Walter Hövel
„Solche Schulen wollen wir nicht!“
Warum
selbstbestimmtes Lernen so gerne abgelehnt wird
Sollte man einen Aufsatz über die Leute schreiben, die die Veränderung von Schule täglich behindern? Wir machen den Gegnern der Reformen von Schule das Leben bereits durch unsere reine berufliche Existenz leicht. Sie
müssen nicht begründen, warum ihre Schule gut wäre. Sie transponieren die von ihnen geschaffenen Probleme in das Bild unserer Schule. Schließlich arbeiten wir ja im gleichen System Schule. Sie
unterstellen uns am liebsten, was für sie gilt: „ An eurer Schule lernt man nicht genug“. Je mehr man sich mit ihnen auseinandersetzt, je
mehr über die bestehende Schule aufgedeckt wird, werden sie wiederholen und wiederholen, was für sie selbst gilt. Sie tun dies so lange, bis das Dementieren ihrer Behauptungen zur Beweisführung für ihre Behauptungen wird. Ich bitte also alle Leserinnen und Leser, vor, während
und nach dem Lesen des folgenden Textes nie zu glauben, dass man - egal in welcher Schule - je mehr lernen wird als im Leben. Sollte daher nicht eher ein Aufsatz über die Menschen geschrieben
werden, die solche Schulen wie die Grundschule Harmonie möglich machen, also sogar eine Schule dem Leben näher bringen?
Was bleibt, ist ein Aufsatz der ist, was er ist. Er ist eine Dokumentation zur Stärkung der Befürworterinnen
und Befürworter einer demokratischen Schule durch die Beschreibung der Widerstände gegen sie:
Weil alle Kinder bei Ihnen im selbst bestimmten Lernen besser lernen!
Ich lasse Erfahrungen und Begegnungen mit Mitmenschen in zwei Jahrzehnten als Schulleiter Revue passieren, um mit der Frage zu beginnen: Warum gibt es so viele Menschen, oft Mehrheiten, die Schule nicht verändert wissen wollen?
Auch nach fast 20 Jahren Erfolgsgeschichte hat die Grundschule Harmonie, die ich die ersten 19 Jahre leitete, vor Ort[1]
einen sehr schweren Stand. Die Haltungen gegenüber einer Schule wie der unseren waren und sind sehr verschieden. Die einen taten alles, meist versteckt, damit wir verschwanden. Die anderen lobten
uns offen, verteidigten unsere Existenz und erklärten unsere Haltung und unsere Pädagogik, damit es uns weiterhin gibt. Wieder andere interessierten
sich gar nicht für uns. Sie kümmerten sich um andere Dinge.
Wieder andere mochten uns „rein menschlich ganz gern“, aber nicht so sehr das, was wir taten. Wieder andere bekamen über die eigenen oder über fremde
Kinder oder Enkelkinder mit, dass es diesen bei uns gut ging. Da sie aber nicht verstanden, was wir taten, plädierten sie gerne für die andere, ihnen bekannte Schule. Wieder andere schlossen aus
dem Erlebten, dass, auch wenn sie das was wir machten, nicht mochten, wir „doch eine Chance bekommen sollten.“
Wieder andere lehnten uns ab, aber sahen und sehen uns „als Bestandteil eines vielfältigen Bildungsangebots, das ja auch seine Anhänger hat“ und deshalb erhalten bleiben sollte. Wieder andere
begannen zu begreifen, dass im 20. Jahr an der Existenz einer solchen Alternative etwas daran sein musste, was zu erhalten ist, ob man es versteht oder nicht.
Wieder andere haben Angst vor uns, unserem Anspruch, unserem Ruf, unseren „Verbindungen“ und unserer Praxis. Wieder andere halten uns für eine verkappte Homeschooling-Schule, eine esoterische
Alternative oder für eine „freie Schule“.
Vor vielen Jahren sagte eine Schulaufsichtsbeamtin zu den Schulleitungen unseres Bezirks: „Schauen Sie sich die Schule an, nicht damit Sie verstehen was da pädagogisch geschieht, aber damit Sie
verstehen, dass das möglich ist, was da passiert!“
Wir sind in Wirklichkeit eine staatlich Grundschule, die nach den Richtlinien und Lehrplänen des Landes Nordrhein-Westfalen arbeitet und Kinder, Eltern und Lehrpersonen als Menschen anerkennt.
Die Ablehnung schon vor der Praxis
Wir wissen, dass die Grundschule Harmonie eine Insel
mitten in einer provinziellen Bildungslandschaft ist. Wir polarisieren. Einerseits gewinnen wir die Herzen jener Eltern, die sich auch in der außerschulischen Gesellschaft mehr Offenheit, mehr
Lebensfreude und mehr Selbstverwirklichung wünschen. Von anderen werden wir radikal als radikal abgelehnt und ausgegrenzt. Wir werden beobachtet. Unsere Homepagenachrichten werden im Rathaus und
am Gymnasium gelesen.
Unsere Arbeit hat im Ort eine andere Wirkung als in der Schule
selbst. Letztere stimmt eher mit einer Berichterstattung nur fünfzig Kilometer weiter überein. Schon in Köln, Bonn, Siegen oder Koblenz ist jene Anerkennung spürbar, wie wir sie bei Seminaren und
Vorträgen bis in ferne Länder und bei unseren unzähligen Hospitationsbesuchen erleben können.
Vor Ort waren wir schon vor dem Beginn unserer
Arbeit, vor unserem ersten Schultag, Gegenstand einer Kritik, deren Produzenten wir nur selten sichtbar oder dingfest machen konnten. Immer wurde gegen uns gearbeitet, aber es gelang nie unsere
Existenz zu verhindern. Uns gelang es mit guter Arbeit unseren Platz zu behaupten, bis hin zu anerkennenden Bemerkungen oder gar ein Eintreten für uns durch ehemalige „Gegner“.
