„Unser wahres Analphabetentum ist nicht das Unvermögen, lesen und schreiben zu können, sondern das Unvermögen, wahrhaft schöpferisch tätig zu sein. Das Kind besitzt diese schöpferische Fähigkeit. Das scheinbar analphabetische, scheinbar unwissende Kind ist gar nicht unwissend und kein Analphabet, sondern ein schöpferisch Wissender und wird erst durch unser Erziehungssystem zum wahren Analphabeten, zum schöpferisch Unwissenden degradiert.“

                                                                    Friedensreich Hundertwasser, Die heiligen Puppenspiele, Wien 1998)

 

Die Kunst, das Lernen und die Demokratie

 Walter Hövel

 

Picasso sagte einmal: „Jeder Mensch ist ein Künstler“.

Die Schule nährt diesen Gedanken seit vielen Jahren durch die für alle verpflichtenden Schulfächer Kunst und Musik und die entsprechenden Aspekte in den Lehrplänen Sprache oder Sport bis hin zur Mathematik.

In vielen Schulen und Klassen ist es dann „aber auch schon mit der Kunst am Ende“. Künstlersein wird in der Schule nicht auf den Menschen und seine Entwicklung oder sein Lernen bezogen. Künstlerisches wird als Fach verständigt oder gilt als schmückendes, vielleicht ergänzendes, neuerdings förderndes Beiwerk.

Wenn aber doch alle Menschen Künstlerinnen und Künstler wären, dürfte ihre künstlerische Betätigung nicht auf Nebenfächern, auf Zensur(en) freie Aktionstage des Schuljahres, auf Kreativworkshops freizeitliche Projekte oder kompensatorische Programme beschränkt werden.

Kämen wir nicht zu einer anderen Sicht des Lernens und der Schule, wenn das Künstlersein und Künstlerwerden als Antriebskraft des Lernens in die Mitte einer Bildung gestellt würde, die die Bildung des Menschen in ihre Mitte stellte?

 

Ein ganz anderer Künstler, John Lennon, sagte einmal: „Meine Rolle in der Gesellschaft besteht wie die eines jeden Künstlers oder Poeten darin, das auszuleben, was wir alle fühlen, und nicht etwa darin, den Leuten vorzuschreiben, was sie zu fühlen haben – nicht als Prediger, nicht als Führer, sondern als Spiegelbild von uns allen.“

Wenn also alle Menschen Künstler wären oder werden könnten, müssten sie gerade in der Schule Gelegenheit haben, ihr eigenes Fühlen und Wahrnehmen auszuleben. Sie müssten lernen können sich auszudrücken und so, sich ausdrückend, lernen können.

Und auch dieser Aspekt ist der Bildung nicht unbekannt. So ist es nachzulesen in Richtlinien und Lehrplänen der europäischen Regierungen, in pädagogischen Aufsätzen und in der Beschreibung von Ausbildungsgängen für Lehrerinnen und Lehrer. Hier wird gefordert von der Lebenswirklichkeit der Kinder auszugehen. Ihre Erfahrungen, die Artikulierung ihrer Emotionen, ihr originäres Handeln, das Erproben eigener Lösungsweg in ihrer realen Welt und ihre Sicht der Welt sollen in den Mittelpunkt des Lernens gestellt werden. Die Potentiale der Selbststeuerung des Lernens, die Selbstorganisation von Teams und die Gestaltungskräfte individueller Lernwege sich entwickelnder Persönlichkeiten sind Gegenstand der Beschreibungen staatlicher und wissenschaftlicher Didaktik geworden.

Die Schule soll immer mehr als selbst organisierte und demokratisch bestimmte Einrichtung gestaltet werden. Der Begriff der Demokratie wird dabei mehr und mehr nicht mehr die Geschichte grob vereinfachend als „Volksherrschaft“, sondern schon als Verwirklichung des Menschseins für alle verstanden. Auch die Legitimierung der Demokratie alleine als Entscheidungen einer Mehrheit weicht allmählich über den Schutz von Minderheiten und der Idee einer pluralen Demokratie hin zu einem Bild, in dem das Ideal einer Demokratie als die „Kunst der Menschlichkeit“ angesehen werden könnte. Demokratie selbst wird mehr und mehr zum Gegenstand des Lernens und demokratische Einstellung und Aktivität zur Triebkraft individueller und gesellschaftlicher Lernprozesse.

