Walter Hövel
Ein päd. Märchen

 

Schule heute ist vergleichbar mit der Struktur einer Maschine, mit der Form der materiellken Produktion. Von oben gibt der Lehrer das Wissen in die Schülerinnen rein. Dieses Wissen wurde vorher sorgfältig von Experten ausgesucht und aufbereitet, programmiert und produktionsgerecht in kleine Einzelteile zerlegt.

 

Unten soll das von den Schülern in der Maschinerie Schule verarbeitete Wissen — möglichst exakt nach Produktionsanweisung — wieder herauskommen.

 

Die Schüler haben wie Maschinenteile zu reagieren: Sie arbeiten im gleichen Rhythmus und in der gleichen Geschwindigkeit: von morgens um acht bis mittags um eins, jeweils in 45-Minuten-Abschnitten, zusammengemixt nach ihrem Alter, lernen zur gleichen Zeit das gleiche, festgelegt unter Fächernamen.

 

Ihre Produkte sollen gleich sein: Tests, Klassenarbeiten, frontale Fragestellungen, Hefte, Diktate, einheitliche Themen bei Aufsätzen... Alle Schüler werden mit der gleichen Software gefüttert: die gleichen Schulbücher für alle, Arbeitsblatter, frontale Arbeitsanweisungen und -informationen, Lemprogramme.

 

Gefragt ist die Verwertbarkeit und Absatzchance der Produkte: Lehrstellen, weiterführende Bil-dungswege, Arbeitslosigkeit. Entsprechend ist auch vorher die Motivierung der Schüler an Lei-stungskriterien orientierte Noten, Zeugnisse, Hausaufgaben, Antworten auf vorformulierte Fragen.

 

Immer wird in Massen produziert:eine bestimmte Mindestklassengröße ist vorgeschrieben, die Größe der gesamten Schule entspricht den Produktionsbedingungen. Wie Werkhallen, die ent-sprechend dem Maschinenpark und den Produktionsabläufen eingerichtet sind, geschieht es auch mit den Schulen: schon an der Fensteraußenfassade erkennst du sowohl Fabriken als auch Schu-len, das Inventar entspricht den Bedingungen der Produktion und nicht den Bedürfnissen der Menschen: Gänge, Wände, Tische, Stühle, Pult...

 

Auch die Rationalisierung greift wie in der Industrie: möglichst wenig Arbeitskräfte (Lehrer, Sozial-arbeiter, Psychologen, Hausmeister, Reinigungskrafte) einsetzen, Mittelkürzungen (Eigenanteile für „lemmittelfreie“ Schulbücher, weniger Haushaltsmittel, Streichung von „Sonder'posten, Me-dien), Sparen bei der Bausubstanz, Schulschließungen …

 

Da gibt es die Reservearmee der arbeitslosen Lehrer, spezielle Handhabung für Ausländer und, und, und... ...wenn es da nicht auch noch verschiedene Maschinenparks mit eigenen Werkhallen gäbe.

 

Jene fur Luxusgüter (die heute allerdings marktbedingt, auch in Massen produziert werden), die für den gehobenen Mittelklasseanspruch (aufmerksame Beobachter vermissen allerdings immer mehr die reale Qualität). Da gibt es auch Produktionsanlagen mit Versuchsmaschinen, die ei-gentlich den Bedingungen der Produktion am ehesten gerecht wurden (wenn da nicht diese Be-griffe wie „gleich“ und „gesamt“ ideologisch so anrüchig wären.

 

Und natürlich gibt es da noch jene etwas veralteten Maschinenmodelle, die diese kurz-lebigen Alltagsartikel produzieren. Jene letzten Maschinen gerieten in Verruf, Restprodukt, unterstes Ni-veau, Qualitatsschwächen, Hinterhof der Nation.“

 

Die einen pochten nun auf die größte Funktionsfähigkeit ihrer Maschine: „Lasst auf unseren Maschinen produzieren. Wir garantieren den neuesten Stand der Technologie! Ausschußware wird 1OOprozentig erkannt und aussortiert! Unser neuestes Angebot wegen zu geringer Auslastung unserer Produktionskapazitaten: gehobene Luxusartikel mit Alltagsstempel!“

 

Die anderen im Bereich der alten Maschinen, gestresst vom Konkurrenzkampf und schwindenden Absätzen, tendierten immer mehr zum lustlosen, resignierenden Produzieren Sie stopften weiter oben rein, wechselten hier und da mal ein verrottetes Maschinenteil aus, und beklagten laut die „mindere Qualitat“ ihrer Produkte.

