Jürgen Reichen folgen, hätte ein Zurück in meinem Lernen bedeutet. Wir hätten Schule höchstens modernisiert.
Jürgen Reichen einzubauen, ihn umzubauen, war aber möglich.
Walter Hövel
Gedanken zu Jürgen Reichen
1995 und 2021 geschrieben
Probleme mit dem Rechtschreiben, Schönschreiben, Schreiben, Vorlesen und Lesen gab es immer. „Unsere Schule“ litt immer darunter. Auch vor und nach Jürgen Reichen. Auch im Ausland ist das so, sprich in anderen Sprachen.
Es ist Unsinn irgendwelche Personen für die stetige Brisanz einer „Verschlechterung“ verantwortlich zu machen. Festzuhalten ist nur, dass Jürgen Reichen den Mut und eine „Methode“ gegen den bestehenden „Unterricht“ aus der Schweiz mitbrachte.
Die deutsche Öffentlichkeit gewann er mit dem Film „Lob des Fehlers“ von Reinhard Kahl. Der führende deutsche Pädagogikprofessor Hans Brügelmann in den Jahrzehnten des Millenniumübergangs sagte in der Päd/Extra 6/92: „Man kann diesen Unterricht ruhigen Gewissens praktizieren“. Viele andere, wie eine Professorin Gudrun Spitta1, äußerten sich so.
Mit Jürgen Reichen kannte und kenne ich viele Menschen, die Großes und Kleines leisteten. Heute bin ich 72 Jahre alt. Ich stehe diesen Menschen nahe und doch trennt mich vieles von ihnen. Ich denke anders, oft verstehe ich Dinge anders als früher. Andere Dinge haben sich weiter entwickelt, andere zurück. Mein Respekt vor Menschen der Vergangenheit ist groß, doch ich sehe bei einigen die Welt halt anders.
Ich finde ein Papier2, das vor dem Jahr 2000 die Nähe und Distanz zur Freinetpädagogik ausdrückt. Mich kümmert heute 2o Jahre später sehr, wie der mächtige Teil der Welt mit Corona, Werbung, Wirtschaft, wie die Bildung mit den Interessen der kleinen Leute und ihren demokratischen Rechten umgeht. Mich kümmert sehr wie diese mächtige Welt mit sich selbst und (ehemals) wichtigen Menschen der eigenen und unseren Geschichte umgeht. Für mich gehört Jürgen Reichen zu den Menschen, die selbst dachten.
Zum letzten Mal begegnete ich ihm zum Frühstück in einem Hotel in Innsbruck. Er hatte gerade einen Vortrag gehalten, ich an diesem Tag.
Jürgen Reichen sagt, dass „Lesen verstehen ist“. In der Schulpädagogik spricht mensch von „sinnerfassendem Lesen“ und meint gerne weniger. Hergekommene Pädagogik verlangt gerne „Lesenlernen wie bisher“, dann aber den Sinn des Gelesenen begreifen. Die Pädagogik schafft es sich ein Stück vom tradierten „Vor“lesen zu distanzieren.
Jürgen Reichen "fordert von der Graphem – Phonem – Korrespondenz abzurücken. Statt dessen sei der Schriftspracherwerb in Analogie zum Sprech-Spracherwerb anzugehen.“3
Ich glaube hier findet er seine Annäherung an natürliche Methode des Lernens in der Freinetpädagogik. „So wie beim alltäglichen Sprech-Spracherwerb das eigene, aktive, selbstgesteuerte Sprechen des Kindes (nicht das Zuhören) im Vordergrund steht, ist bei „Lesen durch Schreiben“ das eigene, aktive Schreiben des Kindes im Mittelpunkt.“4
Er kommt aus der Sonderpädagogik. Integration und Inklusion lernte er bei den „Behinderten“ einer Pfadfindergruppe. Er wusste, dass die Behinderung in den Köpfen der "Nicht - Behinderten"
beginnt.
Aber Jürgen Reichen berücksichtigt zu wenig die Probleme der Unterschichtler, der Proleten, der Migranten, der Flüchtlinge und der Dialekte. Er sieht deren Probleme, schaut aber zu sehr auf eine zu sehr zu reparierende Schule und ihre Zeit. Er sieht das Lernen „als solches“ und bearbeitet zu wenig die Lage der Kinder und ihrer Eltern.
