn ihre bunten Schuleingangsfibeln in Abertausenderauflagen überflüssig werden. Viele Lehrerinnen und Lehrer mögen es nicht, wenn ihre gleichschrittige Unter-Richtungs-Gestaltung nicht mehr kontrolliert und beurteilt, ob das Kind auch richtig nach der „richtigen“ Methode „lernt“. Welch eine Aufregung bei einigen „Wissenschaftlern“ und „Bildungsverantwortlichen“: Lesen und Schreiben müssen nicht im Unterricht didaktisiert beigebracht werden.

 

Sein Wirken, auch über das „Lesen durch Schreiben“ hinaus, und die Freinetpädagogik der deutschsprachigen Europäer begegnen sich seit vielen Jahren. Sie begegnen sich, wo seit noch mehr Jahren um die permanente Erneuerung des Lernbegriffs und die Erweiterung des Wissens darüber gerungen wird. Sie begegnen sich, wo gefragt wird,  wer und was eigentlich lernende Menschen, wo die konkrete Modernisierung der Schule erarbeitet wird. Hier gibt es - wie es  in einem großen Bekanntenkreis ist - vielfältige Verhältnisse, von großer emotionaler und intellektueller Nähe bis hin zu ungeklärten und geklärten Distanzen.  

 

Vor alle in Deutschland, in der deutschsprachigen Schweiz, und in Österreich haben moderne Grundschulen weit über die organisierte Anhängerschaft Jürgen Reichens oder der Freinetpädagogik hinaus das „Lesen durch Schreiben“ seit den 70iger Jahren übernommen.

 

 

Die Einstellung der Freinetpädagogik zum Lernen von Lesen und Schreiben

 

Die Praxis der Freinetpädagogik geht davon aus, dass das Schul-ABC und der dazu gehörige Fibellehrgang Lesen- und Schreibenlernen mehr verhindert als fördert. Der Zwang zum entfremdeten und verfremdeten Schreiben als auch das „Vorbellen von Texten“[1] führen in vielen Fällen zu Lese- und/oder Schreibstörungen. Auch hing die Freinetpädagogik nie der leider heute noch in  der Alltagspraxis umgesetzten Theorie an,  dass Schreiben und Lesenlernen zwei verschiedene Dinge sind, die nur durch „Üben“ und „Systematik“ in einem „gut geplanten“ Unterricht erlernt werden können.

 

Freinet beschrieb seit den 20iger Jahren des letzten Jahrhunderts, dass das Lesen- und Schreibenlernen selbstgesteuerte Prozesse sind, bei denen das Schreiben (in der Regel[2]) vor dem Lesen kommt. Freinet verfasste hierzu einen Aufsatz[3], in dem er den Lesen- und Schreibenlernprozess seiner Tochter schildert. Er ordnet seine Beobachtungen in seine Theorie der „méthode naturelle“ ein und spricht von der „natürlichen Aneignung der geschriebenen Sprache“[4]-

 

Warum passt dieses „Lesen durch Schreiben“ so gut ins Konzept einer „méthode naturelle“ des Lernens? Schon immer haben Freinetlehrerinnen und -lehrer den Kindern keine Fibeln gegeben, sondern mit ihnen eigene Bücher und Schriftwerke hergestellt. Sie haben die Kinder nicht in und durch ABC-Lehrgänge gezwungen, in denen sie ihre Fähigkeit eine Sprache bereits zu beherrschen,  vergessen sollten, um Buchstabe für Buchstabe das Sprechen, jetzt nur schriftlich, neu lernen zu müssen. Sie haben die Kinder nie auf ein Selbstbewusstsein stehlendes Fu-, Ati- oder Elo-Niveau herunter gezwungen.

 

Vielmehr haben sie den Kindern den Raum und die Zeit für ihre eigene  Entwicklung gelassen und verschiedene Angebote als Techniken und Werkzeuge gemacht und.

 

Bei vielen Kindern war und ist die Schuleingangsphase die Zeit für das Zeichnen und Malen, falls ihnen ihr Elternhaus oder der Kindergarten diesen ersten notwendigen Phasen des Lesen- und Schreibenlernens nicht geboten hatten. 