 

Viele ihrer Betriebsräte und Vertrauensleute verließen immer häufiger den Betrieb und holten sich Beulen und Schrammen, weil sie bei der Betriebsleitung und übergeordneten Stellen nur noch den Einsatz der zweifelsohne besseren Versuchsmaschinen forderten.

 

Aber warum, so die Betriebsleitung sollten z. B. Glühbirnen produziert werden, die eine längere Lebensdauer haben, wenn die kurzlebigen kurzfristig einen besseren Profit versprachen.

 

Zwar wurden Vorschläge und Patente oft gelobt, sie verschwanden aber samt und sonders in den Panzerschranken der Firmen So wurden auch die Versuchsanlagen selbst immer

 

weniger gefordert, in ihren Mitteln gekürzt und das Experimentieren zugunsten der Produktion gestoppt.

 

In dieser Lage begannen nun wieder andere, Blumen auf die alten Maschinen zu stellen, setzten Sessel und Sofas davor, ließen die Generatoren mal langsamer, mal schneller laufen, feilten mit der Hand nochmals ihre Produkte nach, malten sie bunt an und verpackten sie in Weihnachts-papier. Sie erinnerten sich daran, dass es solche Versuche schon früher gegeben hatte und propagierten Namen wie Peter - Produktion oder favorisierten den Namen einer alten Dame.

 

Selbst der Name einer alten Salatfabrik, die seit Jahrzehnten alternativ produzierte, wurde gehandelt Sie alle nannten sich Reformproduzenten. Bei öffentlichen Messen und Ausstellungen bekamen sie immer mehr Applaus.

 

Von Schülern, weil sie zwischen den Oben-rein-stopf-Zeiten auch mal Pause hatten, weil sie auch mal selber stopfen durften, kurz, weil sie einfach weniger an Verstopfungen litten.

 

Auch Eltern bemerkten, das manch lustloses und gelangweiltes Kind das Lied vom „Null-Bock“ seltener vor dem Videogerät sang und sich sogar schon mal „echt breit angetörnt von der Schulbotanik“ fühlte. Auch die Abteilungsleiter und Vorarbeiter kamen nicht umhin, hier und da ein lobendes oder zumindest interessiertes Wort für diese Art der Produktion zu finden. Sogar Betriebsleitungen und übergeordnete Stellen mussten feststellen, dass die Produkte verbessert waren, die Maschinen, wenn auch alt, in Schuss blieben, und — das ganze sie keinen Pfennig gekostet hatte.

 

Da begab es sich, dass sie zusammenkamen: ehemals lustlose Produzenten, angeregt vom Beispiel der Reformproduzenten, Betriebsräte und Vertrauensleute, ja sogar Vorarbeiter und Abteilungsleiter, Reformproduzenten, die im Rahmen der „freien Arbeit“ die Fenster ihrer Werkhallen geputzt hatten und nach draußen schauen konnten, Reform-produzenten, mit amerikanischen und lateinamerikanischen, und sogar einer mit einem russischen Namen und Leute mit einem französischen Namen, die wie Betriebsrate redeten und ähnlich irgendwie wie Reformer arbeiteten. Sie unterhielten sich lange und wurden sich einig, nicht weiter auf Reformen von oben zu warten, sondern unten konkret zu verändern, und nicht weiter unten zu verändern, ohne von oben Veränderungen zu fordern. Sie stellten sich eindeutig auf die Seite ihrer Schüler und wollten nicht nur für sie, sondern auch mit ihnen arbeiten.

