Walter Hövel
Was vermittelt Schule?
Geht Lernen besser?
Geschrieben etwa 2015
Biographische Vermittlungserinnerung
1949 geboren, blieb ich die ersten zwei Lebensjahre ohne Beschulung. 1951 kam ich in den Kindergarten und bald, 1955 in die „Volks“schule. Es folgten das Gymnasium, die Hochschulausbildung
und 36 Jahre Schul“dienst“. Ein Leben in der Schule?
Ich hätte es auf 42 Dienstjahre bringen können, wenn es da zwischen 1973 und 1979 nicht ein paar „sinn“-lose Jahre gegeben hätte. Ich füllte sie sinnvoll mit Hochschulpolitik, Reisen, Lebens- und Wohngemeinschafts-, vielen Arbeitserfahrungen, ein paar Stunden zum Geldverdienen im Grundschulhaus-aufgabensilentium, an der Volkshochschule, an der Fachoberschule, der Berufsschule, und ein paar von mir ausgesuchten Seminaren an der Uni, die mich wirklich interessierten.
Eigentlich begeisterte mich nur die Psycholinguistik. Ein junger Professor, Theo Lewandowski, hatte in Moskau gelernt und brachte Leontiew, Rubinstein, Wygotski, Galperin und viele andere mit. Ich begegnete einem wissenschaftlichen Modell des Lernens, dass mir eine Alternative zu meinen eigenen Schulerfahrungen und den bei uns angebotenen Zufälligkeiten zwischen offizieller Didaktik und Reform"pädagogik" à la Petersen und Montessori bot.
So stehen hier und heute neun Jahre ohne (oder mit weniger) Schule, 57 Jahren auf der Schulbank gegenüber.
Ich habe alle Lerninstitutionen von Kindergärten über die Volksschule, das Gymnasium, die Berufsschule, die Fachoberschule, die Volkshochschule, die Hauptschule, die Gesamtschule, die Grundschule bis zur Uni, mit Ausnahme der Realschulekennengelernt, das Gymnasium „nur“ als Schüler. Ich arbeite immer noch an PHs, FHs und Unis. Wenn ich also streng mit mir bin, habe ich 64 Jahre mit oder in der Schule verbracht.
Wenn ich mir die Frage stelle, und um sie geht es mir, wo ich am meisten gelernt habe, kommt die Antwort direkt: auf der Straße, in der Hochschulpolitik, als Pfadfinder, auf Reisen, in Beziehungen, in Gesprächen, beim Lesen, auf Treffen und bei der Planung solcher in der Pädagogik-Kooperative und vor allem beim Lehren. Und, es waren zu aller erst Menschen, tausende Schülerinnen und Schüler, die „eigenen“ Kinder, die Begegnungen mit Ideen, Taten, Gedanken, Persönlichkeiten von Maria, Uschi, Ute, Wolfgang, Lutz, Paul, Sepp, Ellen, Angela, Ulli, Rolf, Hartmut, Giovanni, Udo, Jenny, Eva, Marta, Falko, Jürgen, und, und, und. Es waren die nicht immer leichten Begegnungen mit mir selbst, mit anderen, mit der Familien- und Gesellschaftsgeschichte und mit den Inhalten und Formen des Lebens.
In der Schule gelernt? Da fällt mir sofort die Frage im Interview von Precht mit Hüter in 2014 ein: „Wissen Sie noch, was Sie im 9. Schuljahr gelernt haben?“ Oder Christian Füller in einem taz-Artikel: „Pisa 2003 International Plus’ hat im Kern folgende Ergebnisse zutage gefördert: 40 Prozent der Zehntklässler können in Mathematik kaum Lernfortschritte verzeichnen, 20 Prozent von ihnen büßen sogar mathematische Kompetenzen ein. In den Naturwissenschaften sieht es ähnlich aus. Auch hier werden 20 Prozent der Schüler derzeit schlechter. “Wir sind davon ausgegangen, dass Schüler etwas dazulernen. Warum machen wir sonst Schule?"
Als Schüler gab es für mich Lernerfahrungen vielleicht bei der Begegnung mit der Literatur in deutschen und amerikanischen Kurzgeschichten. Vielleicht gab es die Erlebnisse beim „Singen im Schulchor, beim Verstehen der Swingmusik oder bei der Wirkung von Farben. Vielleicht noch „Orwells‘ 1984“, die Begegnung mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, oder wieder, diesmal englischen Kurzgeschichten.
