Walter Hövel
Schach macht nicht matt
…nicht nur das Schachspielen ist wichtig, sondern das, was dabei geschieht

„Die spielen Schach statt Mathe zu lernen! ... An dieser Schule wird gespielt statt gelernt“,  hätten noch vor einigen Jahren Besucher laut gesagt. Heute werden Erfahrungen von Schulen,  die mit leistungsstärkeren und glücklicheren Lernern aufwarten können, eher „als Ausnahme“ oder „Leuchtturm“ dekoriert oder Nachmachbares durch stoisches „Übersehen“ möglicher Veränderungen zwecks Aufrechterhaltung des bekannten Schulverhältnisse ignoriert. Umso mehr sollten auch „kleine“ Veränderungen und Erfolge nicht nur aufgezeigt, sondern und begründet  werden.

In der Grundschule Harmonie findet Schachspielen in den sogenannten Unterrichtszeiten immer statt[1]. Im Morgenkreis beschließen Kinder jeden Tag in jeder Klasse, dass sie heute Schachspielen werden. Es ist seit fast zwei Jahrzehnten , den ganzen Tag, zu allen Zeiten, so „erlaubt“ wie das Schreiben von Texten, Theaterspiel, Lesen, Malen, Bauen, Experimentieren, Mathe machen, zu eigenen Themen forschen oder musizieren.

Es ist, wenn wir Fächer[2] hätten, ein neues Harmonie-Schulfach wie Vorträgehalten, Kochen und Essen, Gesprächeführen, Bücherlesen, Klassenrat, Kinderuniversität, Adam-Riese-Kreis, Kinderparlament, Vorlesung, Sing-In oder Schulversammlung.

Es gibt keine Einführung, Belehrung oder Unterrichtung in Schach. Es wird gespielt!  Die Kinder bringen sich seit Jahren das Schachspielen in den altersgemischten Klassen, im Forum und bei weiteren Gelegenheiten gegenseitig bei. Sie lernen von einander, fordern gerne  Erwachsene in der Schule heraus oder finden Großväter oder sonstige Verwandte und Bekannte, mit denen sie „trainieren“.  Mal kommt ein Vater oder anderer Gast vorbei, der dann gegen zehn Kinder Simultanschach oder auch eine einfache Partie spielt.  Andere Kinder finden wieder andere Wege und spielen Schach z.B. gegen den Computer.

Für uns ist entscheidend, dass, wie auch in anderen Bereichen, wir Erwachsenen und die Schule als Institution dieses Lernen nicht didaktisieren oder verschulen. Unsere etwa zwanzig Schachbretter und die passenden Figuren sind im Forum in einem Schachregal zu finden. Meistens aber bleiben sie auf einem der Tische im Forum oder in den Klassen stehen. Die Kinder bedienen sich ihrer, wenn sie spielen wollen. Schach gehört zum Alltag.

Ein  Höhepunkt des Jahres ist das „Schulschachturnier“. Auf einer der Schulversammlungen macht ein Kind  die Ansage, dass sie oder er mit Freunden wieder ein Schachturnier veranstalten  wolle.  Mal fragen sie eine organisatorische Unterstützung an, mal geht es ganz ohne. Über Zweidrittel aller Mädchen und Jungen nehmen an den ersten Turnierrunden  in ihren Klassen teil. Hier gibt es oft Extraspiele, in denen sich „Neue“ zu diesem Anlass das Schachspielen von „erfahrenen“ Kindern beibringen lassen. Mehrere Kinder jeder Klasse kommen in den zweiten Teil des Turniers, in dem  Kinder verschiedener Klassen im Forum der Schule mit einander spielen. Runde für Runde kommt es bis zum Endspiel von mal zwei, mal drei Kindern. Meistens stehen drei Jungs und ein Mädchen[3] unter den besten Vieren. Unter anderem lernen sie hier auch Turniere zu organisieren.

Nach jahrelangen Beobachtungen können wir sagen:  Schachspielen macht wie Musizieren, Bewegen und Präsentieren  intelligent. Dies finden wir auch durch Erfahrungen anderer Schulen bestätigt.

Die Universität Trier verglich zu vier verschiedenen Zeitpunkten eine Schule mit „verpflichtenden Schachunterricht“ und eine ohne: [4] Sie fanden mehrere Unterschiede. Die Schach-Kinder konnten sich besser konzentrieren, …Ihre Intelligenz stieg messbar an und, …Schach, das ja als anspruchsvoll und elitär gilt, fördert die schwachen Schüler mehr als die starken“.  Desweiteren stellten sie in der Studie fest, dass „die Kinder sich als motivierter und leistungsfähiger einschätzen als die Nicht-Schachspieler“. Aber damit noch nicht genug, sie fanden desweiteren heraus: „Schach fördert nicht nur allgemeine Fähigkeiten wie Konzentration und Intelligenz, sondern auch die Fertigkeiten in zwei konkreten Schulfächern: in Deutsch und Mathematik. Das ist das Ergebnis der so genannten “Vera-Studie”... An dieser Untersuchung nahmen auch die Schachkinder der Grundschule Olewig teil…
über die Hälfte von ihnen gehörte zum höchsten Mathe-Leistungsniveau – etwa doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt von Rheinland-Pfalz. Überraschenderweise waren die schachgeübten Viertklässler im Fach Deutsch sogar noch besser. Die Schüler haben gelernt, genauer hinzuschauen und dadurch erfassen sie Sinn und grammatikalische Zusammenhänge viel besser, ohne dass es gedrillt werden muss.
Schach fördert nicht nur das Denken, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung.“

Die Münchener Schachstiftung  bot in den Schulunterricht integrierte Schachstunden an. So sollten „über das Medium Schach Konzentrationsfähigkeit, problemlösendes Denken und soziale Kompetenz gefördert werden.“ „Schier unglaublich“, schrieb Helmut Pfleger, der Schachexperte des ZEIT-Magazins, „der allgemeine Notendurchschnitt verbesserte sich dadurch in etlichen Klassen um fast eine Note.“[5]

Wird Schach als das Bildungs-Wundermittel (wieder) entdeckt?