Schon bevor unsere Schule im Jahre 1996 eröffnet wurde, gab es Menschen im Ort, die wussten, dass man an der Grundschule Harmonie „nichts lernt“. Und das
bevor wir selbst wussten, dass wir zur Grundschule Harmonie kommen würden. Niemand von unserem Team, einschließlich meiner Person, wusste, dass er oder sie in dem damals neu entstehendem
Schulgebäude arbeiten würde. Aber da gab es schon die vielen Männer und Frauen aus den politischen Hinterzimmern, in den Gesprächen hinter vorgehaltener Hand, im Smalltalk der Straße, im
„vertraulichen Gespräch“ vor den Kindergärten oder mit deren Berater. Sie wussten es schon vor 20 Jahren vor der Eröffnung: „Das ist eine Waldorfschule“, „Das ist eine Montessorischule“ und „Das
ist eine Schule, da machen Kinder was sie wollen.“
War ein Grund, dass sich kommunale Politiker - mit oder ohne Wissen der damaligen Schulaufsicht - vor 20 Jahren einiger Lehrpersonen durch Versetzung zu „entledigten“ glaubten, die unbequem oder in Skandale verwickelt waren, die im Gesamtkontext des Orts unter den Teppich gekehrt werden mussten? Zwei Ratsmitglieder sorgten auf jeden Fall gleich bei der ersten Einschulung dafür, dass ihre Kinder zur Nachbarschule gingen, die damals noch in vielen Klassen „schwarze Pädagogik“ zelebrierte.
Sicherlich war ein Grund für die vorzeitige Distanzierung unser fantastisches schuluntypisches Gebäude[2]. Es löste Angst vor allen Neuerungen, dem Unbekannten und dem „Anderen“[3] aus. Es sah nicht aus wie diese Fabrikschulen, hatte nie einen Zaun und nie eine Schulglocke. Es gleicht eher einem zu großen Kindergarten, nicht einer typischen deutschen Schule. Der Landarchitekt Guido Casper war in seinem Studium Hugo Kückelhaus begegnet. Und so baute er einen Bungalow aus Holz, Glas und Licht mit einem großen Forum und Ausgängen nach draußen für jede Klasse.
Die allgegenwärtigen Berichterstatter, wussten schon immer, dass hier „Kinder nicht genügend lernen, um auf das Gymnasium gehen zu können“. Opinionleader, einflussreiche „Respektpersonen“ aus Verwaltung, Schulen, Kirchenvorständen und Vereinen verbreiteten in der Dorfbevölkerung (oft bis heute), dass „die Kinder von Harmonie nicht Rechtschreiben können“, „Schwierigkeiten mit der Mathematik“ hätten, die „Hausaufgaben nicht machen“ würden und „eh überfordert“ wären.
Schnell wurde verbreitet, dass „Harmoniekinder“ von ihren Plätzen aufstehen, um zu gucken, wenn ein Bagger vorbeikommt (Oktober 1997) bis zu „Meine Frau ist Lehrerin am Gymnasium in Eitorf, daher weiß ich, dass Harmoniekinder Probleme mit sich bringen“ (November 2012).
Da nutzte es nichts, dass unsere Übergangsempfehlungen zum Gymnasium bald bei 60 bis 75% lagen. Da nützte es nichts, dass wir Zahlen vorlegten, die bewiesen, dass unsere „Ehemaligen“ auch bis zum
Abitur und darüber hinaus erfolgreich blieben. Eine Examensarbeit[4],
eine Elternumfrage eines ehemaligen kritischen Schulpflegschaftsvorsitzenden und mehrere eigene Um- und Abfragen, kamen immer zu dem gleichen Ergebnis:
Das Lernen an einer offenen demokratischen Schule schadet nicht nur nicht, sondern zeigt auch nach Jahren der „weiter“führenden Schule überdurchschnittliche Erfolge.
Aber es nützte nichts. Ein langjähriger ehemaliger Beigeordneter der Gemeinde beschimpfte einen Vater, der sein Kind bei uns anmeldete mit den Worten „Ich habe dich bisher für einen vernünftigen
Menschen gehalten“. Partei- und Vereins“freunde“, Nachbarn und Kollegen zweifelten an nicht wenigen Mitbewohnern, die bei uns Eltern wurden. Noch 2013 ruft uns eine Mutter weinend an und
berichtet, wie sie von Nachbarinnen unter Druck gesetzt wird, da sie ihr Kind bei uns angemeldet hat. In Kindergärten warnen selbst heute noch
Kolleginnen anderer Schulen als Mütter vor unserer Schule. Eine Pfarrerin nahm ihr Kind von unserer Schule und erzählt seitdem allen, die es hören wollten oder nicht, dass „man an dieser Schule
nicht genügend lernt“.
Später wandelten sich die “Weisheiten“ der heimischen und heimlichen Schulexperten: „Das ist keine Schule für jedes Kind“, „Vor allem für mein Kind ist das nichts“, oder, „Für die, die eh
Probleme mit Schule haben“, oder „Für meinen Jungen, der braucht den Daumen drauf“.
Eine Mutter einer anderen Schule drückte es noch anders aus: „ An der einen Schule sind zu viele Ausländer, in Harmonie zu viele Besonderheiten und zu viele Begabte! Deshalb gehe ich an eine
Schule, wo wir unter uns bleiben.“
Auch plapperten sie nach, was Lehrpersonen aus dem Dorf ihnen als „Experten“ sagten: „Die ‚Wenigerbegabten‘ brauchen mehr vorgegebene Strukturen“, weil „sie ja nicht selbstständig lernen können“.
Wir hörten Sätze wie „Andere können vielleicht an dieser Schule lernen, aber das Kind braucht Druck“ oder „Meinem Kind muss man schon sagen, was es lernen muss“.