Vielleicht noch, dass es neben schlagenden und abwertenden Lehrern solche gab, die einem halfen und schützend die Hand über einen hielten.
Sonst? Nein, da gibt es eine zu große Fülle von Zwang, Gewalt, Diskriminierung, Erniedrigung, Langeweile, unnützen Antworten auf die nicht gestellten Fragen, leerer Lernstoff. Als Lerner musste ich in Schule mehr als 15.000 Stunden investieren - und der Staat investierte sie in mich.
Was kam dabei heraus? Im zweiten Schuljahr entdeckte meine Mutter, dass ich alles auswendig lernte und so das Lesenlernen umgangen war. Mit 30 Jahren schaffte es Wolfgang Mützelfeldt mich auf einer Fortbildung das erste Mal wieder für Physik zu interessieren. Mit 16 lernte ich Englisch nicht in der Schule, sondern in England. Ich las mein erstes Buch mit 14 und schrieb mit 18 meinen ersten eigenen Text nach 12 Jahren „Schreibunterricht“. Meine Arbeit zum Zweiten Staatsexamen befasste sich mit Rechtschreibung. Das Seminar wollte mir erst das „sehr gut“ nicht geben, weil ich so viele Rechtschreibfehler in der Arbeit gemacht hatte. Meine Handschrift war schrecklich. Meine Abidurchschnittsnote war eine 3,6.
Ich hielt mich für ein dummes Kind, einen desinteressierten Jugendlichen und als Erwachsener empfand ich mich – außer bei Freunden - immer als Außenseiter. Noch in der PH habe ich nicht wirklich verstanden, worüber die Leute vom Lehrstuhl herab eigentlich redeten.
Erst bei Wygotski, den Freinets, Makarenko, Pina Bausch, Dewey, Boal, le Bohec, Kipling, Gramsci, Mandela, Lem, Erich Fried, Max Ernst, Georg Kreisler, Maxim Gorki, John Lennon, Ute Geuss … begann ich Pädagogik zu entdecken, ich begann, meine Vorstellung vom Lernen (wieder) zu (er)finden.
Ich wurde Lehrer, weil ich irgendwann schon als Kind merkte, dass ich anderen etwas erklären konnte. Ich konnte sie ermutigen, für etwas begeistern oder - wie Jürgen Sellge sagte - „sie fliegen lassen“. Es ging einfach und es ging einfach.
Schule und ihre Art des Lernens hatte ich spätestens mit Eintritt in das Gymnasium als etwas Unverständliches und Lernbehinderndes erfahren. Schule „lernte mir“, dass ich nicht nur zu dumm, sondern auch zu faul zum Lernen war. Und es wurde täglich bestätigt, da ich eher nicht verstand, um was es gerade ging.
Heute weiß ich, dass ich leicht autistisch und begabt bin. Als „Arbeiterkind“ bestand ich die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium. In den Folgejahren brachte ich mir ohne die Hilfe meiner Eltern alles so bei, dass ich das Abitur schaffte. Zuhause konnte niemand mit mir lernen. Den ersten Nachhilfelehrer sah ich mit 16 im Spiegel, weil ich damit Geld verdiente. Ich hatte keine Ahnung, was ich im Studium lernen sollte und faktisch lernte. Ich weiß nur, dass ich meine Prüfungen zum Lehrer bestand und plötzlich ein „sehr gut“ unter meinen Examensarbeiten stand. Plötzlich liefen auch alle Unterrichtsbesuche und Revisionen so ab.
Nach ein paar gewerkschaftlichen Ausflügen in Vorständen, Hauptpersonalrat und Lehrplankommission war ich plötzlich in Schulleitung und Dozent an Universitäten.
Lernvermittlung von Menschen und Situationen
Und wie ich jetzt lernte! Ich sog in der Begegnung mit anderen Könnerinnen und Könnern des Metiers alles auf, was sie als lernende Lehrerinnen und Lehrer, Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen, Schauspielerinnen, Philosophinnen, Schreiberinnen, als authentische Menschen
anboten und konnten. Ich hörte über 30 Jahre von Hauptschülerinnen, Grundschülerinnen und Studentinnen im In- und Ausland Vorträge über Themen, die sie selbst aus Interesse ausgesucht hatten. Ich
hörte über 5000 dieser Originale. Ich lernte das darzustellen, was in den Lernumgebungen, die ich mit Menschen gestalten konnte, geschah.
