Zum 60. Geburtstag Jürgen Reichens:

Jürgen Reichen und die Freinetpädagogik

von Walter Hövel

Jürgen Reichens Wirken und die Freinetpädagogik der deutschsprachigen Europäer begegnen sich seit vielen, vielen Jahren. Sie begegnen sich, wo seit noch mehr Jahren um die permanente Erneuerung des Lernbegriffs, die Erweiterung des Wissens darüber, wer und was eigentlich Kinder sind und die konkrete Modernisierung der Schule gerungen wird. Hier gibt es - wie es  in einem großen Bekanntenkreis ist - vielfältige Verhältnisse, von großer emotionaler und intellektueller Nähe bis hin zu ungeklärten und geklärten Distanzen.  

In Deutschland haben die meisten FreinetpädagogInnen das „Lesen durch Schreiben“ Jürgen Reichens während der letzten 20 Jahre übernommen, in der deutschsprachigen Schweiz viele, und in Österreich einige.[1]

Die Praxis der Freinetpädagogik ging immer davon aus, dass das Schul-ABC und der dazu gehörige Fibellehrgang Lesen- und Schreibenlernen mehr verhindert als fördert. Auch hing die Freinetpädagogik nie der leider in  der Alltagspraxis umgesetzten Theorie der Schuldidaktik an,  dass Schreiben und Lesenlernen zwei verschiedene Dinge sind, die nur durch kleinschrittigstes Andrillen in einem gut geplanten Unterricht erlernt werden können.

Vielmehr war Freinet „Frühreichenianer“. Er beschrieb bereits vor Jahrzehnten, dass das Lesen und Schreibenlernen selbstgesteuerte Prozesse sind, bei denen das Schreiben vor dem Lesen kommt. Freinet verfasste hierzu einen Aufsatz[2], in dem er den Lesen- und Schreibenlernprozess seiner Tochter schildert. Er ordnet seine Beobachtungen in seine Theorie der „Natürlichen Methode“ ein und spricht von der „natürlichen Aneignung der geschriebenen Sprache“ (3).

Warum passt dieses Lesen durch Schreiben so gut ins Konzept einer „Natürlichen Methode“ des Lernens? Schon immer haben Freinetleute den Kindern keine Fibeln gegeben, sondern mit ihnen eigene Bücher und Schriftwerke hergestellt. Sie haben die Kinder nie in und durch ABC-Lehrgänge gezwungen, in denen sie ihre Fähigkeit eine Sprache bereits zu beherrschen,  vergessen sollten, um Buchstabe für Buchstabe das Sprechen, jetzt nur schriftlich, neu lernen zu müssen. Sie haben die Kinder nie auf ein Selbstbewusstsein stehlendes Fu-, Ati- oder Elo-Niveau heruntergezwungen.

Vielmehr haben sie den Kindern immer verschiedene Lernangebote gemacht und ihnen den Raum und die Zeit für ihre eigene  Entwicklung gelassen.

Bei vielen Kindern war und ist dies die Zeit für das Zeichnen und Malen, falls ihnen ihr Elternhaus oder der Kindergarten diese erste notwendige Phase des Lesen- und Schreibenlernens nicht geboten hatten. 

Andere wollten gar nicht schreiben, sondern sich mit dem Bauen, Spielen, Experimentieren oder Erforschen beschäftigen. Für andere Kinder haben wir als LehrerInnen kleine Sätze und Geschichten, die die Kinder selbst erzählten, aufgeschrieben. Sie haben sie abgeschrieben oder mit der Druckerei oder dem Stempelkasten gesetzt oder mit der Schreibmaschine oder dem Computer getippt.

Wir haben ihnen alle Buchstaben auf einmal gegeben, und sie aufgefordert - wie  bei den Erwachsenen gesehen - zu schreiben.

Wie genial und einfach war es für uns nun, die Lautierungstabelle, das bereits berühmte Buchstabentor des Jürgen Reichen den Kindern zu geben. Wir brauchten ihnen nur zu zeigen, dass das gesprochene Wort aus Lauten besteht, für die die Erwachsenen Zeichen schreiben, die sie Buchstaben nennen.