Dabei kannte er gerade als Schweizer das Phänomen, dass junge und alte Menschen eine andere Sprache im Alltag sprechen als sie in der Schule gelehrt bekommen.
Mich erinnert es stark an das was mir selbst mit dem rheinischen „Dialekt“ als „meiner“ Sprache und dem Englischen in der Schule und der Wissenschaft passierte, was Migrant*innen und Flüchtlinge jeden Tag zwischen Familiensprachen und der „Hochsprache“ der Bildung erleben. Erziehung ist geprägt von einem Sprech- – und Sprachenbegriff.
Jürgen Reichen ist für mich ein Didaktiker. Er nennt sich selbst „didaktischer Künstler“. Alles nennt er „Unterricht“, sein „Lara“ (LdS - Unterrichtsmethode“, seinen „Werkstattunterricht“, „Sabefix“ ist eine Bereicherung von Unterricht und Bildung. Das Wort „Künstler“ war die Faszination für ein selbständiges Lernen der Kinder und Jugendlichen.
Oft kam er mir vor wie ein „moderner Waldorflehrer“. Er kaprizierte sich auf Unterricht und Schule. Mich intereesierte sein beständiges Fragen und Denken.
Er gibt den Kindern mehr Rechte, aber als Menschenrechte? Ich glaube nicht genug, nicht radikal genug. Er bricht höchstens in das eigene Haus ein.
Kinder werden nicht „Chefs“, sie sind es bereits. Das Zitat von Janusz Korczak (geboren am 22. Juli 1878 oder 1879, gestorben 5.-7. August 1942) „Kinder sind die Experten“, beschreibt meiner Ansicht nach einen anderen Zugang. Zum Beispiel bei seinen „Lehrgangsmaterialien ist er „verschulter“ als seine Schüler*innen.
Vielleicht verstehe ich heute besser, dass das Lernen der Kinder gar nicht anders als selbstgesteuert geht. Ich erinnere mich an Auseinandersetzungen mit ihm. Er vertrat dieses
„selbstgesteuert“, ich mehr das „selbst bestimmt“. Er wollte das Besserwissen der Erwachsenen nicht aufgeben, höchstens aufweichen.
Bei den Freinets ist das Malen, Zeichnen, Kritzeln des Kindes die Grundlage seines späteren Schriftspracherwerbs. Sie überlassen dem Kind, wie sie oder er es macht. Sie überlassen den Kindern ihren Kinderweg Sie geben ihnen das Wort.
Jürgen Reichen ist Didaktiker und entwickelt eine neue Methode des Lesen - und Schreibenlernen in der Schule. (Das ist zweifelsfrei besser als der Umgang mit einer Fibel oder Buchstaben- beibringen a la A, Be, Ce. Das ist besser als jede Tradition der Erziehung, der Schule oder der Bildung.)
Aber, lieber Jürgen, es gibt Kinder, die machen es auch anders als deine „Methode“. Sie lernen das Lesen zum Beispiel ohne zu schreiben!
Das Schreiben ist für einige eine fantastische Krücke. Daher kommt oft vor dem Lesen das Schreiben ...oder eben das Malen. Hier ist mir Jürgen zu unklar. Er überlässt - gegen die eigenen Worte - zu wenig den Kindern, wie sie Lesen und Schreiben lernen. Viele Kinder lernen auch nur auswendig. Sie können nicht lesen, lernen aber zu schreiben. (Ich habe schon begriffen, dass Lesen über das Schreiben gehen soll. Aber eben nicht bei allen.)
Jürgen ist mir zu sehr didaktisch, oft zu psychologisch, oft zu lehrerhaft. Er kennt vielleicht aus seiner Praxis nicht, mit welchen Problemen Kinder der unteren und oft kulturell anderen Schichten in Schule zu tun wirklich haben.
Nur wer die sozialen und die Lernprobleme der Schulzeit löst, wer den Gegensatz von innerer und äußerer Schulreform begreift, kann sie jetzt in Raum und Zeit der Praxis a la Freinet oder zumindest denkerisch auflösen.
Und wer hält sich an ein Konzept (oder eine Lehrmethode), wenn die Praxis so viele Lösungen erwartet und braucht? Vielleicht konnte er sich – der Zeit geschuldet – noch nicht soviel mit dem Begriff der Diversität bei den Menschen auseinandersetzen.