 

Andere wollten gar nicht schreiben, sondern sich mit dem Bauen, Spielen, Experimentieren oder Forschen beschäftigen. Für andere Kinder haben wir als LehrerInnen kleine Sätze und Geschichten, die die Kinder selbst erzählten, aufgeschrieben. Sie haben sie abgeschrieben oder mit der Druckerei gesetzt oder dem Computer getippt.

 

Wir haben ihnen alle Buchstaben auf einmal gegeben, und sie aufgefordert - wie  bei den Erwachsenen gesehen - zu schreiben.

 

 

Die „nachhaltige Übernahme“ von „Lesen durch Schreiben“ in die „méthode naturelle“

 

Wie genial und einfach war es für uns nun, die Lautierungstabelle, das bereits berühmte Buchstabentor des Jürgen Reichen den Kindern zu geben.

 

Dabei hatte Jürgen Reichen etwas wiedererfunden oder gefunden, was es seit einigen hundert Jahren gab. „Bereits im Jahr 1658 fügte Johann Amos Comenius seinem „Orbis sensualium pictus“ eine Anlauttabelle bei. Jedem Buchstabe ist darin das Bild eines Tieres zugeordnet, das den entsprechenden Laut von sich gibt. Dadurch machte er die Tabelle international einsetzbar.“[5] Reichen, ein gründlicher Kenner von Theorie und Praxis, bearbeitete sein Buchstabentor nach den Erfordernissen der heutigen Zeit.

 

Mit Reichens Buchstabentor brauchten wir den Kindern nur noch zu zeigen, dass das gesprochene Wort aus Lauten besteht, für die die Erwachsenen Zeichen schreiben, die sie Buchstaben nennen.

 

Diese Tabelle erlaubt es den Kindern, sofort, ohne jeden Lehrgang, ihr Lernen auch in diesem Bereich selbst in die Hand zu nehmen. Das Buchstabentor ist das Steuer, das wir ihnen anbieten, sie können es selbst in die Hand nehmen und Dank der „méthode naturelle“ des Lernens das „Verschriftlichen“ selbst erarbeiten. Wie bei Freinet beschrieben, aber bei ihm noch nicht als Angebotstechnik entwickelt, lernen die Kinder so das Lesen durch das eigene selbständige Schreiben.

 

Das Sensationelle ist: Sie können alles, was für sie sprachlich verständlich ist, lesen. „Jedes Wort der Welt“ können sie mit dem Buchstabentor verschriftlichen und jetzt, verstehen sie jeden Satz, den sie lesen.  Sie können von einem Moment zum anderen lesen, von einer Sekunde zur anderen geht, wie Maria Montessori einmal sagte, „das Licht an“.

 

Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass wir die Methode Reichens eingebunden in ein eigen verantwortliches Lernen überhaupt gegen den Lernkonservatismus vieler Eltern und Lehrer weiter einsetzen und im Lernen der Schule leben durften. Ein Elternpaar nach dem anderen erlebte, wie ihre Kinder wirklich von einem Tag zum anderen lesen konnten. Und sie erzählten es voller Stolz auf ihr Kind auf Elternabenden, beim Einkaufen und im Kindergarten. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass der Erfolg des „Lesen durch Schreibens“ weitere Veränderungen von Lernen und Arbeiten in der Schule im Sog dieses Erfolgs erst möglich machten.

 

All die methodischen Klimmzüge der didaktisierenden Schule um zum „antrainierten Lehrgangslautvorlesen“  das „sinnerfassende Lesen“ nachzuquälen, entfielen. Die Kinder verstehen nun ganz einfach, was sie lesen. 

 

Jetzt beginnen sie in der Klasse,  bewusst zu schreiben. Wir haben ihnen wortwörtlich, mit der Hilfe Jürgen Reichens, wie wir es ausdrücken, „das Wort gegeben“. Sie beginnen ihren ersten eigenen Text mit ihrem ersten Wort zu schreiben. Eine lückenlose Entwicklung hin zum „echten“ freien Text beginnt[6].