Diese Tabelle erlaubt es den Kindern, sofort, ohne jeden Lehrgang, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen. Die Anlauttabelle ist das Steuer, das wir ihnen anbieten, sie können es selbst in die Hand nehmen und Dank der „Natürlichen Methode“ des Lernens das „Verschriftlichen“ selbst lernen. Wie bei Freinet beschrieben, aber bei ihm noch nicht als Angebotstechnik entwickelt, lernen die Kinder so das Lesen durch das eigene selbständige Schreiben.

Und dann können sie von einem Moment zum anderen lesen, von einer Sekunde zur anderen geht, wie Maria Montessori einmal sagte, „das Licht an“.

Das Sensationelle ist, sie können alles, was für sie sprachlich verständlich ist, lesen. „Jedes Wort der Welt“ können sie mit der Anlauttabelle verschriftlichen und jetzt , verstehen sie jeden Satz, den sie lesen. 

All diese methodischen Klimmzüge der didaktisierenden Schule um zum „antrainierten Lehrgangslautvorlesen“  das „sinnerfassende Lesen“ nachzuquälen, entfallen. Die Kinder verstehen ganz einfach, was sie lesen. 

Und jetzt beginnen sie in der Freinetklasse,  bewusst zu schreiben. Wir haben ihnen wortwörtlich, mit der Hilfe Jürgen Reichens, wie wir es ausdrücken, „das Wort gegeben“. Sie beginnen ihren ersten eigenen Text mit ihrem ersten Wort zu schreiben. Eine lückenlose Entwicklung hin zum „richtigen“ freien Text beginnt.

Hier ist Jürgen Reichen aus meiner freinetpädagogischen Sicht für unsere Pädagogik eine Bereicherung, hier stimmen wir überein, wie etwa auch bei seinen Ansichten über das Rechtschreiben(4), über die Selbststeuerung des Lernens, über die Funktion der Fehler, über die Erkenntnis, dass in jeder Klasse mindestens ein Kind intelligenter ist als wir selbst, über die Bedeutung der Anpassungsfähigkeit von Kindern für ihr Lernen, über den unsystematischen Umgang der Kinder mit ihrem eigenen Lernen, über das qualifizierte Nichtstun der "Lehrpersonen", oder die Notwendigkeit des Abbaus von Hierarchien in der Entwicklung und Selbstverwirklichung von kleinen und großen Menschen.

Aber einige Dinge erwähnt er nicht, was irritiert. Etwa äußert er sich nicht zur Notwendigkeit der Mal- und Zeichnenphase als Beginn des Schreib- und Leseprozesses. Oder er setzt sich scheinbar nicht damit auseinander, dass es Kinder gibt,  die schon lesen können, ohne jemals geschrieben zu haben. Oder  gibt es nicht  Kinder, die „Wahrnehmungsstörungen“(5) haben und ganz andere Wege brauchen, um das Lesen zu lernen.

Hierzu die Geschichte eines Kindes aus meiner Klasse: Sascha konnte mit dem Buchstabentor nicht arbeiten. Er hörte seine eigenen Worte, aber er konnte keine Laute erkennen, bzw. sie als Zeichen auf das Papier bringen. Er schrieb nichts und verstand nichts. Er lernte das Schreiben, als er das Hören und Aufschreiben jedes einzelnen Lautes immer wieder trainierte. Dann lernte er in dieser alten, absolut verschulten Lernweise zwei Laute zu verbinden. Dies dauerte Monate. Die Versuche mit der Anlauttabelle zu arbeiten - ich  und er versuchten es immer wieder- blieben ohne Erfolg.

Eines Tages, Ende des ersten Schuljahres, stellte ich die  Matheerfindung(6)  eines Kindes der Klasse an der Tafel vor, sie lautete: „4-1-18-9-14-11-1“.  Nach einiger Zeit hatten die Kinder heraus gefunden, dass die Zahlen eine Chiffrierung unserer Buchstaben waren, also die 1 für A stand, die 2 für B und so weiter und das Darinka ihren Namen geschrieben hatte.

