Ich war mit 73 auf einer Fete bei Jürgen und Katja Sellge, mit Menschen, die ich seit 20, 30 Jahren kannte, wichtige und unwichtige. Auch seine Kinder, seine Schwester und Eltern waren da.
Dort war auch Matthias von ..., ein Redakteur der Deutschen Welle. Er ist mit mir in Jürgens Philosophenkreis. Er traf auf ein Kind, - ein Sohn von Ihm, - oder auch nicht. Ich hörte nur seine Begrüßung des Kindes. In meine Ohren kam „Na, du Nazi“. (Später erfuhr ich, der Junge heißt „Nati“) - Ich dachte „Eu!“
Walter Hövel
Mein „Dilemma“, unser Denken
Es gibt verschiedene Arten die Welt zu sehen. Ich begegnete einer.
Ich verstand Jürgen nicht. Er wollte mir sein unwissenschaftliches Verständnis des Horoskops vermitteln. Es gelang ihm bei mir nicht. Oder mir gelang es nicht, ihn zu verstehen. Ich verstand nichts, hatte keinen Zugang.
Ich sehe keinen Unterschied zwischen Häusern, Schauspieler*innen, Stücken, Regisseuren oder sonst was. Ich merkte nur, dass Jürgen viel von seiner Weltsicht hat. Er ist ein toller Schauspieler. Er kann sich in Menschen, sie erspürend, hineinversetzen.
Ich wollte nur noch flüchten. Ich schaute immer wieder zu der mich rettenden Tür. Ich wollte gehen, mich für immer von diesem Kreis verabschieden. Ich kam mir so unfähig und nichts-wissend wie als Kind und Jugendlicher vor.
Ich hielt - wie immer - aus. Ich nahm Abschied von den Menschen, und war zum letzten Mal in dieser Umgebung. Ich wollte nur raus. Ich war gelähmter als je zu vor. Ich hatte keine Antwort. Nur die eigene Flucht blieb mir. Ich fühlte mich seit Jahren so, wie ich mich wohl als Kind fühlte.
Dann sagte Jürgen Sellge Worte, die meine waren: „Mein ganzes Leben wollte ich nie bürgerlich sein. Nun denke ich so.“ Er fuhr fort: „Die Struktur horoskopischen Denkens übernehme ich seit Jahrzehnten. Aber ich übernehme nicht die Theorie dahinter“.
Vorher sprach er von „dem wichtigsten Menschenrecht“, dass jeder Mensch, ob in Syrien, Deutschland, Brasilien oder Kenia, das gleiche Recht auf Würde hat. Es ist mein und sein Essentiell des bürgerlichen Wissens.
Er sagte viel mehr. Nur das hörte ich. Alles andere wurde mir unwichtig. Ich hatte nichts mehr zu sagen. Es kam mir wie zwei Stunden vor. Meine Lähmung dauerte sehr lange.
Dann meldete ich mich zum ersten Mal seit Beginn seines Vortrags. Meine Gedanken der letzten Tage kamen in meinem Denken wieder nach vorne.
„Ja, auch in meinem Denken steht zuerst die Würde jedes Menschen. Ich denke bürgerlich. Unser heutiges
Denken gibt es erst seit den „Bürgerlichen“? Aber da sind nun fast acht Milliarden, bald neun, zehn, elf Milliarden Menschen, die unsere Produktionsweise ernährt. Aber spätestens bei 17 Milliarden ist Schluss. Dann geht es nicht mehr.“
Jürgen nannte das, sein „Dilemma“ seines Denkens. Ich übernahm den Begriff. Er wurde zum Gedanken der Angst.
Eine allgemeine Ratlosigkeit machte sich breit. Alle wollten überleben, alle „wollten die Mensch-heit und die Menschenrechte retten“. Aber es geht nicht. Alle lieben das eigene Leben, ihr bequemes Leben, das besser denn je ist.
Sie wollen überleben und erwarten gleichzeitig Millionen von Menschen in ihrem Land, gegen deren Ankunft sie sich retten wollen. Jürgen sprach aus, was viele denken. Sie wollen sich auch durch Mord retten.
Hier liegt das zu Lernende, aber auch unsere Angst. Vielleicht bin nur ich es, der lernt auch andere zu sehen, sie ernst zu nehmen.
Die Frage nach der Lösung kam. Ich meldete mich wieder. Ich sage: „Alle Menschen müssen sterben. Wir können lernen zu sterben.“ Ich dachte an unsere Geschichte als Menschen. Lebten wir z.B. im „Mittelalter“ nicht über Tausend Jahre, um sterben zu können?
Innerlich grinsen musste ich, dass Jürgen den neuesten Spektrumartikel zitierte, der feststellt, dass eine „Riesenwelle drei Minuten nach dem Sterben in unseren Gehirnen losgeht“.
Dann, zum Abschluss, Jürgen liest aus dem Buch vor, das sein Leben prägte. Ich kannte die Zeilen von meiner Rezension: Akron – Arjun. Die Goldenen und die Glocke am Ende der Zeit, in der Edition Akron. (https://www.walter-hoevel.de/tod/rezension-zusammenfassung/, https://www.walter-hoevel.de/tod/rezension/ ) Hier gelang es mir mit Tod, Sterben und Freiheit auseinanderzusetzen. Charles war soweit, dass er sterben konnte.
Zuvor zeigte uns Jürgen Bilder der Menschen, die ihn in seiner Jugend beeindruckten. Ich hatte sie damals und auch noch heute auch.
Später sagte Jürgen, „auf welchem hohen Niveau ich denke und wie wichtig in diesem Kreis bin“. Es war mir nicht wichtig. Ich war mir nicht wichtig. Aber ich war lange versöhnt. Ich werde sterben.
Mein Tod, die Stunden – wie wir es messen - meines Lebens waren anstrengend. Ich habe nichts gelernt. Kein Problem ist gelöst.
Am Samstag dieser Woche habe ich das 55jährige Abiturtreffen „meiner Klasse“. Hier habe ich keinen Freund. Es sagte jemand: „Du ruhst in dir“. Schöne Unruhe!!
Jürgen besuchte mich. Auch dieses Gespräch war zwar „befreiend“, aber nie einfach für mich.
“Freundschaft und der Tod sind mir bekannt, aber auch Freundschaft und Leben, beides scheint sich die Hand zu reichen.“
(Jürgen Sellge)