Da nützt es nichts, dass unsere ehemaligen Schülerinnen und Schüler an allen Schulformen von den Sonderschulen Gymnasien, Haupt- und Realschule bis hin zur Gesamtschule weiterhin
überdurch-schnittlich gut abschließen.
Da nützt es uns nicht, dass Jahr für Jahr unsere „Ehemaligen“ in großer Zahl mit den ach so gerühmten „besten Abiturnoten“ abgehen, dass auch die wenigen, die schon einmal einen „Umweg“ im
angebotenen Schulsystem machten, am Ende (der Schul-, Ausbildungs- und Studienzeit) nachweislich erfolgreich waren.
Ein wichtiger jetzt nicht mehr aktiver kommunaler Funktionsträger schrieb: „Mein Interesse an roter Schulpolitik tendiert gegen Null. Zustände wie in Harmonie sollten eine einmalige Angelegenheit
für die Gemeinde bleiben.“
Warum reagieren so viele Bürger so?
Woher kommen dieser Rufmord, diese fahrlässige
Verleumdung, die Verbreitung von Unwissenheit, vordemokratisches Denken und bildungsferne Ideologien, was ja nicht nur aus Eitorf bekannt ist?
Die Stellungnahmen der UNESCO oder anderen
Studien internationaler und nationaler Wissenschaftler und Untersuchungen geben eine klare Antwort. Es sind Kasten- und Klassendünkel, die in Deutschland dafür sorgen, dass nicht die Intelligenz
oder das Lernen letztendlich über Bildungsabschlüsse entscheiden, sondern die soziale Herkunft. Dazu kommt, dass die „weiterführenden“ selektierenden Schulen gerademal einmal globales, oft
unteres Mittelmaß sind.
Aber wie entsteht diese Hartnäckigkeit vor Ort? Was nährt sie? Was macht den bildungsfeindlichen Tratsch so nachhaltig?
Ist es das, was Hirnforscher sagen: Das menschliche Gehirn muss die eigene Erfahrung so verarbeiten, dass das eigene Leben und Denken auch bei objektiv
negativen Erlebnissen positiv gesehen werden kann?
Ist es der u.a. vom Kinderarzt Renz-Polster beschriebene Neophobismus, der die Menschen zwingt
alles Neue zunächst abzulehnen? Zu allem Neuen in höchst kritische Distanz zu gehen, um, wie in der Steinzeit nicht das Falsche zu essen, um zu überleben? Das „Neue“ ist das Gefährliche, „Früher
war alles besser“. Selbst engagiert auftretende Eltern geben ihre Kinder eher an eine Schule, an der sie „ihre“ Schule besser wiedererkennen.
Ist
es der Vorgang, dass Veränderungen es schwer haben, nicht nur in unserem Gehirn? Von einem Ratsherren und auch einem Schulleiter hörte ich, dass „eine Ohrfeige auch mal sein müsse“.
Ist es Götz Alys These[5], dass „die Nazis ihr Volk kauften“? Die Heimatgemeinde „Eitorf“, einst Garnisonsort mit blühender Kriegsproduktion, Naherholungsgebiet für ‚Kraft durch Freude‘, HJ und BDM, mit Zwangsarbeitern in Landwirtschaft und Industrie[6] und drei V2-Abschussrampen, tat sich bei der Entnazifizierung sehr schwer. Noch heute hängt das Bild des Nazibürgermeisters, der von 1932(!) bis 1945 regierte, problemlos zwischen den anderen Bürgermeistern im Treppenhaus des Rathauses. Er wird noch heute von anerkannten Heimatforschern als „integrer Mann“ bezeichnet.
Ist es die Verunsicherung durch den Verlust politischer Orientierung in einer „randständigen“ Gemeinde mit hoher Arbeitslosigkeit und ausgedehnten Sozialleistungen? Seit Jahren mobbten und mobben
sich in diesem Ort die Menschen in den großen Parteien und Kirchen gegenseitig weg. Hier amtiert seit 2005 ein FDP-Bürgermeister mit über 70% der
Wählerstimmen. Man darf gespannt sein, ob er 2014/5 bei der Erstellung des Schulentwicklungsplans versucht, die Grundschule Harmonie loszuwerden.
Ist es die bekannte Angst der Mittelschichten durch Globalisierung, Verarmung, Stress, Ausbeutung und Beschneidung der Lebenszeit noch weiter
abzusinken?
Ist es die Einstellung dieser Bürgerinnen und Bürger, die wollen, dass ihre Kinder so werden wie sie selbst? Wollen sie
Statussicherung, Funktionieren und Wohlstand? Sind ihnen die Rechte aller Menschen nach Leben, Freiheit und Glück untergeordnete Größen?
Nimmt man
da lieber „eine Grundschule wie früher“ in Kauf, „in der aber klare Strukturen herrschen“, in der der ‚Gutbürgerliche‘ glaubt, „unter sich“ zu bleiben? Der eine Teil der Eltern im Ort geht lieber zu den beiden konservativen Grundschulen, der andere vertraut immerhin auf die beiden (!) anderen, die bundesweit als engagierte bildungsnahe,
demokratische und Schule für Alle im Sinne der Inklusion verstanden werden.
Ist es „historische Vorsicht“ nach dem Motto: „Wenn wir eine solche
Schule hier und jetzt zulassen, dann müssen unsere Kinder und Kindeskinder in der Zukunft auch in solche Schulen gehen, ob wir das wollen oder nicht. Vorsichtshalber sind wir jetzt dagegen,
später ist zu spät!“
Ist es die Tatsache, dass Menschen, die angepasst sind in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Unter- und Einordnung lieber eine funktionierende Beschulung ihrer Kinder sehen, als
Lehrerinnen und Lehrer mit einer pädagogischen Haltung, die den Aufbau von menschlicher Beziehung zugunsten des Kindes zur Grundlage des Lernens machen?