Dann schrieb ich an die Tafel: „16-21-8-5“, drehte mich herum und fragte: „Was steht da?“  Ohne eine Sekunde Bedenkzeit rief Sascha: „Da steht RUHE“.  Und seit diesem Tag konnte Sascha sinnerfassend lesen. 

Meine Theorie zu diesem Vorgang ist hier nicht relevant. Relevant allerdings ist eine fundamentale freinetische Überzeugung: So wichtig und notwendig alle  neuesten und noch immer gültigen  erkenntnistheoretischen, biologischen, psychologischen, politischen oder sonstwie wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das Wesen der Kinder für unsere tägliche Praxis sind, so wichtig ist es auch niemals zu vergessen, dass jedes Individuum anders lernt, besonders Kinder(7).

Ich spreche hier nicht - damit keine Missverständnisse aufkommen - für die Beliebigkeit von Methoden oder für die Zauderer und Inkonsequenten, die dann doch wieder Buchstabentage feiern, Buchstaben mit Spielchen oder in Statiönchen für alle mit allen Sinnen einführen, die glauben, ihre eigenen Unsicherheiten an den Kindern auslassen zu müssen.

4 Jürgen Reichen,  Rechtschreibung, Funktion und Didaktik, Bad Oldesloe,1997

5 oder besser gesagt:  die auffallend anders wahrnehmen und lernen als andere Menschen

6  vergleiche hierzu: Le Bohec,Paul, Verstehen heißt Wiedererfinden. Natürliche Methode und Mathematik, Bremen 1994, und  Glänzel-Zlabinger, Angela, Von Kullersystemen, freien Texten und dem Lob des Fehlers. Freinetbewegte  Wege im Mathematikunterricht, In: Hering, Jochen / Hövel, Walter, Immer noch der Zeit voraus, Kindheit, Schule und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Freinetpädagogik, Bremen 1996

7 vergleiche hierzu: C.Freinet, Adler steigen keine Treppen, (in nahezu jeder Schrift der Freinetpädagogik veröffentlicht, z.B.) In: Dietrich, Ingrid, Handbuch Freinetpädagogik,  Weinheim und Basel, 1995, S. 7f.

Ich bin überzeugt davon, dass jene didaktisierten Methoden, wenn sie für alle, gleichschrittig und gleichzeitig angewandt werden, mehr Unheil anrichten, als dass sie lehrreich wären.

Auch ein „Lesen durch Schreiben“  darf nicht die einzig mögliche Methode werden. Sie ist - und hier bin ich ganz „Freinetiker“, ein Angebot für Kinder.

Lesen durch Schreiben ist vielleicht ein von mir favorisiertes, aber es gibt auch andere, ob es das alte Angebot  der Freinis ist, einen eigenen  Text abzuschreiben, ob es Hilfen durch Gebärdensprache sind oder im Einzelfall auch das absolut verschulte Methode des „Einbimsens“ wie bei Sascha, oder es ganz alleine dem Kind zu überlassen, das gar keine Hilfe braucht..

Als Freinetpädagoge möchte ich mich davor hüten, einen methodischen Weg zu einer möglichen didaktischen Sackgasse auszubauen.

Für mich hat Lesen durch Schreiben  als „Arbeitstechnik“ noch eine andere ganz zentrale Bedeutung. Schreiben und Lesen sind für mich nicht einfach Fertigkeiten, die mir Zugang zu  Daten, Wissen und Kommunikation ermöglichen oder erleichtern. Schreiben bedeutet für mich freier Ausdruck, Erfahrung, Wahrnehmung, Konstruktion und Sinnfindung von  Welt und meiner selbst. Schreiben bedeutet für mich Wahrnehmen durch Schreiben, Sich Ausdrücken durch Schreiben, Verstehen durch Schreiben, Verändern und Erhalten durch Schreiben.