 

In Jahrzehnten der Praxis erfolgreicher Erzieherinnen und Erzieher und die Erkenntnisse der Wissenschaften ist heute bekannt, dass Kinder nicht nur Gelegenheiten haben müssen, ihren IQ durch Musik zu steigern, durch Bewegung und Motorik die Psyche und Pädagogik in Gang bringen zu können , durch Freisetzung der sprachlichen Potentiale Denken und Bewusstsein zu fördern oder durch Malen und Zeichnen Konzentration und Leistungswillen zu potenzieren.

Vielmehr zeigte die Praxis vieler Reformpädagogen in Europa und vielen Ländern dieser Welt, dass das Lernen selbst ein aktiver, kein passiver, ein künstlerischer, kein mechanischer, ein Vorgang des Lebens und Handelns und nicht des Eintrichterns und Belehrens ist. Wissenschaft bestätigt diese Praxis heute nicht nur in ihrer Theorie, sie fordert auch dazu auf weiter auf neuen Wegen Schule und Bildung zu gestalten.

Die humanistische Pädagogik kennt spätestens seit Comenius einen ganzheitlichen Lernbegriff. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurden solche Theorien weiter entwickelt und in die Praxis und Theorie Deweys, Montessoris, Petersens, Freinets, Korczaks und einiger mehr umgesetzt. Die Erziehung wandelte sich vom Bild der schulischen Domptur hin zum Berufsfeld der Künstler der Bildung. Das Ziel wurde, die Menschen selbst als Lerner zu etablieren, also als Gestalter ihres eigenen Lernens.

Die Freinetpädagogik gilt als eine der Grundsäulen einer neu zu entwickelnden europäischen Pädagogik. Sie kennt das Freie Schreiben anstelle von vorgeschriebenen Aufsatz- und Textformen, den Freien Ausdruck anstelle von vorgeschriebenen Fach-Kursen und abzulernenden Fertigkeiten, das „Natürliche Lernen“ anstelle von zwanghaftem Lehrgangslernen, das tastende Versuchen, das Experimentieren, die Selbstorganisation und die Selbstbestimmung des eigenen Lebens als Lernender in kooperativer Gemeinschaft von Anfang an. Schule wird zum Ort wo gemeinsam Lernen gelebt und selber Leben gelernt wird.

Warum ist aber Schule nicht so?

Es liegt nicht an den Kindern, dass sie so nicht lernen könnten. Wo immer sie solche Lernformen angeboten bekommen, finden sie ihre Form und ihre Inhalte des Lernens. Es liegt nicht an den Eltern, auch wenn einzelne Skepsis und Zurückhaltung üben. Sie werden an konsequenten Schulen und bei konsequenten Lehrerinnen und Lehrern immer von einer erfolgreichen Praxis überzeugt. Es liegt auch nicht „an denen da oben“. Von Düsseldorf, über Helsinki und Bozen bis Lissabon, Klagenfurt, Ljubljana, und Brüssel sind die curricularen Forderungen an Schule in der Regel progressiver als der schulische Alltag.

Es liegt an jenen, die sich als „Führer“ oder „Prediger“ verstehen.

Dies sind dann selbsternannte „Bildungspolitiker“, die in Vorstellungen der 20iger Jahren des letzten Jahrhunderts stecken geblieben sind, die die Privilegien „ihres Standes“ erhalten wollen, bis hin zu den Kolleginnen und Kollegen, die „den Stoff durch bekommen müssen“, oder ständig wissen „Warum das, was sie ja eigentlich wollen, nicht geht, weil ja die Voraussetzungen nicht gegeben sind“

Entweder wollen sie „Führer“ sein, die immer nur das Beste wollen oder die wissen, was für Kinder gut und richtig ist, oder zumindest, welche Antwort auf die von ihnen selbst gestellte Frage richtig und dann vielleicht ein „Gut“ ist. Es sind die, die Lehrer wurden, um Macht auszuüben und sei es nur durch Noten und Regeln.

Oder es sind die „Prediger“. Die einen, immer geschult im neuesten Vokabular der Pädagogik, der Ministerien und im Super-Nanny-Zeitgeist. Es sind die, die es immer besser wissen, wissen, wie es jetzt zu gehen hat und jedem Pädagogen das Gefühl geben wollen, dass ihr bisheriges Tun falsch war. Die anderen Prediger, die zetern und jammern, über die Kinder, die Eltern, die Bedingungen, die neuesten Ansprüche der Vorgesetzten, aber nie über ihre eigene resignierte Einstellung. Es sind die, die verteufeln können, jeden positiven Ansatz, jede Verbesserung. Es sind die, die Angst nicht in Machtausübung übersetzen, sondern in Stillstand. Sie greifen immer wieder zurück und versuchen Schule immer wieder zu einer Kompensationsveranstaltung zu machen Für sie ist Fördern und Fordern dann das Ausmerzen von Fehlern und wieder das Abfüllen mit Bildung, wo zuwenig „drin“ ist.