Ist es die Tatsache, dass bereits zwei der vier Grundschulen im Ort eine neue Pädagogik anbieten, dass „das Alte“ nicht mehr so funktioniert? Ist es der
ewige Gegenwind beim „langen Marsch“ durch die Institutionen?
Ist es die Grundhaltung allzu Vieler, die Freiheiten für ihre Kinder, aber keine
freien Kinder wollen? Stimmt hier immer noch Freinets Gedanke: „Wo nicht die freie Aktivität zum Grundprinzip jeglicher Organisation der Klasse gemacht wird, da bedarf es einer besonderen
Disziplin. Sie hat die Funktion, das Kind zu etwas zu zwingen, was es nicht tun will und gleichzeitig das zu unterdrücken, was es gerne täte.“[7]
Ist es die Gewissheit, dass nicht eine gute Bildung in unserer Gesellschaft zwangsweise zu guten Jobs führt, sondern eher Noten, Abschlüsse und Titel? Ist dies nicht an der Förderwut und dem
Milliardengeschäft mit der Nachhilfe sichtbar?
Ist es die Rache der Geschichte an den „Zuspätgekommenen“? Schließlich geschah es im Jahre 1920, dass die einheitliche Bildung für alle auf die Grundschulzeit beschränkt wurde. Gilt noch immer der Satz von damals, dass Bürgerliche es fürchten, dass ihre Kinder „womöglich Ellbogen an Ellbogen mit den Kindern des eigenen Personals“[8] sitzen müssen? Die USA führten eine allgemeine Bildung vor mehr als 100 Jahren ein, die Europäer seit den 1970iger Jahren.
Ist es das Misstrauen gegenüber den eigenen Kindern und letztendlich gegenüber sich selbst? Johannes Beck sagte einmal: „Ich halte die überorganisierten Lernprozesse mit Zensuren und allen
Schikanen für eine staatliche und wissenschaftlich verklärte Misstrauenserklärung gegenüber der nachfolgenden Generation.“[9]
Ist es das tiefsitzende Misstrauen gegenüber dem System Schule unter dem man selbst gelitten hat, aber gesellschaftlich traumatisiert lieber das Falsche aufrecht erhalten wird? Manche leben
leichter mit einer Lebenslüge.
Wäre ein Schritt zur Lösung, dass sich die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen in der Frage der Bildung zu einer Kehrtwende des Standpunkts entscheiden wie dies in Fragen der
Atomkraftwerke, der Frauenemanzipation, der Schwulen und Lesben, der Inklusion und des Rechtsradikalismus in großen Kreisen der Gesellschaft geschieht? Oder haben wir hier wie in Fragen der
internationalen militärischen Einmischung, des Datenschutzes und dem Schutz demokratischer Rechte mit einem gesellschaftlichen Lashback zu tun?
Bewegungen in der Bildungslandschaft
Mit der Existenz der Grundschule Harmonie kam es in den
Folgejahren zu bemerkenswerten Veränderungen in der lokalen Bildung. Bei einer Umfrage des Schulamts wurde 2009 von der klaren Mehrheit der Eltern der abgehenden Klassen aller(!) vier örtlichen
Grundschulen die Einführung einer Gesamtschule gefordert. An zwei Grundschulen, der Grundschule Harmonie und der konservativsten Grundschule des Orts(!) stimmten über 80% dafür. Die Abstimmung
wurde mit veränderten Fragen nach zwei Jahren wiederholt und es kam keine Gesamtschule, sondern eine „Sekundarschule, neben dem Gymnasium als einziges lokales Alternativangebot“, heraus. Dadurch
entstand immerhin die Schließung der Hauptschule und bei nichtvorhandener Realschule, die Gründung einer Sekundarschule 5 bis 10 als „Schule für Alle, außer denen, die zum Gymnasium gehen“.
Die erfahrene gymnasiale Interessensvertretung hatte ihre Vormachtstellung, wenn auch mit Mühen behauptet. Das alte erfahrene Gymnasium müht sich gleichzeitig um Innovation, die oft genug an der
eigenen Klientel scheitert.
Pädagogische Innovationen gehen nur sehr langsam, wenn der Charakter des Systems als selektives Element Vorrang hat. Dennoch waren die Veränderungen in der Bildungsszene des Orts erfolgreich. Am Rollback und der Eindämmung solcher Entwicklungen wird aber weiter gearbeitet. Viele Teilreformen werden von denen, die verändern wollen, (vielleicht hier und da klugerweise) geopfert, damit alle mitziehen.
Der Kern der Ablehnung
Im Kern wird die Ablehnung einer „modernen Pädagogik“ unserer Schule
damit begründet, dass wir immer wieder Kinder „durchlassen“, die für gut-bürgerliche Kreise[10]
nicht in ein deutsches Gymnasium oder eine „Regel“schule passen.
Haben wir für unsere
traditionell arme und rückständige ländliche Gemeinde vor 20 Jahren beginnend viel zu früh Gedanken der Partizipation und Inklusion verwirklicht? Sind wir für viele zu früh der Vorstellung
gefolgt, dass wenn die Kinder die Schule schaffen wollen, nicht sie sich den Regeln und dem Lehrsystem der Schule, sondern die Schule sich dem Lernen der Kinder anpassen muss? Noch heute ist es
sehr schwer ein Plädoyer für offenes Lernen im Ort laut zu halten ohne Überhört- oder Abgetanwerden, Verlegenheit, Gelächter oder gar Drohungen zu erfahren.