 

Immer wieder unterbrachen sie ihre Gespräche, um gemeinsam die Dinge auszuprobieren, die einige von ihnen schon erprobt hatten. Sie entwickelten Mut, Phantasie und neue Kraft.

 

Als aber der Kollege mit dem französisch klingenden Namen erklärte, dass das Grundübel der Produktion die Art und Weise der Produktion selbst sei, stockte vielen der Atem. Sie wollten es kaum wahrhaben, dass auch sie die Schüler wie Maschinen behandelten, dass sie nach den gleichen Gesetzen produzierten, wie die ganze Gesellschaft produzierte.

 

Der eine rief: „aber meine Blume auf der Maschine“, der andere: „aber ich repariere doch regelmäßig!“ und „aber mein Einsatz gegenüber der Betriebsleitung!". „mein Lebensstandard“, und, und und.

 

Da sie bald merkten, dass sie über Reden und Diskutieren nicht weiterkamen, einigten sie sich, einfach zurückzukehren zu ihren Werkhallen und es hier einmal anders zu probieren. Sie kamen zurück, stellten die Maschinen ab, stopften nicht mehr oben rein und versuchten sich mit ihren Schülern darüber zu unterhalten, was und wie sie lernen wollten. Sie verließen hin und wieder sogar die Fabrik, guckten sich die Welt an, um herauszufinden, was sie da lernen und arbeiten konnten.

 

Aber bald hob bei einigen Schülern ein großes Wehklagen an: „Mir ist langweilig, ich will wieder gestopft werden.'“ ,Ich kann das nicht, ich will wieder an die Maschine.'“ „Wir wollen wieder alle das gleiche machen.'“ „Sie müssen mir sagen, was ich tun soll, dafür werden sie doch bezahlt!“ Allerdings begannen auch einige Schüler einfach mit der Arbeit. Sie produzierten Zeitungen und Wandzeitungen, wo zu lesen war, was sie herausgefunden hatten, sie schrieben Gedichte und Texte in ihren eigenen Worten über eigene oder anderer Leute Probleme, sie malten große Bilder und bauten Modelle, sammelten, erzählten, spielten vor, schrieben kleine Theaterstücke, gingen in Bibliotheken und brachten Bücher mit, die noch nie eine Klasse von innen gesehen hatten.

 

Einige begannen sogar, die Maschinen selbst in Betrieb zu nehmen, dachten über Lärmschutz und Abgaswerte nach und benutzten die Maschinen nur, wenn sie ihnen nutzten.

 

Aber bald wurde es zu laut, keiner wollte aufräumen, die Lust ging verloren, weil die, die nichts taten, die, die etwas tun wollten, an der Arbeit hinderten.

 

Da merkten die Lehrer, dass diese Methode — sie wurde „non-direktiv“ genannt — wohl ihre Probleme hatte. Sofort meldeten sich die Kritiker wieder: „So geht’s nicht, die alten Methoden müssen wieder her, ein bisschen Druck und etwas pädagogisches Geschick brauchen die Schü-ler!“ „Es kommt nur auf die Inhalte an.’“ „Erst muss das Schulsystem geändert werden, dann vielleicht...“ oder „Das hat doch alles keinen Zweck, die werden sowieso arbeitslos!“ Einer skandierte sogar das „Geh-doch-nach-drüben“.

 

Da wollten einige Lehrer aufgeben und sie gaben wieder „normale“ Stunden, alle im gleichen Rhythmus, alle das gleiche...

 

Nur jetzt wurde die Situation schlimmer denn je zuvor. Das Gähnen wurde lauter, die Langeweile größer, die Lernunlust deutlicher. Die Schüler, die vorher nach den neuen Methoden nicht arbeiten konnten, taten dies jetzt auch nicht. Die, die begonnen hatten, selbständig zu arbeiten, fühlten sich nun wieder über- oder unterfordert.

 

Da begannen die Schüler über die gemachten Erfahrungen zu reden unf forderten wieder anders arbeiten zu dürfen. Sie setztendie Arbeit nun allerdings anders vor: Sie begannen die Arbeit gemeinsam mit Lehrern und Mitschüler zu planen. Sie erstellten Wochenpläne und sogar Halbjahrespläne, so dass jeder wusste, was er tun wollte.