 

Hier ist Jürgen Reichen aus meiner freinetpädagogischen Sicht für unsere Pädagogik eine Bereicherung, hier stimmen wir überein, wie etwa auch bei seinen Ansichten über das Rechtschreiben[7], über die Selbststeuerung des Lernens, über die Funktion der Fehler, über die Erkenntnis, dass in jeder Klasse mindestens ein Kind intelligenter ist als wir selbst, über die Bedeutung der Anpassungsfähigkeit von Kindern für ihr Lernen, über den unsystematischen Umgang der Kinder mit ihrem eigenen Lernen, über das „qualifizierte Nichtstun“ der "Lehrpersonen", oder die Notwendigkeit des Abbaus von Hierarchien in der Entwicklung und Selbstverwirklichung von kleinen und großen Menschen.

 

Viele Fragen bleiben: Wie holt man bei einigen Kindern die Mal- und Zeichenphase als Beginn des Schreib- und Leseprozesses nach? Was können wir von den Kindern lernen, die schon lesen können, ohne jemals geschrieben zu haben? Was ist mit der größer werdenden Zahl von Kindern, die sofort lesen können wollen und sich nicht die Mühe machen mit dem Buchstabentor jeden Tag neue Wörter schreiben zu wollen? Sie verweigern das Schreiben, weil sie – vor allem in Alters gemischten Klassen – sehen, dass die anderen ja alle das Lesen und Schreiben gelernt haben. Wie helfen wir den Kindern, die auffallend anders wahrnehmen und lernen als andere Menschen und ganz andere Wege brauchen, um das Schreiben und Lesen zu lernen, bei der Selbstfindung und –bewältigung dieser Wege?

 

Hierzu die Geschichte eines Kindes aus meiner Klasse der „Himmelskinder“: Sascha konnte mit dem Buchstabentor nicht arbeiten. Er hörte seine eigenen Worte, aber er konnte keine Laute erkennen, bzw. sie als Zeichen auf das Papier bringen. Er schrieb nichts und verstand nichts. Er lernte das Schreiben, als er das Hören und Aufschreiben jedes einzelnen Lautes immer wieder trainierte. Dann lernte er in dieser alten, absolut verschulten Lernweise zwei Laute zu verbinden. Dies dauerte Monate, aber „Lesen“ wurde das nicht. Die Versuche mit dem Buchstabentor zu arbeiten - ich  und er versuchten es immer wieder- blieben ohne Erfolg.

Eines Tages, Ende des ersten Schuljahres, stellte ich die  Matheerfindung[8] eines Kindes der Klasse an der Tafel vor, sie lautete: „4-1-18-9-14-11-1“.  Nach einiger Zeit hatten die Kinder heraus gefunden, dass die Zahlen eine Chiffrierung unserer Buchstaben waren, also die 1 für A stand, die 2 für B und so weiter und das Darinka ihren Namen geschrieben hatte.

Dann schrieb ich an die Tafel: „16-21-8-5“, drehte mich herum und fragte: „Was steht da?“  Ohne eine Sekunde Bedenkzeit rief Sascha: „Da steht RUHE“. Und seit diesem Tag konnte Sascha sinnerfassend lesen. 

 

Meine Theorie zu diesem Vorgang ist hier nicht relevant. Relevant allerdings ist eine fundamentale freinetische Überzeugung: So wichtig und notwendig alle  neuesten und noch immer gültigen  erkenntnistheoretischen, biologischen, psychologischen, politischen oder sonstwie wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das Wesen der Kinder für unsere tägliche Praxis sind, um so wichtiger ist es nicht zu vergessen, dass jedes Individuum anders lernt[9].

 

Ich bin überzeugt davon, dass jene didaktisierten Methoden, wenn sie für alle, gleichschrittig und gleichzeitig angewandt werden, mehr Unheil anrichten, als dass sie lehrreich wären.

 

Auch ein „Lesen durch Schreiben“  darf nicht die einzig mögliche Methode werden. Sie ist - und hier bin ich gerne ganz „Freinetiker“, ein Angebot aus der großen Zahl der Angebote für Kinder.