Sicherlich ist er ein„Sprachforscher*innen“. Er denkt vieles richtig, aber er kommt aus der Theorie und Praxis einer Schweizer“ Schule, die sicherlich weiter als eine deutsche, und viel weiter als eine immer mehr europäisierten Einheitsausbildung ist. Wirbt dieses Land nicht absichtlich zum eigenen Lernen Lehr- und Lernkräfte an, die ihr Lehrersein anders und wo anders „erwarben“?
Wie kann man Praktiker*innen weglassen? Das sind Millionen von Lehrer*ìnnen auf der Welt. Sie sind nicht altmodisch, unwissenschaftlich ausgebildet, sondern erfahren täglich in ihrer Praxis, dass Schule so nicht funktioniert. Sie wollen eine andere Gegenwart und Zukunft der Bildung.
Schulbuchverlage hängen jetzt selbst gemachte „Buchstabentore“ ihren Fibeln und „Lehr“büchern an. Sie fordern in ihrem vereinfachenden traditionellen Denken „das Lesen - oder Schreibenlernen nach Gehör“.
Noch ich lernte in den 1950er Jahren Wörter zwecks Rechtschreibung „im Geist“ Wörter zu verlängern, Verdoppelungen von Konsonanten oder „richtig“ und „falsch“ einfach zu hören. Ich lernte nach Gehör.
Jürgen Reichen tut nichts anderes als Dinge, die Wissenschaft über das menschliche Lernen jetzt weiß, unserem jetzigen Wissen hinzuzufügen. Er entwickelte weiter, andere wollen Schule und Lernen konservierend behalten. Oder füllte er selbst Altes in neue Sprache, Gewänder oder Schläuche?
Jürgen Reichen trat als einer der ersten Pädagogen für das Lernen mit dem Computer ein. Leider wurde er mit dieser Aufforderung nicht genug gehört.
Viele wollen – vielleicht auch Jürgen Reichen und mancher Freinet oder Pädagogikmensch – die Bildung noch näher am Leben der demokratischen Mittelschichten orientiert, verbessern, damit mensch besser lernt. Vielleicht wird eine soziale Verbesserung der Gesellschaft in einer selektierenden und schichtenbewahrenden Erziehung als zu lästig, weil mühsam und grundsätzlich weggelassen. Vielleicht glaubte auch Jürgen Reichen über eine Verbesserung der Bildung die Gesellschaft zu verändern?
Gerade die heutige Zeit (2021) belegt eigentlich, dass trotz oder mit einer Zunahme der Bildung das Reichwerden der Reichen weiter steigt, ihre Anzahl aber sinkt. Der Aufstieg der GRUENEN, die vielen Stiftungen und Gründung unzähliger NGOs belegen die Forderung nach einem „Fairwerden“ des Kapitals... Aber zurück zu dem anderen „Reichen“, Jürgen Reichen.
Ich tue ihm unrecht, wenn ich nicht anerkenne, dass nach seiner Meinung Kinder über mehr Entfaltungskräfte verfügen als das rezeptive Lernen oder Anfangsunterricht.
Er sagte gerne, dass einzelne Kinder intelligenter sein können als er. Zu Lehrer*innen der Grundschule Harmonie“ sagte er gerne „“Ja, ihr von der Harmonie seid eine Ausnahme“.
Vielleicht machte er eine Didaktik, damit Lehrer*innen ihn verstanden. Dazu tendierte manchmal auch Célestin Freinet.
Jürgen Reichen hatte im Gegensatz zu einem Célestin Freinet nicht das Glück mit einer Elise Freinet verheiratet zu sein. Beide, Jürgen und Célestin waren Naturwissenschaftler. Jürgen Reichen kannte keinen verspielt, musisch-künstlerischen Zugang. Die Freinets schon. Elise Freinet zwang ihren Mann zu der Auseinandersetzung mit Spiel, Musik, Natur und Kunst.
In den Gesprächen, die ich mit ihm führte kam er mir oft stur oder schizophren vor. Er stand auf Seiten der Schüler*innen, dann aber betonte er sein Lehrersein. Oft betonte er seine Nähe zu „seinem“ Heinevetterverlag5 oder „seinen Rundbriefen an die Lehrerschaft“. Vielleicht verstand ich seinen Konservatismus nicht. Vielleicht wollte ich ihn nicht sehen.
