Jochen Hering, Walter Hövel
...wenn man falsch anfängt, dann wird die Sprache nicht genug entwickelt...#
Eine Collage aus einem Interview
Über die Pädagogik von Elise und Célestin Freinet
Jochen Hering und Walter Hövel fuhren im Juli 1995 mit einer Übersetzerin nach Rennes in der Bretagne. Wir wollten Paul le Bohec interviewen. Wir wurden von Paul freundlich in seinem Haus begrüßt. Er servierte Tee, obwohl - wie er sagte - er nicht wußte, wie das geht. Seine Frau Jeanette wäre nicht da.
Während des Interviews fragte die Dolmetscherin, ob sie weiter übersetzen könne. Ich sprach kein Französisch und sie hatte schon länger nicht mehr übersetzt. Ich verstand Paul so.
Später, als wir das Buch machten, stellten Jochen und ich fest,,dass wir die Übersetzung nicht brauchen konnten. Mit ihr kam nicht rüber was Paul gesagt hatte. Wir haben lange überlegt welche Lösung wir finden sollten. Wir wollten das tolle Interview unbedingt haben. So übersetzte ich, der kein Französisch konnte, das Originalinterview mit Hilfe der (unbrauchbaren) Übersetzung. Ich glaubte Paul verstanden zu haben. Heute weiß ich, dass alles mit Pauls Aussagen überein stimmte.Das Interview wurde zur „Collage“.
Paul Le Bohec, geb. 28.7.1921, engagiert in der französischen und internationalen Freinetbewegung, war 30 Jahre lang Grundschullehrer in der Bretagne. Le Bohec bezeichnet sich selbst als „instituteur chercheur“, d.h. als Grundschullehrer, der Forschungen zur Praxis selbst in die Hand nimmt. Seit 1970 war er als Dozent für Sozialpädagogik in Reimes in der Erwachsenenbildung tätig. Sein Forschungsinteresse gilt natürlichen und kreativen Lernprozessen in den verschiedensten Bereichen.
„Wie das angefangen hat?
1942 ich war 21 Jahre alt las ich einen Artikel über die freien Texte. Das hat mich interessiert. Und ich habe es direkt in der Schule ausprobiert. Dann, das muss 1945 gewesen sein, habe ich in einem Artikel von Freinet gelesen, dass er mit den Praktikern zusammenarbeiten wolle, dass ihn die Hierarchie nicht interessiere, nur die Arbeiter.(1)
Aufgrund dieser Sätze hab ich ihm sofort geschrieben, und 1948 habe ich ihn getroffen. Bis zu seinem Tod habe ich mit ihm zusammen - gearbeitet …
In meiner Klasse habe ich alle Freinet-Techniken ausprobiert. Nach einem Jahr hatte ich eine Schülerzeitschrift, die Druckerei, die Korrespondenz und eine kooperative Organisation des Klassenlebens.
Später, um ein Experiment zu machen, habe ich das alles wieder weggelassen. Was fehlte uns, mir und den Kindern? Nichts! Im Gegenteil! Wir sind in der Arbeit weiter-gekommen.Freinet hat dazu gesagt: „Ich versteh ja, dass du das tun kannst, aber du bist ein außergewöhnlicher Lehrer, und als Beispiel für andere ist das gefährlich. Ande-re können es nicht so machen, wie du es machst. Andere brauchen die Techniken.
Ich denke, die Freinet-Pädagogik hat vier wesentliche Aspekte. Es gibt den kreativen Ausdruck, die Kommunikation (die Schülerzeitung, die Korrespondenz), die Klassengemeinschaft (Klassenkooperative) und die Erkundung der Umwelt.
Beim freien Ausdruck geht es dem Kind um sich selbst (von sich zu sich), bei der Kommunikation um den Dialog (von sich zu den anderen), bei der Klassenkooperative um das Miteinander (von sich mit den anderen) und bei der Erkundung der Umwelt um die Außenwelt (von sich zum „Außer-sich“).
Jeder Lehrer entscheidet sich für einen Schwerpunkt, der seinen Neigungen und Inter-essen entspricht. Mir ist zum Beispiel die Korrespondenz mit einer anderen Klasse nie richtig gelungen. Ich kann das nicht gut, so eine Regelmäßigkeit über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Das Weglassen der Korrespondenz war für mich wie eine Befreiung.
Exkursionen und Ausflüge mit meinen Klassen habe ich immer gemacht, um mit den Kindern die Umwelt zu erkunden.
Später begann ich mich mehr und mehr für die „innere Welt“ des Kindes zu interes-sieren. Und für mich wurde der eigene Ausdruck, der kreative Ausdruck, das Wichtig-ste. Ich wurde zum Repräsentant dieser Richtung ...
