Walter Hövel
Zwillinge an der Schule
Wir hatten in 20 Jahren einige Zwillingskinder an unserer Schule. Mal waren sie zusammen in einer Klasse, mal getrennt. Mal hatten sie viel mit einander zu tun, mal weniger. Unterschichtler
hatten gleiche und andere Probleme als Mittelschichtler.
Sie haben immer eine gemeinsame Geschichte, die in der Regel eine*n „stärker“, die/den anderen „langsamer“, „weniger erfolgreich“ oder gar „zurück gebliebener“ erscheinen ließ.
Wir lernten, dass ihre Geschichte und Gegenwart immer die Geschichte zweier Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen war. Wir wussten, dass ihre „Bindungsgeschichte“ immer wichtig für ihre oft lebenslange Beziehung war.
Gerade die Grundschulzeit ist eine Zeit der gegenseitigen Abhängigkeiten und besonderen Beziehung, als auch ihrer beginnenden Ablösung von einander.
Wichtig ist die besondere Beziehung von Zwillingen genauso zu akzeptieren wie ihre Bemühungen selbstständige Menschen ohne Abhängigkeiten zu werden. Sie finden den Bezug öfter eher und intensiver zu einander als andere Kinder zu Mutter, Vater, Großeltern, Freunden, Lehrer*innen oder anderen Menschen.
Es gilt –wie in der gesamten „Erziehung“ – zu wissen, dass auch Zwillinge für die Bildung ihrer eigenen Persönlichkeit genau das aussuchen was sie wollen. Sie tun dies eher gemeinsam als andere. Lehrer*innen bleibt als angenommener oder abgelehnter Partner, als Vorbild, zufälliger Lebensbegleiter oder nicht akzeptierter Erwachsener nichts als die eigenen Fähigkeiten zu haben und vielleicht als Beispiel etwas vorleben zu können.
Eine Lehrer*in berichtet
Hier ein Auszug eines verschriftlichen Berichts von einer Kollegin (Alle Namen sind geändert).
„Im Ortsteil Soundso gibt es eine Bande von Kindern und Jugendlichen, die Grundschulkinder rekrutieren, Kinder schubsen, Eltern und Kindern Geld abziehen.
In diesem Zusammenhang reden wir über unsere Zwillinge X und Y, die auch als Opfer gelten, die Bande aber bewundern.
Die Eltern kommen aus Sowieso, sind aber Sosos. Es gibt zwei ältere Geschwister. Die Zwillinge sind gemeinsam in einer Klasse, was sich bewährt hat. X war in der Klasse Soundso. Als es kam, konnte es bis Drei zählen. Buchstaben waren ihr/m komplett unbekannt. Es war kein Kindergartenprogramm mit seinen Fähigkeiten vorhanden. Sie waren sozial auffällig. Es wurde bei uns stark von zwei Lehrer*innen, eine Förderlehrer*in und einer Lehramtsanwärter*in, gefördert und hat dort viel gelernt.
Es kann jetzt mit anderen Kindern zusammenarbeiten, hat aber gelegentlich Rückfälle. Es verfügt nun über basisschulische Kompetenzen. Es will „ein liebes Kind“ sein.
Lange Ferien sind für sie/ihn eine Katastrophe. Es dauert danach lange bis es wieder stabil war. Es streitet manchmal auch ganz offensichtliche Dinge ab. X freut sich über jede sinnvolle Tätigkeit „wie ein Schneekönig“.
Oft hat es kein Frühstück dabei. Wenn etwas schief gegangen ist, beschreibt es das oft mit „Ich habe Bauchweh“. Hat wohl Hunger und spricht das offen in den Pausen an.
Der Vater ist aktuell zuhause. Die Kinder haben jeweils eigene Fernseher im Zimmer und werden auch vor dem Fernseher geparkt. Die ältere Schwester musste viel auf die Kleinen aufpassen. Die beiden sind auf der Straße groß geworden. Wenn es gar nicht mehr anders ging, mussten sie zu Nachbarn gehen. Ys Aussage: „Nach der Schule darf ich nicht ins Haus, weil Mama dann schläft“. Beim Besuch der Lehrer*in war Y ängstlich wegen des „Hausverbots“.
Y verletzt sich selbst mit Dingen, die es in die Finger bekommt. Es sagt oft „Ich bin für alles zu doof“. Manchmal sucht es sich Situationen aus, wo es ihr/m gut geht. Wenn es zu harmonisch ist, bricht es ganz aus und alles verwandelt sich ins Gegenteil. Schulisch ist Y stärker als X. Y hat die Arme bis zu den Ellbogen verschorft. Es sucht Beziehung und braucht Vertrauen. Y ist dankbar, dass mit Z jemand da ist. Die Selbstverletzungen müssen sehr ernst genommen werden.
X hat als erste Wörter „Totenkopf“, „Friedhof“, „Zombie“, etc. geschrieben. Die Bilder des Kindes waren zuerst grau, dann bunt und nach den Ferien schwarz. Jetzt malt es ein Haus mit Fenstern, etc. Früher fielen Bomben auf die Häuser. Auf einer längeren Fahrt erzählte X fortlaufend Horrorgeschichten, aufgehangen an Dingen, die es in der Umgebung sah. X kann klasse mit der Lehramtswärter*in umgehen.