Es reichte, dass wir seit unserem Bestehen Jahr für Jahr mit allen Kindern ohne „Abgeben“ an Sonder- oder Förderschulen erfolgreich arbeiteten. So kam es, dass immer wieder Kinder, die als „lernproblematisch“, „hyperaktiv“, „sozial emotional belastet“, der „deutschen Sprache nicht so mächtig“, „autistisch“ oder „als Kinder mit bildungsfernen Elternhäusern“ diagnostiziert werden konnten, bei uns nach der vierten Klasse eine „gymnasiale Empfehlung“ erhielten. Sie waren einfach nicht doof, nicht behindert, sondern anders! Sie waren erfolgreiche Lerner geblieben oder geworden!
Dies waren jährlich immerhin mehrere eines abgehenden Jahrgangs von 40 bis 50 Kindern. Und fast immer war es so, dass eines dieser Kinder sich in der Folgezeit nicht an das Gymnasium anpasste.
Oder, um es anders zu sagen, dass Gymnasium schaffte es nicht, offensichtlich intelligente Kinder dem Gymnasium anzupassen. Und genau dieses Kind wurde jedes Jahr für Jahr als Beispiel dafür
genommen, „was bei einer Schule wie der Grundschule Harmonie herauskommt“. Ihre Ablehnung wurde gegen ihre nachgewiesene Intelligenz oder Lernfähigkeit mit ihren „Arbeitsverhalten“, ihren
„Testleistungen“ oder ihrer „Unfähigkeit zur Anpassung an ein schulisches System“ begründet. Von uns wurde erwartet, dass auch wir solche Kinder zur Förderschule abschoben. Was wir aber nicht
taten.
Die Argumentation lautet: „Die Schule und das Bildungssystem bieten dir ja alle Chancen. Es ist nur die Frage, was das Individuum daraus macht.“ Entweder du passt dich als Schülerin oder Schüler
der Arbeitsweise der Lehranstalt durch reproduzierenden, häuslichen oder nachhilflichen Fleiß an, oder du gehst wieder. „Du gehörst in die Hauptschule!“, „Geh, doch in die Hauptschule!“ waren
häufige Lehrersprüche, die Kindern sich anhören mussten. Da klingt es jetzt doch anders, wenn es heißt: „Ich glaube an der Sekundarschule kannst du
besser lernen“?
Auch wenn einzelne Lehrkräfte der Sekundarstufe1 aller Schulformen immer wieder mit großem pädagogischen und persönlichen Einsatz für das Weiterkommen aller Kinder eintreten, so findet dies seine
Begrenzung und sein Ende im System einer selektierenden, also „exklusiven“ Schule.
Wir haben unsere Grundschule nie als eine Schule verstanden, „die auf das Gymnasium vorbereitet“. Wir haben unsere Grundlagen vermittelt! Wir haben uns nie dafür verantwortlich machen lassen, was nach der Grundschule geschieht. Dafür sind die Kolleginnen und Kollegen der „weiterführenden“ Schulen verantwortlich. Aber viele von ihnen haben uns für ihr Versagen verantwortlich machen wollen und bei jeder Gelegenheit den Menschen erklärt, dass unsere Arbeitsweise, die Ursache „für schulisches Versagen“ ist. Ein kluger Mensch sagte einmal: „Die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“
So wurde eine Schule wie die unsere nicht dafür gelobt, dass unsere Übergangszahlen nicht nur höher bleiben, geschweige denn dafür, dass die Rücklaufquote unserer Ehemaligen niedriger ist als die Vergleichszahlen. Nein, es wird sich darüber beschwert, dass wir ihnen Kinder „zumuten“, die bei uns in der Grundschule zwar „mitkommen“, aber in ihrem System scheitern müssen.
Ein gymnasialer Kollege erklärte 2010 Grundschulmenschen auf einer „Übergangs“konferenz: „ Wir können mit dem Material, was ihr uns hier ´rüberschickt, nichts anfangen.“ Mit „Material“ meinte er „Kinder“, mit „rüberschicken“ den „Übergang von der 4. zur 5“. und mit „ihr“ meinte er nicht nur die Grundschule Harmonie, sondern alle neun anwesenden Grundschulen, inklusive der Nachbargemeinde.
Einige Grundschulleiter nahmen ihn ernst und bestätigten ihm, dass wir auch den Eindruck hätten, dass viele Kolleginnen und Kollegen der Sekundarstufe1 in der Tat nicht wüssten, wie sie unsere pädagogische Arbeit fortsetzen sollten. Auch teilten mehrere unserer Schulleitungen dies der Leitung des Gymnasiums schriftlich mit. Ein „Übergangs“arbeitskreis wurde installiert. Einerseits wurde die Gesprächsatmosphäre zwischen den Schulformen verbessert, andererseits wurde aber auch die mögliche Zielsetzung eines Arbeitskreises als Mittel des Nichts-Wesentliches-Verändern-Wollen erreicht.
Lernwege brauchen neue Bildungswege
Wir wissen, dass die Lernwege einiger Kinder für diverse
Lehrkräfte[11],
die selbst zur „funktionierenden Anpassung an das jeweils bestehende Schulsystem“ in ihrer eigenen Schul- und Jugendzeit erzogen wurden, unergründlich sind. Sie haben weder in ihrer Schulzeit
noch in ihrer Ausbildungszeit als Lehrerin und Lehrer gelernt, so selbstbestimmt und selbst strukturierend zu arbeiten, dass sie verstehen könnten, wie andere Menschen auf eigenen, oft sehr
eigenen Wegen das Lernen lernen. Diese Lernwege von Kindern werden immer wieder als „unschulisch, nicht nachvollziehbar, nicht tragbar, störend mangelhaft, ungenügend, förderbedürftig,
leistungsschwach, nicht zielführend oder Ziel erreichend“ bezeichnet. Oder: „So wird bei uns nicht gelernt!“ „Warum arbeitest du in Deutsch nicht, wie du das in Mathe kannst?“ „Die anderen können
nicht lernen, wenn du dich so verhältst!“ „ Du strengst dich zwar an, aber unterm Strich werden deine Leistungen nicht reichen.“ „Geh mal zur
Nachhilfe!“, „Warum bist du nur zu faul zum Lernen?“, „Lass dich von falschen Freunden nicht immer so ablenken.“, „An einer anderen Schule könntest du besser lernen.“
Deshalb beginnen bei uns Demokratie, Inklusion und Rechte der Kinder beim verschiedenen Lernen und den verschiedenen Lernwegen jedes einzelnen Menschen! Und diese Haltung des Vertrauens in die Lernwege aller ist durch die Schaffung von reichhaltigen individuellen und kooperativen Lerngelegenheiten für jede Schule lernbar!