Ich hatte meine Art zu lernen nicht den Didaktiken, Curricula oder Unterrichtsstunden der Schule, sondern Menschen, in ihrem Leben lernend und lebend, zu verdanken.
Ich hatte zwar gelernt „Unterricht zu machen“, mich und die anderen aber nie vom „Lernen“ abhalten lassen. Ich begriff zunehmend Systeme, ohne dass sie mich beherrschten (oder ich sie). Ich löste, wo immer es ging das System des „unterrichtlichen Lehrens“ auf. Ich nutzte Schule als ein Ort unter vielen, der Entwicklung von (meinen) Lernmöglichkeiten erlaubte.
Einer meiner Vorteile war, dass ich als Unterschichtler nie vergessen hatte, wie Unterschichtler lernen und ich als Unterschichtler begreifen musste, wie Mittel- oder Oberschichtler denken und lernen müssen. Ich hatte Respekt, aber nie Angst vor demokratischen Regeln, noch davor Verantwortung zu übernehmen.
Zunächst gelang es mir Lernen, ob als Unterricht getarnt oder nicht, zum Mittelpunkt des Lernen selbst zu machen, beginnend in der Hauptschule, über die Grundschule bis hin zu universitären Seminaren. Ich begegnete zunehmend „Prüfenden“, die mein Verständnis vom Lernen als „guten Unterricht“ ansahen.
Was Schule mir nicht hatte vermitteln können, eignete ich mir zum einen Teil durch das Vorbild der vielen Meister, die mir begegneten, zum anderen Teil aus mir selbst heraus an. Hier war es gerade die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser Menschen und ihres Könnens! Erkenntnisse und Wissen begegneten mir im Leben der Schule, weniger im Lernen der Schule, wie ich sie als Schüler oder Besucher der Normal-Schule erlebte. Häufiger lernte ich im Lernen außerhalb der Schule etwas über das Lernen.
Lerndemokratie leben
Ich fand für mich zwei grundlegende Elemente meiner praktizierten Lerndemokratie: einerseits das selbstbestimmte Lernen aus dem kooperierenden Kreis heraus und andererseits das von den Lernern
ausgewählte Lernen in der offenen Begegnung mit Themen und Meistern.
Ausgehend von meiner Begegnung mit der Freinetpädagogik entwickelte sich meine Vorstellung von einer Öffnung des Lernens. Diese macht den Lernenden möglich zu den eigenen Inhalten und Arbeits- und Lernstrategien zu finden. Sie lernen gemeinsam aus dem Klassenrat heraus die eigenen Themen, sich selbst und ihre Sicht, ihre Meinung, über die Welt zu finden. Der andere Zugang ist der, den wir an der Grundschule Harmonie „Kinderuni“ nannten. Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung der Universität als freier Ort in der Gemeinschaft der Lernenden und Lehrenden und dem Aufbau des Bauhauses der 1920er und seiner Pädagogik, entwickelten wir ein System einer demokratischen Lern- und Lehrgemeinschaft. Das Lernen wird hier von Kindern und Erwachsenen, auch Eltern und Geschwistern, angeboten. Oft kommen diese Menschen von anderen Schulen, aus der Kommune, aus den regionalen und internationalen Netzen der Schule. Die Lernenden entscheiden grundsätzlich wo, wann und bei wem sie lernen. Wir forderten nicht von ihnen, wir förderten sie.
Handwerker und Künstler
Freinet sagte irgendwann, dass „seine Bewegung der Modernen Schule“ eine Bewegung von „Handwerkern“ sei. Welch eine Anlehnung an das Denken seiner Zeit: Massenbewegungen sorgen für Veränderungen
und diese gestalten kann jeder, der sich nur zum Handwerker ausbilden ließe, mit gestalten.
Dazu setzte er, wie es einem der fortschrittlichsten Gedanken seiner Zeit entsprach, den Gedanken der kooperativen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen. Diese Kooperation, - die der seit den 68igern existierenden Freinetbewegung in Deutschland als „Pädagogik-Kooperative“ zunächst den Namen gab, - sollte weit über den Bildungsbereich hinaus in die alternativ-sozialistische Gesellschaftsordnung „einer neuen Zeit“ hineingreifen. Aber diese erfolgreichen, „die Bewegung“ bildenden Handwerker habe ich, weder in der Freinetpädagogik, noch sonst wo gesehen!