Das hat mich auch mehr mit Elise als mit Célestin Freinet verbunden. Elise hat innerhalb der entstehenden Freinet-Bewegung die Bedeutung des freien Ausdrucks und der Kunst und der Ästhetik betont und auch verteidigt. Dass wir in dieser Richtung weitergekommen sind, haben wir Elise zu verdanken.
Als ich begann, die „natürliche Methode“ in Mathematik zu unterrichten (2), hat Elise zu mir gesagt: „In diesem Punkt ist Freinet gegen dich. Aber ich bin an deiner Seite.“ Ich bin mehr ein Sohn von Elise als von Célestin Freinet. Freinet hat das Lernen sehr am Alltag orientiert, seine Mathematik zum Beispiel hat er aus dem Kaufmannsladen geholt. Ich habe meine Vorstellungen von Mathematik aus dem Spiel, der Fantasie und den Strukturen entwickelt.(3)
Freinet war ja der Sohn eines Bauern und Elise war die Tochter eines Lehrers. Sie war eine Künstlerin. Freinet war pragmatischer, und weil die beiden so gegensätzlich waren, konnte diese Gemeinschaft existieren. Die beiden hatten eine dialogische Beziehung, sie ergänzten sich, sie standen aber auch in Opposition.
Und weil es diese Aspekte gab, wuchs Freinet-Pädagogik weiter, komplementär und kontradiktionär.
Elise hat nicht viel geschrieben. Aber ohne Elise gäbe es diese Freinet-Pädagogik, die wir heute kennen, nicht. Das, was Freinet sehr am Herzen lag, die Klassenkooperative, der politische Aspekt, das stand in der französischen Freinetbewegung von Beginn an im Vordergrund. Ich habe da eine etwas abweichende Vorstellung.
Vom sechsten bis neunten Lebensjahr geht es um die Beherrschung der Sprache. Erst nach dem neunten Lebensjahr geht es eigentlich um Politik, Kooperation und Selbstverwaltung und und und.
Mit der Kooperation in der Klasse sollte man nicht zu früh anfangen. Dafür haben wir Zeit. Wir haben von neun bis neunzig dafür Zeit.
Um die Sprache zu entwickeln, haben wir aber nur diese drei Jahre von sechs bis neun Zeit. Es gibt einen privilegierten Zeitablauf. Und um die Sprache wirklich zu lehren, muss man sehr sehr sehr viel Zeit aufwenden.
Es wäre wichtig, am Anfang die Sprache zu entwickeln, und nach dem neunten Lebensjahr zu beginnen, die anderen Dinge wichtig werden zu lassen.
Und wenn wir falsch anfangen, dann wird die Sprache nicht genug entwickelt. Aber das ist natürlich mein Gesichtspunkt.
Den französischen Lehrern ist es sehr wichtig, den politischen Aspekt zu lehren. Sie haben jede Woche den Klassenrat, der bei ihnen von Anfang an im Mittelpunkt steht 4.
Welche Sprache sprechen die Kinder da? Sie sprechen die Sprache der Organisation. Und dabei werden die anderen Dimensionen der Sprache nicht genug entwickelt.Wenn man sich zu früh mit der Organisation der Klasse und diesen Dingen beschäftigt, dann hat man eine technische Sprache.
Nur diese funktionelle Sprache wird dann gefördert. Die anderen Dimensionen der Sprache, die wissenschaftliche Sprache (die sagt, wie die objektive Welt ist), der sub-jektive Ausdruck (Was gefällt mir? Und warum?), die Welt der Kommunikation, der Ver-ständigung, die Dimension der Überzeugung durch Sprache (Rhetorik), werden dann darüber vernachlässigt. Die Sprache der Kinder bleibt zu gebrauchsmäßig.
Ich sage, dass die Sprache das Wichtigste ist. Die Kinder haben das Recht, sich auszudrücken. Sie haben das Recht auf das Wort, sie formulieren ihre Worte.
Das braucht am Anfang Zeit, und das kann man nicht auf morgen verschieben. Von sechs Stunden Unterricht waren fünf Stunden bei mir für den freien Ausdruck. Damit fängt bei mir alles an, das ist bei mir zu Beginn das Politische, der kreative Ausdruck, im Gesang und in der Mathematik, in der Arbeit mit dem Körper und der Bewegung und in der Arbeit mit freien Texten.
Zunächst müssen die Kinder ihre Sprache finden können. Und gerade heute ist es wichtig wie nie zuvor, dass die Kinder sich frei ausdrücken können.Die Gesellschaft macht sie im Inneren so unruhig. Es gibt den Verkehr, Fernsehen, Radio und außer-dem die familiären Schwierigkeiten.