Wir brauchen eine innere und eine äußere Schulreform gleichzeitig, also eine Lern-Reform. Im Inneren muss das Verständnis vom defizitären zu belehrenden Kind hin zum Vertrauen in lernbereite, kompetente freie Menschen zum Allgemeingut innerhalb und außerhalb von Schule und Kindergarten werden. Es wird inDeutschland noch einige Zeit dauern bis klare Mehrheiten der Eltern den Mut und die Einsicht haben, dass Förder- oder Sonderschulen für niemanden eine Alternative sind. Andererseits wird es mindestens genau so lange dauern, bis der Staat bereit und willens ist, eine wirkliche Schule für alle Menschen zu verwirklichen. Sie müsste staatliche Schulpflichtmonopol und die Flucht durch finanziell bevorteilte Herkunft in die private Schule durch ein hoch qualifiziertes staatliches Lernbildungsangebot[12] für alle ersetzen.
Wandel in der Schulaufsicht
Noch im ersten Jahr
unseres Aufbaus ging ein Schulrat, der für den Nachbarbezirk zuständig war, zum da-maligen Bürgermeister der Gemeinde um vor uns zu warnen. Wir seien
„gefährliche, unverantwortliche, konzeptlose Chaoten“ hieß seine Botschaft.
Der für uns
zuständige Schulrat schätzte uns, ließ uns gewähren, aber ohne uns ernsthaft zu unterstützen oder uns unterstützen zu können. Bestenfalls waren wir die geduldeten Außenseiter.
Dann verloren wir den Chaotenstatus und wurden zu „Exoten“ in der Bildungslandschaft. Mit einem staatlichen Wechsel hin zur individuellen Förderung, einer Vernetzung, Regionalisierung und europäischer Kooperation bei gleichzeitiger selbstverantwortlicher Schulentwicklung wurden wir allmählich als „Vorzeigebeispiel“ interessant. Die vielen Preise und Auszeichnungen wurden von einer vorsichtigen Duldung der Schulaufsicht begleitet. Vor Ort verschärfte dies das Misstrauen uns gegenüber. In dieser Zeit brachte uns die „Schulinspektion“, hier „Qualitätsanalyse“ genannt, zwar vortreffliche Ergebnisse, aber in der zentralen Auffassung vom Lernbegriff blieben wir uneins. Die Prüferin war noch nicht in der Lage sich mit unserer Haltung zum Lernen vertraut zu machen.
In jüngster Zeit erleben wir ein neues Verständnis von Schulentwicklung, Partizipation der Kinder, regionaler Vernetzung und Inklusion. Es entsteht das Gefühl von unserer Schulaufsicht nicht nur verstanden zu werden, sondern so unterstützt zu werden, dass diese Pädagogik erhalten bleiben soll. Es bleibt spannend zu sehen, ob sich die zentrale staatliche Reformentwicklung zu Gunsten einer „modernen Schule“ entwickeln wird, oder ob es provinzialistischen Bildungsauffassungen gelingt den Ort von uns „zu befreien“.
Kopf-Programmkino
Heute behaupten fast alle
Eltern unserer Schule das Schulprogramm gelesen zu haben oder es zu kennen. Dies erinnert mich daran, dass ich 1973 zur Lehrerprüfung wusste, wie eine Gesamtschule geht und warum sie gut ist. Ich
hatte wenig Ahnung, aber eine „Gesamtschule“ im Kopf, da ich sie wollte. In Wirklichkeit haben wir alle „unsere Programme“ für verschiedene Lebensbereiche im Kopf. In der Schule erwarten wir die
entsprechende Umsetzung „für unser eigenes Kind“. Wenn dies nicht geschieht, sind wir[13]
enttäuscht. Viele suchen die Fehler bei der Schule und berufen sich dann doch gerne auf „allgemeine“ Schulerfahrungen. Einige suchen den Fehler bei sich, in der Familie, in der Ehe oder in der
eigenen Erziehung. Wir sind leider zum „Fehlersuchen“, zur „Schuldzuweisung“ erzogen worden, anstatt zur kooperativen Veränderung der Systeme. Einige finden „die Schuld“ auch noch immer bei den
Kindern, gerne bei den anderen, aber auch bei den eigenen. Ein Sammelsurium von eigenen Bindungsschädigungen, fehlgeschlagener Erziehung in der eigenen Kindheit, selbst erfahrener Schulzeit der
Langeweile, Selektierung oder der Demütigungen, Beziehungsstörungen, Berufs- und Lebensstress, zu wenig Zeit für das, was an eigentlich als das Wesentliche erkennt stehen gegen das, was man oder
frau selbst gerne als Programm hätte: Freunde, Freude an Leben und Lernen, Sinnfindung und Seinserfüllung, Partnerschaft, Sicherheit und Unabhängigkeit, Zeit für Freude und Gefühle, gute
Gespräche.