Oder um es einfach zu sagen: In Freinetklassen lieben die Kinder das Schreiben auch noch nach einigen Jahren Schule. Sie drücken sich selbst und ihre Welt in freien Texten aus.

Mir sind Klassen begegnet, die Lesen durch Schreiben sehr konsequent praktiziert haben, aber die Kinder schreiben nicht gerne. Mir geht es nicht darum, dies der Methode anzuhängen, es mag an den Lehrpersonen oder anderen Umständen gelegen haben. Aber dadurch ist mir klar geworden, warum Freinetpädagogen so gut mit Lesen durch Schreiben arbeiten können.

Schon die ersten geschriebenen Wörter der Kinder sind ihre eigenen Worte. Jene Einwortsätze, die bald folgen, jene ersten zusammenhängend geschriebenen Gedanken, sind freie Texte der Kinder. Mit der Zeit schreiben sie ihre Texte immer länger und qualifizierter, aber sie schreiben immer für sich selbst. Es gibt keine Fremdbestimmung, ob es sich um die Beschriftung eines Plakats handelt, eine Geschichte, einen Liebesbrief, das Aufschreiben einer Frage zur Welt(8), einer Nachricht oder einer eigenen Kinderlyrik.

Lesen durch Schreiben nur als Mittel zum Zweck verstanden, kann seelenlos sein, eingebettet in Freies Schreiben und Freiem Ausdruck wird das Schreiben befreiend und lustvoll bleiben.

Ich habe das Gefühl, dass die Freinetpädagogik zu Jürgen Reichen, zu seinem Lesen durch Schreiben, zum Werkstattunterricht und vielen weiteren seiner erfrischenden und wertvollen Gedanken,  ein einfacheres Verhältnis hat, als Jürgen Reichen zur Freinetpädagogik.

Jürgen Reichen ist für mich ein Mensch, der aus der Schule derer kommt, die sich Schule und

8  vergleiche hierzu: Resch, Uschi/Hövel, Walter, Fragen zur Welt; In: flek Wien, Tastendes Versuchen, Wissenschaftliche Erkenntnis. Ein Dialog zur Aktualität der Freinet-Pädagogik, Wien 1996

Kind aus einer wissenschaftlichen Sichtweise nähern. Für mich ist er Psychologe und Didaktiker, auch wenn er das letzte vielleicht nicht gerne hört, oder wenn ich mich schlichtweg irre. Seine Einsichten und Erkenntnisse,  die er durch harte, jahrelange Forschungsarbeit und(!)  ein  klares waches Auge auf die Wirklichkeit  und die Reflexion auf  das Wahrgewonnene gewinnt , setzt er in Schule absolut geplant und konsequent um. Er weiß im voraus was er tut. Dass er hierbei zu Korrekturen und neuen Einsichten fähig ist, hat etwas damit zu tun, dass er ein Künstler im Umgang mit diesen Techniken und Werkzeugen der Pädagogik und Psychologie ist.

Um ein Bild Bertold Brechts zu gebrauchen, er gehört nicht zu denen, die gute Erfahrungen der Vergangenheit nur wieder nachmalen, so dass seine Bilder wie gute, aber doch graue Schwarzweißfotographien entstehen, sondern er versteht es, mit  bunten Farben Neues, Zukünftiges zu malen.

Deshalb vertragen ihn so viele Psychologen, Didaktiker und „Wissenschaftler“ nicht! Er ist unbequem, weil er mit den Mitteln des eigenen Lagers die falschen Handlungsweisen ihrer Theorien von Schule und Lernen beschreibt. Er schneidet alte Zöpfe ab. Er bietet eine bessere Didaktik an als die vorhandene „Didaktik“.  Er plant nicht den Unterricht, wie es eine falsch verstandene Wissenschaft und Didaktik seit Jahren an Universitäten und in der Lehrerausbildung Generationen von Lehrerinnen und Lehrern predigten.  Jürgen Reichen folgt nicht diesem Irrweg, er ist dem „Lernen“ selbst auf der Spur.