 

„Lesen durch Schreiben“ ist vielleicht ein von mir favorisiertes, weil demokratisches Angebot des eigen verantwortlichen Lernens. Aber es gibt auch andere Angebote, wie den alten Weg  der Freinetpädagogik, einen eigenen  Text, den ein Erwachsener nach einer Erzählung des Kindes für das Kind aufgeschrieben hat, abzuschreiben. Oder etwa mit Hilfen der Gebärdensprache zu arbeiten. Es gibt sogar „Einzelfälle“, wie bei Sascha, der aus einer Kombination aus Kleinschrittigkeit und genialem Begreifen seinen ureigenen Zugang fand.  Oder da gab es Perla, die „stupide“  abschreiben wollte. Sie setzte es durch und konnte bald zu unserer völligen Überraschung lesen und schreiben und wurde ausgesprochen rechtschreibsicher. Oder es bleibt ganz alleine dem Kind überlassen gar keine Hilfe oder Orientierung einzufordern. Uschi Resch, damals noch Volksschullehrerin in Wien,  wurde einmal gefragt, nach welcher Methode denn ihre Kinder Lesen und Schreiben lernen. Sie antwortete: „Sie haben alle ihre eigenen“.

 

Die Freinetpädagogik war immer  schon eklektizistisch, sie suchte sich immer aus anderen Bereichen aus, was sie brauchen und in ihr demokratisches Lern-System einverleiben konnte.[10] Das macht vielleicht ihre Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit in fast hundert Jahren ihrer Existenz aus. So machte sie sich auch das „Lesen durch Schreiben“ zu Eigen.

 

 

Lernmethoden und Arbeitsformen haben sich den Inhalten der Kinder unterzuordnen

 

Als Freinetpädagoge möchte ich mich davor hüten, einen methodischen Weg zu einer möglichen didaktischen Sackgasse auszubauen. Es ist Sache der Kinder, ihre „Autobahnen“[11] oder Wege im eigenen Gehirn auszubauen.

 

Für mich hat „Lesen durch Schreiben“  wenn wir es als „Arbeitstechnik“ benutzen, noch eine andere zentrale Bedeutung. Schreiben und Lesen sind für mich nicht einfach Fertigkeiten, die mir Zugang zu  Daten, Wissen und Kommunikation ermöglichen oder erleichtern. Lesen und  Schreiben bedeuten für mich freier Ausdruck, Erfahrung, Wahrnehmung, Konstruktion und Sinnfindung von Welt und meiner selbst. Lesen und vor allem Schreiben bedeuten für mich Wahrnehmen durch Schreiben, Sich Ausdrücken durch Schreiben, Verstehen durch Schreiben, Verändern und Erhalten durch Schreiben.

 

Es geht darum, dass in Freinetklassen die Kinder das Schreiben auch noch nach einigen Jahren Schule und nach der Schule lieben. Sie drücken sich selbst und ihre Welt in freien Texten aus. Sie übernehmen das Schreiben als eine Möglichkeit ihres eigenen freien Ausdrucks. Sie lernen, wie Paul le Bohec es einmal sagte, eine Sprache zu beherrschen, die sonst sie beherrschen könnte.

 

Mir sind Klassen begegnet, die „Lesen durch Schreiben“ sehr konsequent praktiziert haben, aber die Kinder schrieben nicht (mehr) gerne. Es mag an den Lehrpersonen gelegen haben, denen es nicht gelang, das freie Schreiben durch echtes Beschlüsse der Kinder zu einer Selbstverständlichkeit des Lernens zu machen, oder an Lehrerinnen und Lehrern, die selber nicht gerne schrieben. Oder es lag an anderen Umständen, wie die gleichzeitige Rechtschreibarbeit nach Stumpenhorst oder die fehlende Begegnung mit bereichernden Schreibtechniken oder der Welt der Literatur.

 

„Lesen durch Schreiben“ nur als Mittel zum Zweck verstanden, kann seelenlos sein. Mir wurde über das jahrelange Beobachten des freien Schreibens von Kindern klar, dass es eben nicht um Lernformen wie „Lesen durch Schreiben“, das „Schreiben freier Texte“ oder die wöchentliche „Dichterlesung“ geht, sondern es geht um die Inhalte der Kinder, ihren Zugang zum Wissen der Welt und um die Haltung der Lehrerinnen und Lehrer, die dieses Ziel im Mittelpunkt der eigenen Handlung sieht. Offenes Lernen, Freier Ausdruck und demokratisches kooperatives Lernen im Sinne der Freinetpädagogik ist die Öffnung für die Inhalte der Kinder, der Welt und des Lebens. Dazu brauche ich eine Haltung, die durchdrungen ist von den Rechten der Menschen und Kinder. Und ich brauche Techniken, Werkzeuge, Methoden und Formen des Lernens als Hilfsmittel, die das eigen verantwortliche Lernen möglich machen. Eingebettet in dieses Verstehen von Lernen wird das Schreiben befreiend und lustvoll bleiben.