Und wie leicht knickt man da wieder ein: Ist die Förderschule angesichts des Unvermögens des Regelsystems oder des Finanzgebarens der Ämter nicht doch besser für mein Kind? Braucht es nicht doch Druck, damit es lernt? Braucht es nicht doch vorgegebene Strukturen, damit es überhaupt zum Lernen findet? Ist es doch nicht wichtiger schon aus dem Kindergarten heraus „unter sich zu bleiben“ und dann gemeinsam mit den Freunden, die ja die Kinder der eigenen Freundinnen sind, zu einer Schule zu gehen? Übe ich da nicht doch besser das Rechtschreiben, das laute Vorlesen und das Mathepäckchenrechnen zu Hause, um auf Nummersicher zu gehen? Schicke ich nicht besser mein Kind zur Behandlung gegen Rechenschwäche, Leserechtschreibschwäche, Sprachschwächen, Bewegungsschwächen oder sonstige „Schwächen“, wenn doch sogar die Krankenkasse oder Jugendhilfezentren dafür aufkommen?
Demokratie und eine demokratische Schule brauchen aber starke Menschen. Die meisten Kinder sind es noch, aber zum Glück auch viele Erwachsene, vor allem solche, die auch einmal Schwäche bei anderen und sich selbst zulassen können. So sind wir eine Schule, die zwar Fehler macht und Schwächen hat, aber wir knicken nicht ein. Stattdessen setzen wir mit diesen Menschen auf Entwicklung, Verbesserung, Gespräche, Einsichten, Teilhabe Aller und Zusammenarbeit.
Verständnis
Ehestreit und Trennungen, gesellschaftliche Hauptprobleme, unter dem vor allem
Kinder zu leiden haben, werden gerne über die Kinder ausgetragen. Heute wird die gesamte gesellschaftliche Verantwortung der Erziehung und Bildung auf die Frauen abgeschoben. Sie sind oft
überbelastet, tendieren zu Helikopter-verhalten, geben auf oder übertonen die Richtigkeit der eigenen (oft notwendigen) Linie. Es gibt Männer, die zu Einfachlösungen neigen. Sie halten dann gerne
eine Rede über Erziehung, auch schon mal über das Versagen der Frau oder des Kindes. Es gibt Frauen, die weichen dem Druck ihrer Männer aus und geben klein bei. Sie geben der Familie die
Priorität. Das bedeutet auch schon einmal, dass sie die Schule wechseln. Schule „muss erkennbar bleiben“. Im Konfliktfalle mit dem Kind, dem Partner und der Auffassung von Erziehung kehren Eltern
auch „zu bewährten Unterrichtsmethoden“ zurück.
Erschreckend ist die Naivität vieler junger Lehrerinnen und Lehrer. Viele wollen gar keine Veränderungen. Sie wollen „Schule nur gut machen“. Viele sagen „Mensch, ist das toll, aber die Öffnung
des Lernens kann ich nicht wirklich“. Viele sagen, „ist das toll, aber an meiner Schule geht das nicht“. Wieder andere verwechseln demokratische Haltung und Offenes Lernen mit
Unterrichtsritualen, Homeschooling, „Gewaltfreier Kommunikation“, oder Stationenlernen. Wenige sagen, „Demokratie ja!“ Sie machen etwas „Kinderparlament“, „Klassenrat“ oder „Offenen Unterricht“,
und wundern sie sich, dass die Kinder „das ja gar nicht können“ und, dass „die Eltern das (so) gar nicht wollen“. Sie sind schneller im Burnout oder auf der Liege als alles andere. Nur wenige
können sich das Knowhow einer demokratischen qualifizierten Lernpraxis erarbeiten. Die Lehrerausbildung versagt hier. Sie bringen mutige junge Menschen eher dazu, nicht in den Schul“dienst“ zu
wollen, oder doch auf die Linie des „guten Unterrichtens und seiner Rituale“ zurückzukehren.
Das Hauptmanko der gesamten Schule ist, dass die guten Pädagogen einfach zu wenig sind. Auch eine doppelt oder dreifach so gute Lehrerinnenbildung, eine doppelt oder dreifach so hohe Zahl an
Lehrkräften, doppelt oder dreifach vermehrte Schulpraxis während der „Ausbildung, könnte nicht die Qualität schaffen, die notwendig wäre, flächendeckend eine reformierte Bildung anzubieten. Wer
wollte so viel Geld in die jetzige Bildung stecken? Wer wollte Bildung so umgestalten können, dass Lernen gesellschaftlich optimiert wird?[14]
Und, so denke ich manchmal, vielleicht haben jene Leute, die ihre Kinder zu der altbackensten aller Schulen in erreichbarer Wohnortnähe schicken, ja sogar in ihrem Kontext recht. Spätestens seitdem Hirnforscher, Philosophen, Medienverantwortliche, andere ernst zu nehmende Wissenschaftler und Experten, die Botschaft um die Welt schicken, dass „Schule dumm macht“[15] muss die alte Volksweisheit ernst genommen werden, dass sich „Schule immer wieder selbst überschätzt“. Was lernt der Mensch in seinen 12 bis 14 Jahren Schule? Wie fragt Precht zu Recht: „Wissen Sie noch, was sie im 8.Schuljahr gelernt haben?“. Wie wenig lernen wir doch in weit über 10.000 Lebens-Stunden im Unterricht des deutschen Schulsystems? Und hat das nicht mit den Arbeits-, Sozial-, Lernumgebungs- und Lerninhalts- und psychologischen Bedingungen einer staatlich-sozialen Zwangsveranstaltung Schule zu tun?
Einer großen Zahl von Eltern könnte man nachsagen, dass ihnen gar nichts fehlt in deutschen Schulen und Bildungswesen. Sie denken und glauben: „So wie es ist, ist es normal“. Das geben Politikerinnen und Politiker so gerne weiter. Sie tun dies gegen besseres europäisches, ökonomisches und gesellschaftliches Wissen. Zu viele propagieren es, weil es so bequemer und leichter ist, weiterhin gewählt zu werden. Dies ist vielleicht verständlich, aber unwürdig in Anbetracht ihrer politischen Verantwortung.