Die Kinder leiden in den Familien unter den Trennungen und Scheidungen. Sie brau-chen Liebe. Es ist wichtig, ihnen zuzuhören. Es ist wichtig, dass die Umgebung er-kennt, dass sie da sind, dass mit ihnen gesprochen wird.
Was kriegen sie stattdessen? Die neuen Medien als Kommunikationspartner. Dann werde ich gefragt: Warum sollen die Kinder mit sechs oder sieben Jahren noch nicht an den Computer für die Korrespondenz? Es schadet ihnen doch nicht?
Wenn sie in der Klasse miteinander arbeiten und miteinander reden, wenn diese Ebene funktioniert, dann kann das doch nur bereichern, wenn sie da ein Fax von einer nieder-ländischen Klasse bekommen, oder eine Mathematikerfindung aus Hamburg. Also, ich kann mir das schon vorstellen. Aber ich habe keine Klassen mehr, und ich kann keine persönlichen Erfahrungen in die Diskussion bringen.
Ich möchte aber noch einmal betonen: die ersten Jahre sind dafür da, dass die Kinder miteinander kommunizieren und auf ihre Art kooperieren.Wenn ich jetzt Lehrer wäre, hätte ich einen Computer in meiner Klasse. Aber er würde nicht sehr viel helfen, weil man ihn als Kommunikationsmittel nicht brauchen würde.
Es ist für die Gruppe nicht notwendig, dass sie weiß, was in Finnland oder Holland passiert. Computer ist immer ein Ersatz.Die Maschine ist eine Krücke zwischen einem Individuum und dem anderen. Die direkte Kommunikation, das ist wichtig.
Die Kinder sind allein, abgetrennt von der Welt, sie sind abgetrennt von ihren Groß-eltern, von ihren Cousinen, selbst von ihren Eltern sind sie getrennt. Und da stellt man nun eine Maschine hin, damit sie mit anderen korrespondieren.
Das ist vielleicht besser als nichts, aber es ist eben nicht die persönliche Kommunika-tion. Ich habe dreißig Jahre lang die Erfahrung gemacht, dass durch die direkte Begeg-nung Intensität entsteht. Also, einen Computer oder ein Fax-Gerät in der Klasse?
Ja, aber nicht vor neun Jahren. Bis dahin ist alles, was die Kinder bewegt, ganz nah bei ihnen. Und an dieser unmittelbaren Umgebung sind die Kinder interessiert, und sie hören dir zu, und sie haben Ideen, und sie helfen dir, und sie unterrichten dich den Lehrer, du lernst ihre Welt kennen.
Die Gruppe in diesem Alter braucht keinen Computer. Sie ist für sich selbst reich ge-nug.Das Problem ist allerdings, dass die meisten Kinder keine Chance mehr haben, Kinder zu sein.
Und deshalb ist es wichtig, dass die Lehrerinnen wieder zu Kindern werden. Nein, nein, nicht so, wie das vielleicht klingt. Die Lehrerinnen sollen nicht wieder Kinder werden, sondern sie sollen die Freuden der Kinder „neu“ lernen, zu spielen, zu singen, mit Dingen zu arbeiten.
Freinet behauptet, dass es einen Elan des Lebens gibt 5, dass das Kind von sich aus eine unglaubliche Fähigkeit und eine unglaubliche Kraft hat, sich zu entwickeln.
Aber die Umstände der heutigen Welt behindern es permanent. Es gibt viele Traumata für Kinder. Jedes Kind kommt zunächst in das Chaos einer ihm fremden Welt. Es muss lernen, darin zu überleben. Dazu muss es Strukturen entwickeln und Werkzeuge, um irgendwie zurechtzukommen.
Die Kunst des Lehrers ist es, diesem Kind Strukturen zu vermitteln, ihm Werkzeuge an die Hand zu geben und es gleichzeitig so wenig wie möglich zu beeinflussen.
Nehmen wir zum Beispiel die Sprache. Im Kind entsteht, wenn es freie Texte schreibt, diese unglaubliche Kraft und Entfaltung und der Wunsch sich auszudrücken. Und gleichzeitig bemerkt es aber auch die Beschränkung durch die Sprache. Also ent-wickelt das Kind seine eigene Sprache und interessiert sich überhaupt noch nicht für die Grammatik.
Und erst im Laufe der Zeit kommen die Strukturen der Grammatik, die es dann an-nimmt und zu seiner Sprache macht. Also, das Kind benutzt die Formen der Sprache, die Strukturen der Sprache, ohne es zu wissen.