 

Schon die ersten geschriebenen Wörter der Kinder sind ihre eigenen Worte. Die ersten Wörter sind  Einwortsätze, jene ersten zusammenhängend geschriebenen Gedanken, sind freie Texte der Kinder. In nur einem Wort, das sie schreiben, kann eine ganze Geschichte stecken, die sie manchmal erzählen. Im Goetheschen Sinne sind sie „genial“. Mit der Zeit schreiben sie ihre Texte immer länger und qualifizierter, aber sie schreiben immer für sich selbst. Es gibt keine Fremdbestimmung, ob es sich um die Beschriftung eines Plakats handelt, eine Geschichte, einen Liebesbrief, das Aufschreiben einer Frage zur Welt[12], einer Nachricht oder einer eigenen Kinderlyrik.

 

 

Die Schule  für die Kinder verändern heißt, dass Lernen von den Kindern verändert wird

 

Wir Freinetpädagoginnen und –pädagogen schöpfen unser Selbstverständnis aus der Tatsache, dass wir aus dem Kreis, dem Klassenrat, der Schulversammlung oder dem Kinderparlament heraus, immer wieder neu mit den Menschen in der Lern- und Lebensgemeinschaft Klasse oder Schule unser ureigenes Lernen organisieren und bestimmen. Unsere Demokratie ist die eines selbstbestimmten freien Lernens in der Kooperation mit anderen sich selbst bestimmenden und befreienden Menschen.

Dies bedarf der ständigen Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Veränderung.

 

So reicht es nicht aus, den freien Ausdruck, demokratisches offenes Lernen einmal eingeführt zu haben. Auch an meiner Schule, der Grundschule Harmonie, habe ich erlebt, dass zunächst eigenverantwortete, selbst bestimmte Inhalte und Arbeiten der Kinder, (zurück) verschulten. Sie verloren ihren „Reiz“, ihren „Sinn“, ihre „Selbst-Verständlichkeit“. Auch das Schreiben freier Texte wurde Alltag, wurde Routine, ohne noch zu wissen, was Kinder und Erwachsene da taten.

 

Das freie, eigene Schreiben, das eigene Lesen und das Zuhören beim Vorlesen der Texte anderer in der Dichterlesung müssen gepflegt, erhalten, ständig erneuert und weiter entwickelt werden - wie alle Beziehungen zwischen Menschen, zur Natur oder zur Welt. Der Klassenrat, das Gespräch der Klasse muss das eigene Handeln und Arbeiten reflektieren und sich immer wieder den eignen Sinn, das eigenen Verantwortenkönnen und die eigene Zuneigung erobern. Wenn der Mensch in seiner eigenen Sprache eingebettet lebt, kann er sie und sich nur selbst kreieren und entwickeln, wenn er sie für sich und die Anderen bewusst benutzt und so seine eigene Welt so konstruiert, wie er sie haben will[13].

 

Schule ist eine vor 200 Jahren erfundene „unnatürliche Veranstaltung“, die sich „natürliches Lernen“ immer wieder zurückerobern muss, wenn sie nicht den eigenen Erhalt, sondern die Lernchance jedes Menschen in den Mittelpunkt stellt. Schule und Lernen können nur von Kindern weiter entwickelt werden. Schulentwicklung gehört in die Hände der Kinder!

 

Aber auch Menschen, deren ureigener Ansatz ein anderer ist, bereichern die Entwicklung von Demokratie und Lernen in der Schule. So gehört Jürgen Reichen zu den Menschen, die aus der Schule derer kommen, die sich Schule und Kind aus einer wissenschaftlichen Sichtweise nähern. Seine Einsichten und Erkenntnisse, die er durch harte, jahrelange Forschungsarbeit, ein  klares waches Auge auf die Wirklichkeit und die Reflexion des Wahrgewonnenen gewann, setzte er in Schule absolut geplant und konsequent um. Er baute auf das Erkennen des eigenen Begreifens, um von dort Schule zu verändern.