Aufgefallen sind mir die Künstlerinnen und Künstler, denen ich begegnete! Sie waren es, die Lernen manchmal in der Schule, am liebsten in allen Lebensbereichen anders gestalteten, provozierten und eigene Wege des Lernens zuließen und erprobten. Sie blieben in der Tradition der Menschheit. Schließlich lernt sie seit vielen Millionen Jahren. Schule in der heutigen Form bringt es nicht mal auf 300 Jahre. Alles, was wir heute können, haben wir uns selbst beigebracht. Nicht mehr – und nicht weniger!
Ich denke, Freinetpädagogik, oder besser die „Bewegung der école moderne“, noch andere pädagogische Weiterentwicklungen, werden nicht von Handwerkern geprägt, sondern von Künstlerinnen oder Künstlern. Künstler von heute benutzten die Freinetelemente nicht mehr als "Freinet", sondern für das eigene Tun in der heutigen Zeit. Ich denke, dass eine echte Freinet pädagogische Praxis auch heute noch an Orten, wo sie stattfindet, der Zeit voraus ist. Ich denke aber auch, dass bei den Menschen, die heute Schule von Morgen denken und schon in Praxis umsetzen, „Freinet als aktuelle Pädagogik“ passé ist. Der alte Gedanke von einer besseren Schule stimmt nicht mehr. Der aktuelle gesellschaftliche Anspruch an das Lernen der Menschen beginnt in diesen Jahren die Wirklichkeit von Schule im Sinne von „Lernen in der Gesellschaft“ grundlegend zu ändern.
Alter Wein kann nicht ständig in neue Schläuche gefüllt werden. Alter Wein wird gelagert und oft gerne getrunken. Neue Ernten bringen neue Qualitäten!
Die Zukunft braucht die heutige Schule nicht, sondern ein besseres Lernen!
Die heutige Schule
wird ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können. Die Schule der Zukunft, wenn sie dann noch „Schule“ heißen müsste, kann nicht mehr die unterrichtende, testende und selektierende Veranstaltung zur
Belehrung funktionierender Absolventen sein.
Freinetpädagogik darf nicht als Gegenkonzept zur heutigen Schule missverstanden werden! Dies konnte und kann sie nicht leisten!! Es endet höchstens in ein paar Privatschulen. Vielmehr geht es darum, zu verstehen wie es der Freinetpädagogik gelang ein anderes Lernen mit zu entwickeln und diese Theorie und Praxis bis in die Gegenwart zu transportieren. Dieses Wissen über das Lernen wird in einer Periode der Abschaffung der jetzigen selektierenden Schule gebraucht.
Auch noch mehr freinetische oder andere Künstlerinnen und Künstler bringen eine Reform der Schule! Noch so gute, besser qualifizierte Fachlehrerinnen und Fachlehrer, noch so gut ausgebildete und erziehungswissenschaftlich gebildete Pädagog*innen werden dem ständig wachsenden Anspruch und der wachsenden Geschwindigkeit des Lernens immer weniger gerecht werden können.
Wir werden das ganze Dorf zur Erziehung und zum Lernen brauchen. Und da wir kein anderes Dorf als das unsrige haben, wird „das Dorf“ eine andere Form des Lernens lernen müssen. Alle vorhandenen individuellen und wissenschaftlichen, elektronischen, technischen und kulturellen Kompetenzen werden allen Lernenden in dem Maße zugänglich gemacht werden müssen, wie diese die Menschen und ihre Gesellschaften brauchen.1
Dies wird keine „école moderne“ mehr sein. Wenn wir nicht wollen, dass unsere Schulen zu gesellschaftlich unter- oder über-privilegierte Aufenthalts-stätten für Kinder werden, werden wir uns in der Gänze der Gesellschaft der Frage des guten Lernens stellen müssen.
Dieses Denken des Lernens gilt es weiter zu entwickeln.
1 Walter Hövel. Kinder brauchen das ganze Dorf. In: Rabensteiner/ Rabensteiner. Internationalization in Teacher Education. Interculturality. Volume 2. Schneider Verlag. 2014. S.187-214
Jürgen Sellge. Die Grundschule Harmonie. Eine Hommage an Walter Hövel. Erster Teil in Heimatblätter 2020. Buchholz 2020. Download: https://www.walter-hoevel.de/grundschule-harmonie/hommage-an-walter-h%C3%B6vel/