Aussicht
Vielleicht hilft trotz erfolgreicher Kindergärten und Grundschulen gegen den
berechtigten Pessimismus, gegen die Langsamkeit und die Zähigkeit der Veränderung der deutschen Bildungslandschaft, eine Regel, die mich immer in der Entwicklung von Lernen und Schule leitete:
Arbeite zuerst immer mit denen, die den Fortschritt wollen, nicht mit denen, die bremsen. Schaffe die Veränderungen, die möglich sind! Nimm aber die, die bremsen, ernst. Höre ihnen genau zu. Sie
sehen oft genug etwas Richtiges. Es gibt immer einen Kern, der eine wichtige Erkenntnis enthält.
Bedenke immer, dass andere nicht das tun müssen, was du willst. Sie haben das Recht auf den eigenen Weg und, wie ich selbst, auf den eigenen Irrtum. Du musst ihn nicht empfehlen, aber es gibt
ihn.
Und wir, alle Menschen von heute, sind heute, gemeinsam, so weit, wie wir Wir sind. Nicht weiter, aber weit. Wie sagte Nazim Hikmet: „Ein halber Apfel sind
wir, die andere Hälfte der riesigen Welt, die andere Hälfte unserer Menschheit, die andere Hälfte Ich, wir beide“.[16]
Es sind nicht die vielen Preise und Auszeichnungen. Es ist nicht die Anerkennung, die uns einige tausend Besucher zollten. Es ist nicht die Unzahl der Artikel, die wir und andere über unsere
Arbeit schrieben und schreiben. Es sind nicht die Kinder, wie wir sie jeden Tag in ihrer Alltäglichkeit und Normalität erleben. Es ist nicht die Titelansammlung von „demokratischer Schule, in der
Kinder selber lernen ihr Lernen bestimmen“ bis zur „Schule der Partizipation und Inklusion“. Es ist nicht die Frage, ob wir „recht“ bekamen oder ob es so kam wie wir wollten. Es ist nicht die
Frage, ob es uns morgen noch geben wird.
Nur wir selbst können schätzen, was wir jeden Tag schaffen und was wir über viele Jahre geschafft haben.
"Und doch hege ich die Hoffnung, dass diese Memoiren .... ein Geschlecht von Rebellen anfeuern mögen, die unerträgliche Beschränkung auf eine begrenzte Dimensionalität zu durchbrechen".[17]
[1] in der Gemeinde Eitorf mit 19.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, 50km von Köln, 30km von Bonn
[2] Siehe Montagsstiftungen
[3] Nach dem Motto „Ich habe nichts gegen Fremde. Aber die kommen nicht alle von hier. Die sind anders als wie wir.
[4] Anne Witt, Die Bedeutung des Offenen Unterrichts für die Bildungschancen.Siegen.2009 Download: http://www.grundschule-harmonie.de/artikel-pdf/Anne%20Witt.pdf
[5] Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? – Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933. Frankfurt 2011
[6] Bis heute weigern sich die immer noch existierenden Betriebe sich, die Opfer zu entschädigen
[7] Zitiert nach Hering/Hövel: Immer noch der Zeit vorraus .Bremen o.J.
[8] Largo/Beglinger: Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen. München/Zürich 2009. (S.240)
[9] Hering/Hövel: Immer noch der Zeit voraus. Buchrücken
[10] Ein hierzu passender Vorgang aus den Jahren 1930-1935 in New Hampshire wird von Ruf und Gallin in ihrem Buch „Sprache und Mathematik in der Schule“ auf den Seiten 255 und 256 beschrieben: „Es waren die Eltern aus der sozialen Mittelklasse…Sie waren von ‚diesem Unterrichtsstil‘ nicht zu überzeugen, weil er ‚ihre eigenen Kinder gegenüber den Einwandererkindern nicht mehr bevorzugte und auch ihrer eigenen Auffassung von Schule nicht mehr entsprach‘.“
[11] Ich sehe in den letzten Jahren eine wachsende Zahl von Lehrkräften auch an Gymnasien, die durch internationale theoretische Einflüsse vor allem im Studium und in den Medien und durch praktische und private Kontakte zu anderen europäischen und englischsprachigen Erfahrungen sehr wohl ihr Arbeiten modernisieren und demokratisieren.
[12] Hierzu wird es auch einer Verknüpfung der direkt vor Ort tätigen verbindlichen und professionellen Netze mit dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe, der Inklusionspflege, psychologischer und sozialer Betreuung, etc., etc. geben müssen. Alle jetzige Praxis ist ein Flickwerk, gewebt von demokratisch verantwortlich und visionär denkenden Menschen.
[13] Ich wähle die Wir-Form, da ich auch Vater an der Grundschule Harmonie war. Zudem unterscheiden wir in der Arbeit der Schule immer weniger Eltern und Lehrer, sondern sprechen von „uns Erwachsenen“.
[14] Zu solchen Überlegungen führt ein in 2015 erscheinender Aufsatz: Walter Hövel: Kinder brauchen das ganze Dorf. In: Pia Maria
Rabensteiner/Gerhard Rabensteiner: "Internationalisation in Teacher Education“ bei Schneider
14Sir Ken Robinsons’s RSA Animate- Changing Education Paradigms-You Tube www.youtube.com/watch?v=DZFcDGpL4U und „Do schools kill creativity. http://www.youtube.com/watch?v=iG9CE55wbtY oder Prechts und Hübners Sendung “Schule macht dumm” unter http://www.youtube.com/watch?v=mAM-q1Oc7TY
[16] Nazim Hikmet: Hasretlerin adɪ. Die Namen der Sehnsucht. Gedichte. Zürich (Ammann) 2008
[17] Edwin Abbott Abbott:"Flächenland". 1884: Zitiert aus dem letzten Kapitel