 

Deshalb vertragen ihn so viele Psychologen, Didaktiker und „Wissenschaftler“ nicht! Er ist unbequem, weil er mit den Mitteln des eigenen Lagers die falschen Handlungsweisen ihrer Theorien von Schule und Lernen beschreibt. Er schneidet alte Zöpfe ab. Er bietet eine bessere „Didaktik“ an als die vorhandene „Didaktik“.  Er plant nicht den Unterricht, wie es eine falsch verstandene Wissenschaft und Didaktik seit Jahren an Universitäten und in der Lehrerinnenbildung Generationen von Lehrerinnen und Lehrern predigten.  Jürgen Reichen folgt nicht diesem Irrweg, er ist dem „Lernen“ selbst aus seiner Sicht auf der Spur.

 

Wie wenig muss er da manches Mal die (Un)-Art vieler FreinetpädagogInnen vertragen, wenn sie sich in die Praxis hinein stürzen, im Handeln und Leben und Lernen korrigieren, Fehler machen, aber vor allem: Sie planen nicht minuziös, sie planen nur ihre Planung und erweitern ständig das Repertoire ihrer Werkzeuge zum Lernen. Sie sind eben keine Didaktiker, sie sind - wie es Freinet nannte - „Arbeiter“.  Sie arbeiten sich mit den Kindern durch deren, und ihr eigenes Lernen, zwischen tastenden Versuchen der Kinder und Angeboten der Erwachsenen, hindurch.  Hier gibt es Menschen, die ernsthaft überlegen in wie weit die „Willkür“ und die „Beliebigkeit“ des Lernens der Kinder und Menschen nicht eher der Realität des Lernens entsprechen als alles Unterrichten und Schulen. Aber dort kam Jürgen Reichen auch an. Es gibt auch in den Wissenschaften und in der Praxis der Erwachsenen viele Wege des Lernens.

 

 

Lernen selbst steuern und selbst bestimmen

 

Wir machen die Methode „Lesen durch Schreiben“ zu einem Werkzeug unserer Auffassung von der „natürlichen Methode des Lernens“.  Dies hat zwar viel gemein mit seiner Auffassung vom „selbstgesteuertem Lernen“, das Jürgen Reichen immer wieder unterstreicht, aber ist dies identisch mit der „méthode naturelle“?

 

„Selbstgesteuertes Lernen“ ist das, was unser Gehirn automatisch macht. Oder, anders erklärt, es kann gar nicht anders als sich selbst steuern, was wir dann lernen nennen. Die „methode naturelle“ sagt nun, dass wenn wir den Menschen in der Schule den Weg frei geben, so zu lernen wie sie wollen und können, sie eine eigne Methode des Lernens individuell und kooperativ benutzen und lernen. Freinetpädagogoik gibt den Lernern also die Verantwortung für ihr Lernen als Beziehungs-voraussetzung zurück. Aufgabe der Freinetpädagogen ist es Zugänge zu Erfahrungen anderer, zu Werkzeugen des Lernens und Techniken des Arbeitens so anzubieten, dass es dem Lerner überlassen bleibt, sich der Angebote zu bedienen.

 

Jürgen Reichen schien mir aber die Frage nach demokratischem oder offenem Lernen so nie gestellt zu haben. Er plante Lernprozesse durch Werkstätten und Projekteinstiege selbst, zumindest stieß er sie an. Er öffnete von dort aus das Lernen in die Richtung des eigenen Lernens der Kinder, blieb aber bei von ihm bestimmten Lerninhalten und Lernwegen.

 

Reichen will die Wege der Selbststeuerung des Lernens durch eine verbesserte Didaktik unter demokratischen Bedingungen verbessern und Freinet unterstellt, dass der Mensch individuell und kooperativ durch eigen verantwortliches demokratisches Lernen auch seine Selbststeuerung verbessert, also das Lernenlernen lernt.

 

Wo Freinet Techniken zur Unterstützung der Lern-Arbeit der Kinder in einer sich mehr und mehr selbst organisierenden und selbst bestimmenden Schulkooperative anbietet, bietet Reichen ein methodisch strukturiertes Lernfeld an, in dem die Kinder in  wohl durchdachter Schularbeit auf ihre eigene  Art verbessert selbstgesteuert lernen können.