So gelangt er beim Kind an, und muss hier zwangsläufig auf Freinetpädogogen stoßen. Aber er tut es anders als wir. Er beginnt das Lernen selbst zu planen. Er entwickelt so etwas wie eine wirkliche „Lern-Didaktik“.

Wie wenig muss er da manches Mal die (Un)-Art vieler FreinetpädagogInnen vertragen, wenn sie sich in die Praxis hinein stürzen, im Handeln und Leben und Lernen korrigieren, Fehler machen, aber vor allem: Sie planen nicht minuziös, sie planen nur ihre Planung und erweitern ständig das Repertoire ihrer Werkzeuge zum Lernen. Sie sind eben keine Didaktiker, sie sind - wie es Freinet nannte - „Arbeiter“.  Sie arbeiten sich mit den Kindern durch deren und ihr eigenes Lernen, zwischen tastenden Versuchen der Kinder und Angeboten der Erwachsenen, hindurch. 

Wie mag er damit umgehen, dass wir sein „Lesen durch Schreiben“ zu einer weiteren unserer „Arbeitstechniken“ machen, die wir in unser Gesamtsystem einordnen (9)?

Wir machen es zu einem Werkzeug unserer Auffassung von der „natürlichen Methode des Lernens“.  Dies hat zwar viel gemein mit seiner Auffassung vom „selbstgesteuertem Lernen“, aber ist dies identisch mit der „methode naturelle“?

Zudem mag die Theorie der „methode naturelle“, wie sie Freinet entwickelt hat, wissenschaftlich durchdrungen sein, aber für Jürgen Reichen, als wissenschaftlich denkendem Menschen, ist hier die Freinetpädagogik vielleicht sympathisch oder erfolgreich, aber „unwissenschaftlich“. Er sagt gerne, dass wir zwar „intuitiv“ das Richtige tun, uns aber vorwerfen lassen müssen, dass uns die „Argumente“ fehlen (10)

Aus einem weiteren Grund also ist unser Verhältnis zu Jürgen Reichen einfach. Er liefert uns, zusätzlich zu einer hervorragenden Arbeitstechnik, wissenschaftliche Grundlagen und Erklärungen, die wir heute als Begründung für unser Tun brauchen können und auch einsetzen.

So begleitet Jürgen Reichen die Freinetpädagogik seit zwei Jahrzehnten, als wäre er einer der unseren. Sein Name und seine Ansichten sind bei uns immer präsent. In Artikeln und Erfahrungsberichten über die Grundschularbeit wird er zitiert und gewürdigt. Wir  laden ihn immer wieder zu Vorträgen ein, obwohl wir eigentlich so wenig von Vorträgen halten. In unseren Fortbildungen und bei unseren Treffen ist die Auseinandersetzung und Vermittlung von Lesen durch Schreiben ein Standardatelier. In der Eltern- und Kollegiumsarbeit benutzen wir seine Materialien, Zitate und Filme.

Er bietet uns einen wichtigen Teil der theoretischen Begründung unserer alten und unserer sich ständig modernisierenden Praxis (wie dies für andere Bereiche u.a. Werner G.Mayer, Johannes Beck, Humberto  Maturana, Heinz von Foerster, Annelie Keil, Hugo Kückelhaus, die Reggio-Leute,  die Wilds  oder  andere  tun). Er  begründet, was wir tun,  auch wenn er  Schule

9      vergleiche hierzu. Hagstedt, Herbert, Freinetpädagogik und Erziehungswissenschaft - ein gestörtes Verhältnis?

        In: Hering/Hövel, Immer noch der Zeit voraus

10    Reichen, Rechtschreibung, S.9

anders macht. Er ist kein Freinetpädagoge, so wenig, wie die eben genannten.