 

Sie richtenden selbst Arbeitsgruppen mit selbstgesuchten Themen ein, so dass sie sich gegen-seitig Arbeitstechniken und -methoden zeigen konnten. Sie stellten selber Regeln auf, bezüglich der Ordnung in der Klasse, der nötigen Ruhe bei der Arbeit, des Umgangs miteinander. Sie über-legten wie sie ihre Arbeitsergebnisse gestalten konnte, so dass sie auch andere interessieren. Sie zeigten sie sogar anderen Klassen und schickten sie sogar im Austausch an andere Schulen.

 

Sie richteten die wöchentliche Klassenversammlung ein, wo sie immer wieder über den Stand ihrer selbstorganisierten Arbeit sprachen. Sie begannen nach ihren eigenen natürlichen Methoden zu arbeiten, sie ergriffen selbst das Wort.

 

Die Lehrer merkten, dass sie aus ihrer Machtrolle als Lehrer herauskonnten. Sie wurden Partner ihrer Schüler, sie wurden zu wirklichen Helfern Sie lernten auch, weniger zu wissen als ihre Schüler, auch, von ihnen zu lernen. Sie lernten nicht mehr von den „Defiziten“ ihrer Schüler auszugehen, sondern die Stärken der Schüler entwickeln, zu helfen oder auch nur, sie zuzulassen Und sie lernten den Stundenplan zu verändern Sie legten die Stunden so hintereinander, das sie häufiger und länger in der Klasse waren, dass sie auch schon einmal zwei Lehrer in einer Klasse waren, dass Schüler auch schon einmal alleine – und außerhalb der Schule – lernen könnten.

 

Sie lernten „neue“ Fächer zu erfinden, Tanzen, Drucken, Elektronik. Schattenspiel, - oder sie schafften sie einfach ab. Sie nannten sie Kern- und Kursfächer und Freie Arbeit.

 

Sie lernten mehr und mehr, lernten nicht mehr als Anhäufung verschiedener Wissensgebiete zu verstehen, sondern als eine Ganzheit von Leben und Lernen, die den konkreten Menschen und ihren Bedürfnisse und Interessen im Mittelpunkt sieht.

 

Und die Lehrer lernten immer mehr, mit anderen Lehrern zusamenzuarbeiten, um Erfahrungen auszutauschen, selbst neue Methoden und Techniken auszuprobieren Material anzubieten sich gegenseitig Mut zu machen und sich zu helfen. Aber sie erfuhren auch die Grenzen ihrer Arbeit, die überlange Arbeitszeit, den Zwang, Noten zu geben, die fehlenden Mittel für Material und Ausstattung, zu große Klassen, zu wenig Lehrer - bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit Tausender junger Kollegen.

 

Dies konnten sie auch mit einer inneren Reform ihrer Arbeit nicht verändern, im Gegenteil machte die veränderte Pädagogik diese Missstände nur deutlicher.

 

Und je mehr Kollegen anderer Schulformen auch mit einer inneren Reform begannen so zu arbeiten wie sie, um so deutlicher wurde ihnen die gezielte Unsinnigkeit der Aufteilung in verschiedene Schulformen. Sie begriffen immer mehr, dass die Konsequenz ihrer inneren Reform auch die Reform des äußeren Schulwesens zur Folge haben muss. Sie forderten wieder die Schule für alle, in der alle alles lernen können.

 

Und sie sahen auch, dass die beste Pädagogik und die einheitlichste Schulform keine Arbeitslosigkeit abschafft, keine neue Armut verschönert, keine irrsinnigen Geldausgaben für Rüstung keine Wälder, Flüsse und Lebensmittel entgiftet.

 

Aber darüber hatten die Schüler in ihrer Freien Arbeit schon nachgedacht und empfahlen ihren Lehrern: „Ergreift doch selbst das Wort, als Pädagogen, als Gewerkschaftler, als Menschen.“