 

Die Theorie der „methode naturelle“, wie sie Freinet entwickelt hat, war für Jürgen Reichen vielleicht sympathisch oder erfolgreich, aber, als wissenschaftlich denkender Menschen, war sie für ihn „unwissenschaftlich“. Er sagte gerne, dass wir zwar „intuitiv“ das Richtige tun, uns aber vorwerfen lassen müssten, dass uns die „Argumente“ fehlen[14].

 

 

Eine Stärke der Reformpädagogik oder das Erkennen des Wertes der Vielfalt

 

Aus einem weiteren Grund also ist unser Verhältnis zu Jürgen Reichen fruchtbar. Er liefert uns, zusätzlich zu seiner Methode, die wir zu einer hervorragenden Arbeitstechnik machten, wissenschaftliche Grundlagen und Erklärungen, die wir heute als Begründungen für unser Tun brauchen können und auch einsetzen.

 

Er bietet uns, wie andere verwandte, uns nahe stehende oder fast identische pädagogische Richtungen[15] und Aktivitäten einen wichtigen Teil der theoretischen Begründung unserer sich ständig modernisierenden Praxis, Beispiele der Praxis, die bereichern und Chancen zur kommunikativen Vernetzung auch über Schule hinaus, die die Rechte der Kinder, also die Menschen stärker machen…

 

 

 

                                                                                                                              … „Nein das kann ich nicht", antwortete Meister Hora,  

                                                                                                                                  „denn was die Menschen mit ihrer Zeit  machen das

                                                                                                                                    müssen sie selbst bestimmen..."[16]



[1] So nannte Erika Altenburg das erzwungene laute Vorlesen in der Schule

[2] der Autor

[3] C. Freinet, La Méthode Naturelle, I. L´ Apprentissage de la Language, Niestlé, Neuchátel, Schweiz 1973; deutsch:   

   Boehncke, Heiner/Humbug, Jürgen, Schreiben kann jeder. Handbuch zur Schreibpraxis für Vorschule, Schule, Universität,

   Hamburg 1980, S. 32-64; vergl. ebenfalls C.Freinet, Pädagogische Werke Teil 2, Schöningh 2000, S.319 ff

[4] Boehnke/Humbug, S.32

[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Anlauttabelle

[6] Vgl. Walter Hövel, Uschi Resch, Was sind heute freie Texte,
   http://www.grundschule-harmonie.de/artikel-pdf/Artikel_4_pdf/FreieTexte%20heute.pdf

[7] Jürgen Reichen,  Rechtschreibung, Funktion und Didaktik, Bad Oldesloe,1997

[8] vergleiche hierzu: Le Bohec, Paul, Verstehen heißt Wiedererfinden. Natürliche Methode und Mathematik, Bremen 1994, und   

  Glänzel-Zlabinger, Angela, Von Kullersystemen, freien Texten und dem Lob des Fehlers. Freinetbewegte  Wege im

  Mathematikunterricht, In: Hering, Jochen / Hövel, Walter, Immer noch der Zeit voraus, Kindheit, Schule und Gesellschaft 

  aus dem Blickwinkel der Freinetpädagogik, Bremen 1996

[9] vergleiche hierzu: C. Freinet, Adler steigen keine Treppen, (in nahezu jeder Schrift der Freinetpädagogik veröffentlicht, z.B.)

    In: Dietrich, Ingrid, Handbuch Freinetpädagogik,  Weinheim und Basel, 1995, S. 7f.

[10] Vgl. hierzu. Hagstedt, Herbert, Freinetpädagogik und Erziehungswissenschaft - ein gestörtes Verhältnis?

[11] Spitzer

[12] Vgl. hierzu: Resch, Uschi/Hövel, Walter, Fragen zur Welt; In: flek Wien, Tastendes Versuchen, Wissenschaftliche   

    Erkenntnis. Ein Dialog zur Aktualität der Freinet-Pädagogik, Wien 1996

[13] Vgl. hierzu: Francisco Varela/ Humberto Maturana: Der Baum der Erkenntnis   Scherz Verlag. 1987.  S.223 ff

[14] Reichen, Rechtschreibung, S.9

[15] Z.B. Steffi und Falko Peschel, die Wildts, Reggio, Sudburies, EUDEC, „Blick über den Zaun“, Comeniuspartner, …

[16] Michael Ende, Momo