Aber da es ein Mensch ist, stellt es sich Fragen. Und es stellt Fragen über die Struk-turen der Sprache. Und schließlich beherrscht es die Sprache. Also, das Kind drückt sich erst aus, fragt dann nach den Strukturen, und im Laufe der Zeit beherrscht es diese Strukturen, die es erst beeinträchtigt haben, als seine eigenen.
Lehrer und Lehrerinnen sind auf Fortbildungen sehr an den Freinettechniken interes-siert. Ich habe den Eindruck, dass zwar viele Lehrer mit den Techniken arbeiten, aber nicht unbedingt mit den Kindern. Und dazu muss man mehr als bisher die Theorie studieren, man muss sie in seine Seele aufnehmen, und man muss wissen, warum man die Dinge so macht, wie man sie macht.
Ein weiterer großer Fehler, ein großes Missverständnis, ist der Unterricht, der nur die Entwicklung des Individuums sieht. Die Bedeutung der Gruppe wird übersehen.
Wissenschaftlich zu denken, Hypothesen aufzustellen, Kritik zu üben, Voraussetzun-gen zu hinterfragen, Positionen gegeneinanderzustellen, das lernt man in der Gruppe6.
Aber es gibt sehr wenige, die in diesem Sinne arbeiten. Viele Freinetlehrerinnen haben immer noch nicht die Wichtigkeit der Gruppe und des Austausches untereinander verstanden.
Und beim Austausch spielt noch etwas anderes eine wesentliche Rolle. Heute sind Klassen mit mehreren Altersstufen die Ausnahme, aber früher war dies in Frankreich üblich. Die Frau hatte die Klasse von sechs bis neun Jahren, die Männer die oft auch noch die Ehemänner waren die Klasse von neun bis vierzehn Jahren. Das ist eine ganz andere Schule.
Die Demokratie in der Klasse wird im Laufe der Jahre von den Älteren jeweils an die Jüngeren weitergereicht, das geschieht ein Stück von alleine.
Es gibt Eltern, die sind gegen jahrgangsübergreifenden Unterricht, weil das auch größere Klassen bedeuten könnte. Sie wollen lieber kleinere Klassen haben. Sie fürchten, dass man sich nicht genug um ihre Kinder in dem Sinne kümmert, dass der Stoff zu kurz kommt.
Im Grunde genommen passiert genau das Gegenteil. Wenn man 25 Kinder hat, die alle lesen lernen, so kommen da viele zu kurz. Wenn aber 25 in verschiedenem Alter sind, so hilft die Erfahrung und Selbständigkeit der Größeren beim Lernen aller gewaltig.
Dass so viel mehr gelernt wird, ist noch nicht in die Köpfe der Franzosen zu kriegen. Es hat eine Untersuchung durch das Ministerium gegeben, und die besten Ergebnisse hatten die Kurse, die mit fünf Altersgruppen zusammen waren. Und die Kurse, in denen zwei oder drei Altersgruppen zusammen waren, waren besser als die aus nur einer Altersgruppe.
Also, das erste Politische, was ihr auf jeden Fall in Deutschland machen solltet, ist die Auflösung der Jahrgangsklassen.
Was die Kinder heute brauchen, ist ein Zusammenfinden der verschiedenen Alters-stufen in Schulfamilien, die es in unserer alten französischen Dorfschule immer gab. Hier hat die Freinetpädagogik angefangen.“
Literatur und Anmerkungen
Freinet selbst und seine heutigen französischen Anhängerinnen bezeichnen sich gerne als „travalleurs de l‘École Moderne“. Sie verstehen sich als Arbeiterinnen im Klassenzimmer.
Vgl. hierzu Ingrid Dietrich/Walter Hövel, Freinet-Pädagogik und Fremdsprachenunterricht, in: Ingrid Dietrich (Hrsg), Handbuch Freinet-Pädagogik, Weinheim 1995, S. 218.
Vgl. hierzu den Aufsatz von Angela Glänzel-Zlabinger in diesem Band.
Vgl. dazu Paul Le Bohec, Verstehen heißt Wiedererfinden. Natürliche Methode und Mathematik, Bremen 1994 (Pädagogik Kooperative)
Vgl. zu dieser Diskussion z.B. den Band von Aida Vasquez und Fernand Oury, Vorschläge für die Arbeit im Klassenzimmer. Die Freinet-Pädagogik, Hamburg 1976.
Vgl. hierzu zum Beispiel das Kapitel „Die Entstehung des freien Textes“ in Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, Stuttgart 1981, S. 20ff.
Vgl. Le Bohec, a.a.O., z.B. S. 51-60 und S. 63rf.