Bundesländer wie Hamburg oder Baden-Württemberg „verbieten“ heute sogar das „Lesen durch Schreiben“. Wann und warum greifen Schul- und Bildungsministerien zu solchen Mitteln? Welche Angst treiben SPD- und CDU-Ministerielle dazu? Er fordert doch die Beibehaltung ihrer Lehrmethode?
Reichen sagt bei seinem Gedanken des „selbstgesteuerten Lernens, dass der Mensch nur selber lernen kann, das kein Lehrer es ihm abnehmen oder auch nur ... erleichtern kann.“ … Er sagt, „der
Lernprozess beim Lehrgang 'Lesen durch Schreiben' läuft individuell und weitgehend selbstgesteuert“ ...später „empfiehlt er etwa die Hälfte der Unterrichtszeit für Werkstattunterricht
einzusetzen, die andere Hälfte der Unterrichtszeit den herkömmlichen Unterricht stattfinden zu lassen.“6
Es ist für mich heute schon erschreckend, welch platte Ansicht Jürgen Reichen vertrat. Aber er war der Hoffnungsträger der eigenen Vorstellung und dass sich Schule endlich bewegte. Heute, 2021, weiß ich wie diese Hoffnungen zerstört wurden. Jürgen Reichen stocherte vielleicht zu viel in der Vergangenheit des Lernens.
Als er in Hamburg mit “Unterschichtenkinder“ konfrontiert wurde, war seine Erkenntnis, dass „deutsche Kinder wohl anders sind als Schweizer“. Das mag psychologisch vielleicht sein. Er wollte aber nicht ihre gesellschaftliche Herkunft erkennen. Er sah nicht, dass Arbeiter-, Migranten- und Flüchtlingskindern das Lesen, Lernen und Leben schwerer gemacht wird. Es ging ihm so wie der Mehrzahl seiner Kolleg*innen. Er hörte da auf, wo andere erst anfangen zu arbeiten. War er zu unpolitisch?
Er machte Kinder zu Chefs. Er erinnert mich an „Institutionalisten“, wo du erst einmal beweisen musst, dass du die Materie der Klassenratsleitung wie ein Chef beherrschst. Nicht jedes Kind kann und lernt alles und kann alles. Er unterstellt, dass es Expert*innen geben muss. Das sind wieder Lehrer*innen, die ausgebildet werden.
Cornelia Schulz interpretiert (oder hörte ihn so im Vortrag) ihn so: „Im Arbeitsleben hat fast jeder Menschen 'über sich' und Menschen 'unter sich'. Diese Erfahrungen sollen die Kinder in beide Richtungen auch schon in der Grundschule machen können“. Er kennt Chefs für 'Computer', 'Mathematik', die 'Korrektur', 'Hausaufgaben', Spiele', 'Präsens'(auch außerhalb des Klassenraumes), 'Sabefix' und 'Dekoration'. So kennt er auch „starke und schwache“ Schüler*innen.
Er kennt „positive und negative“ Aspekte des „Unterrichtens“. Er hat noch viele Arbeitsblätter und Materialien. Er dachte sich selbst nie zu Ende.Viele Kinder brauchen auch Buchstaben zum Essen oder eben Wahrnehmungskanäle, die nicht alle brauchen, aber sie selbst:“
Ich benutzte von Jürgen Reichen das Angebot des Buchstabentors. Ansonsten überließ ich den Kindern wie sie Lesen und Schreiben lernten. Sie taten es sehr verschieden. Sie schrieben sogar ab. Aber niemand griff zu einer Fibel. Einer lernte Lesen und Schreiben erst mit 21. Aber alle lernten es. Es gab keine Analphabeten, wie sie sonst „die Schule“ dieser Gesellschaft produziert.
Was ich übernahm, was mich als Lerner und Lehrer prägte,
war sein Gedanke des „qualifizierten Nichtstuns“.
Ob ich das meinte, was er meinte?
1 Sie war schon 1995 keine Freinet-Lehrerin. Sie forderte die Leitung des Klassenrates durch Lehrer*innen. Ich traf
sie um 2019 auf einer Fete in Bremen. Sie hatte sich kein Bisschen verändert.
2Cornelia Schulz. Jürgen Reichens 'lesen durch Schreiben'. Hamburg 1995
3ebenda
4ebenda
5Sabe.verlag ließ dieser Verlag sich nicht von den „Großen wie Klett, Cornelson oder Westermann kaufen
6Corinna Schulz, ebenda