Wir behaupten, dass es das eigen verantwortliche und selbstbestimmte Lernen, also auch die Art wie wir u.a. (!) das Schachspielen pflegen, ist, das  „intelligenter“ macht.

Schach ist ein herrliches, und wenn es praktiziert wird, ein offensichtliches Beispiel dafür, dass komplexe mathematische, strategische und soziale Inhalte und Formen nicht gelehrt besser gelernt werden. Die Kinder entscheiden sich selber für das Lernen und Handeln mit dem Spiel Schach, holen sich bei Experten ab, was sie brauchen und genau dann, wenn sie es brauchen, sie entscheiden, wie lange und wie oft sie spielen, über ihre Spielpausen, ihre Mitspielerinnen und Mitspieler, den Ort des Spielens und ihre dazugehörigen Emotionen.  Lehrerinnen und Lehrern möchte man  sagen: „Schaut mal, hier bekommt ihr mit, dass es geht! Und beim Schreiben, beim Lesen und Rechnen geht’s genau so…“  Kinder lernen, wenn sie einen spannenden Gegenstand oder Inhalt gefunden haben, sie helfen sich gegenseitig und wollen erfolgreich sein. Sie sind, auch wenn sie als Sieger eines Schulturniers hervorgehen, sich immer dessen bewusst, dass ihr Lernen ein gemeinsames Produkt ist. Die Kooperation kennt keine Hierarchien wie Alter, Schönheit oder Markenjeans, weil nur der Erfolg des nächsten Spiels zählt.

Es geht nicht darum, das Schachspielen (auch noch verpflichtend mit Abschlusstests und Leistungs-überprüfungen) einzuführen, sondern zu sehen, warum dieses Schachspielen diese Wirkungen hat.

Eine systemische Betrachtung weist schnell darauf hin, dass es all die aufzählbaren Qualitäten sind, die das verbesserte Lernen ausmachen: Es ist „spielerisch“, „freiwillig“ und „lustvoll- und voller Spaß“.  Es ist gleichzeitig selbstlernend und das Lernen von Anderen. Ort und Zeit sind entstresst selbst wählbar. Intelligenz, Konzentrationsfähigkeit, Strategiebewusstsein und vieles mehr entwickeln sich durch eigenes aktives Handeln ohne „Verlust wertvoller Lernzeit“. Der Vorgang ist einerseits durch die klaren Regeln begrenzt und überschaubar, aber durch die Komplexität der Möglichkeiten unbegrenzt und unfassbar, so dass es jedem Individuum und der kooperierenden Gruppen überlassen werden kann, den Grad des „Eintauchens“ und des Lernerfahrens zu bestimmen. Die Leistungsmessung ist offensichtlich, bleibt aber immer im Rahmen der sich entwickelnden Selbsteinschätzung dem aktiven Lerner zur Fortsetzung und Beendigung überlassen. Kooperationspartner suchen und finden sich in „Verabredungen“ gegenseitig. Die vom Kind erfahrene Gesellschaft erkennt den Vorgang als  „Intelligenz bildend“ an. Die Komplexität ist schwer in Lehrgänge fassbar; es ist besser den Lernprozess beim Lernenden im Sinne einer „Methode Naturelle“ angesiedelt zu lassen. Selbstbestimmtes und eigen verantwortetes als Lernen ohne „Drill“ und „Zwang“ ist erfolgreicher, weil das Lernenlernen gelernt wird.

 Das ist auf Mathematik, Sprachen, Geistes- und Naturwissenschaften, Kunst und Musik, auf das gesamte schulische Lernen übertragbar!

 Auch die „andere“ Rolle unserer Erwachsenen wird deutlich. Sie spielen nicht die Lehrerinnen und Lehrer, die das Schachspielen vermitteln müssen. Sie spielen mit. Die einen, um es selber überhaupt zu lernen, die anderen, weil es auch ihnen Spaß macht und auch schon einmal, um etwas zeigen zu können, was sie schon verstanden haben oder was sie können. Kinder lernen gerne bei „Meistern“, die sie sich aussuchen konnten, bis sie sie „Schach matt“ setzen.

Wenn Erwachsene und das System Schule und Bildung es zulassen könnten, den jungen lernenden Menschen auf allen Ebenen, in allen Fächern, mit den Einsichten in die systemischen Qualitäten des Schachspielens zu begegnen, kämen wir der Verwirklichung eines demokratischen Lernens und Lebens ein Stück näher.



[1] Wie ich es auch bei Wolfgang Mützelfeld und Lutz Wendeler in der Freien Schule  PrinzHöfte erlebte

[2] Da wir keine eigene Sporthalle haben, müssen wir zu festen Zeiten zum Sportunterricht fahren und Englisch findet  Fach ähnlich zur gleichen Zeit für alle statt.

[3] Die Zahl der spielenden Mädchen wird von Jahr zu Jahr größer.

[4] Die folgenden Zitate in kursiver Form sind dieser Page entnommen: http://www.schachlehrer.de/

[5] Beide Zitate aus: ZEIT-Magazin Nr. 51, 15.12.2011, S.60