Sie wollen belehren, führen, predigen. Sie wollen kein Haus des Lernens, der Demokratie und der sich selbst und ihre Entwicklung bestimmenden Menschen. Für sie ist Lernen keine Kunst, sondern eine Machtfrage.

Und die anderen, die dies nicht wollen oder wollten? Wie viele Erwachsene, wie viele Lehrerinnen und Lehrer sind überzeugt keine Künstler zu sein. Wie viele von uns durften als Kinder, als Schülerinnen keine Gefühle ausleben, keine Künstlerinnen und Künstler werden. Wie viele von uns wurden zwangsweise zur Musik, zur Mathematik, zum „Lernen“ „geführt“. Wie vielen wurde „gepredigt“, wie sie zu sein hätten, was sie zu fühlen hätten. „Lebens-Künstler“, die etwas „auslebten“, waren andere. „Normal“sein war angesagt. Und so wurden viele Lehrerinnen und Lehrer. Viele von uns haben nie die Schule verlassen, um dann eine Ausbildung zu durchleben, die die eigene Schulerfahrung klonte. Erst „Predigt“ vom Katheder herab, ohne Erleben, dann darauf trainiert „gute Stunden zu planen und durchzu“führen“. Hier gab es selten den Aufruf zur Kunst, kein Ausleben von Gefühlen, sondern Lehrer, die die Kinder immer perfekter zu den Lehrzielen „führen“.

Hat Picasso nur für jene Kinder Recht, die selbst ihren Lernweg bestimmen können, „zufällig“ auf „begnadete“ Pädagogen, stoßen oder „hoch begabt“ Künstler ihrer Fächer oder des Lernens werden.

Ich gäbe vielen Lehrerinnen und Lehrern wenig Chancen, wenn ich nicht seit über zwei Jahrzehnten in Grund-, Haupt- und Gesamtschulen, in Universitäten und bei Fortbildungen mit Kindern und Erwachsenen erlebt hätte, wie sie selbst Freie Texte schreiben, Theater spielen, forschen, experimentieren, selbst Mathematik entdecken, philosophieren, musizieren, malen, drucken oder mit der „natürlichen Methode“ Sprachen lernen. Nur wenige wagten es nicht, sich  auf ein freies Lernen einzulassen. Viele entdeckten die Künstlerin oder den Künstler in sich selbst wieder.

Es gibt viele unter uns, die sich als Künstler entdeckten oder wieder entdeckten, als Künstler und Poeten des Lernens, des Lebens, des Menschseins. Sie sollten Mut haben Künstler und Poeten des Lehrens zu sein. Nicht als die pädagogischen Führer, nicht als die eloquenteren Prediger. Es reicht, wie John Lennon sagte, wenn sie Spiegelbilder sind.

Kinder brauchen Spiegel, um sich selbst zu sehen, sich gegenseitig zu spiegeln, ihre Welt, ihre Gefühle, die Realität, ihre Wirkung, ihre Kraft, ihr Menschwerden und Menschsein im eigenen Lernen.

Wir sind Künstler der Pädagogik, wenn wir spiegeln, ohne Verzerrungen, Interpretationen, ohne Druck und Besserwisserei, aber so klar wie möglich.

Es ergeben sich wunderbare Einsichten und Sichtweisen, denn die, die sich mit uns spiegeln, die Kinder, sind auch Künstler – und sie spiegeln uns, die Erwachsenen, und die Kinderwelt, die sie selbst schaffen.

Und das ist unsere gesellschaftliche Rolle als Künstler, selbst ausleben, was wir fühlen, nicht führen oder predigen, sondern spiegeln, was Kinder tun, wenn wir sie lernen lassen: „Sie werden wer sie sind durch lernen“

George Bernard Shaw sagte einmal, dass es zwei erfolgreiche Lehrmeister für den Menschen gibt, den Zwang und die Kunst.

Entscheiden Sie sich Herr Kollege, Frau Kollegin, entscheiden Sie sich für die Demokratie!