Beim Hausbesuch wollte der Vater über X reden. Zu Y hatte er nichts zu sagen. Er begann über die Schule und eine Lehrer*in zu schimpfen und äußerte den Wunsch sein Kind in eine andere Klasse zu geben. In der Zeit des Gesprächs haben die Kinder ferngeschaut. Der Vater schwärmte von Y und ihren/seinen Leistungen. Die Eltern glauben, dass es ihrem Kind gut geht, dass es glücklich ist.
Über Ys Verletzungen haben sie betreten gelacht und sind nicht weiter darauf eingegangen. Die schulischen Leistungen wären auf die Schule zurückzuführen. Uns wird „2-Klassen-Unterricht“ vorgeworfen. Vater zeigt sich aggressiv und geladen.
Wieder eine andere unserer Lehrer*innen hatte die Mutter als überarbeitet und schwach empfunden. Vater gab sich sehr leistungsorientiert. Die berufstätige Mutter hat keine Kraft sich um die Kinder zu kümmern. Der Vater wirkte wie ein „Pascha“, die Mutter wie eine „Dienstmagd“. Die/der zweite anwesende Lehrer*in hatte das Gefühl, dass die Mutter im Zeugnisgespräch überhaupt nicht wusste, was mit ihren Kindern los war. Die ältere Schwester ist die Bezugsperson für beide.
Es sollte ein weiteres Gespräch mit den Eltern über die Kinder geben. Wenn das keine Einsicht erzeugt, soll der §52 (Kindeswohl) angekündigt und eingeleitet werden. So kann es nicht weitergehen. Von nun an wird alles dokumentiert und vergangene Geschehnisse gesammelt.
Aber mit dem Vater ist Kommunikation nicht möglich. Was ist unser Zielsetzung? Eine Lehrer*in schlägt vor zu sagen was Sache ist und stärker mit der deutschen Gesetzgebung zu drohen… Eine Lehrer*in hat Angst, dass die Kinder zum Feindbild werden und darunter leiden. Eine weitere Lehrer*in sagt, dass das sowieso passiert und schon immer passiert ist. Der Punkt könnte auch die Selbstverletzung sein.
Was dokumentieren wir? Alle Punkte?... Wir brauchen sofort professionelle Hilfe. Wir werden ein Heft anlegen. Das reichen wir einen Monat später beim Jugend-Hilfe-Zentrum ein und fragen, was wir tun können.“
Vorsicht!!
Das ist die Sicht einer Lehrer*in. Die Eigensicht der Kinder ist anders. Die Sichtweise der Kollegin ist sehr schulisch-deutsch, mittelschichtig
und lehrer*innenhaft. Viele „Lösungen“ sind in der Tat nicht Angelegenheit der Schule.
Es gibt viele von den erwähnten Profis, an die sich Schule zu wenden hat. Vor allem war es im weiteren Tun nur von Vorteil, dass eine Vertreterin der kommunalen Eltern- und Erziehungsberatung, die zudem noch systemisch arbeitet, in unserer Kinderkonferenz saß. Wir nutzten dies, die Kontakte zum Kommissariat Vorbeugung, die Unterstützung des Jugendamtes und vor allem die Kraft unserer eigenen Kinderkonferenz.
Nicht alles lief vorbildlich und glatt. Wir mussten oft „nachbessern“ und waren oft mit uns und der Entwicklung der Menschen unzufrieden.
Unser Schwergewicht lag immer stärker auf unserem Lernangebot, wie es im Bericht schon anklang.
Leider wird die Sichtweise der Eltern zu wenig berücksichtigt und verstanden. Ihre soziale Lage, ihr Migrations- und Kulturhintergrund werden nicht verstanden.
Entweder es wird die Unterstützung der Eltern bei notwendigen Erziehungsveränderungen und Bildungsmaßnahmen gewonnen oder dies geschieht rigoros ohne sie. Drohen oder „Nichteinmischung“ sind Unsinn, es braucht Überzeugungskraft, Kenntnis und Konsequenz.
Bei der Mutter, der Schwester und den Zwillingen kamen wir ein Stück vorwärts. Das Verhalten des Vaters konnte nur in andere Bahnen gelenkt werden.
Das aller entscheidendste, die Eigenaktivität und Selbstveränderung muss von den Kindern selbst ausgehen. Es ist Aufgabe der Schule diese zu fördern, sie zu provozieren. Das gilt im Besonderen auch für Zwillinge!
Immerhin macht dieser Bericht deutlich wie vielfältig und komplex Erziehung, Lernen im Allgemeinen und im besonderen Zwillingsfall mit einander zusammenhängen.
Perspektive
Die Geschichte ist nun über 10 Jahre her. Aus den Kindern sind Erwachsene geworden. Ich bin froh, dass sie an unserer Schule waren. Zumindest
verdanken wir ihnen und hunderten von anderen Kindern, einiges gelernt zu haben.