Jürgen Reichen ist für mich eben ein didaktischer Künstler, keiner der aus der Tradition der Reformpädagogik kommt. Wo Freinetleute Techniken zur Unterstützung der Lern-Arbeit der Kinder in einer sich mehr und mehr selbst organisierenden und selbst bestimmenden Schulkooperative anbieten, bietet er ein methodisch strukturiertes Lernfeld an, in dem die Kinder in  wohl durchdachter Schularbeit auf ihre eigene  Art selbstgesteuert lernen können.

Die Begegnung von Freinet und Reichen ist mir so wichtig, weil er eine Begegnung, eine Verständigung zwischen dem modernen wissenschaftlichen Verständnis von Schule und der modernen Schule Freinets möglich macht. 

So gibt es im Detail scheinbar kleine, aber wichtige Unterschiede zwischen Reichen und uns, die weniger Jürgen Reichen durcheinanderbringt, als wir es gerne tun. Ateliers sind etwas anderes als Werkstätten, Dienste und Klassenrat sind etwas anderes als  das Chefsystem, ein Freier Text etwas anderes als etwas Geschriebenes, der Laut „a“ im Wort „Affe“ hat eine andere Bedeutung als der Laut im Wort  „Armee“, die Natürliche Methode etwas anderes als selbstgesteuertes Lernen.

Es gibt auch scheinbar größere Entfernungen, wenn Jürgen Reichen die Freinetpädagogik wieder einmal als kompensatorische Erziehung einordnet, wenn er ein veraltetes Material als Begleitung für SchülerInnen, und ein rezepthaftes Material für LehrerInnen des ersten

Schuljahres zu Lesen und Schreiben herausgibt, wenn er in seiner eigenen Ausbildung (Sommerkurse, Mentorenausbildung) für mich die Fehler der herrschenden Lehrerausbildung wiederholt und seine eigenen Erkenntnisse (oder die, die er bei den Freinis abschauen könnte) für die lernenden LehrerInnen  nicht übernimmt oder übernehmen will.

Aber vielleicht sieht er auch diese Dinge richtig, vielleicht muss er gar keine „bessere“ Fort- und Ausbildung machen. Vielleicht tut er auch dies mit Absicht und durchdacht... und erfolgreich.

Denn erfolgreich ist er. Sein  Verdienst ist es nicht nur,  etwas gezeigt zu haben,  was schlicht und genial zugleich ist, sondern auch seine Art dies in seinen Vorträgen zu verbreiten. Bei seinen Vorträgen sitzen Lehrer und Lehrerinnen (!) mehrere Stunden, um fasziniert zuzuhören. Jeder seiner Sätze ist durchdacht, seine Inhalte sind wissenschaftlich eruiert und fundiert und - was Freinetpädagogen überzeugt - durch die eigene Praxis und die vieler anderer KollegInnen erfolgreich belegt.  Er weiß wie er spricht, wenn er in Bildern redet und in (Tageslicht)- Bildern die geschriebene Sprache, also die Diktion der Wissenschaft, nachlesbar für die kritischen und den gegenüber Neuerungen oft misstrauischen Zuhörern schwarz auf weiß auf der Leinwand hinter sich anbietet. Er weiß wann er provoziert,  vor welchem Publikum er redet. Er weiß vor allem, auf was er nicht eingeht, welche Fragen er überhört. Er weiß sogar, wann er erzürnt und wann er eine Faust in die Tasche macht.  Er ist ein Redner,

weniger ein Schreiber. Er überzeugt  mit seiner vorhandenen charismatischen und erarbeiteten Gaben auch als rhetorischer Künstler.

Jürgen Reichen überzeugt.



[1] Unsere KollegInnen aus den romanisch sprachigen Ländern lehnen den Ansatz ab.

[2] C.Freinet, La Méthode Naturelle, I. L´ Apprentissage de la Language, Niestlé, Neuchátel, Schweiz 1973; deutsch:  Boehncke, Heiner/Humbug, Jürgen, Schreiben kann jeder. Handbuch zur Schreibpraxis für Vorschule, Schule, Universität, Hamburg 1980, S. 32-64

3 Boehnke/Humbug, S.32