Walter Hövel
Rezension
Akron – Arjun
Die Goldenen und die Glocke am Ende der Zeit
Ich habe dieses Buch nicht an „einem Stück“ gelesen. Immer wieder unterbrach ich in meinem Alltag und mein Denken unterbrach mich. Oft war ich begeistert, oft wollte ich widersprechen, oft las ich Dinge zweimal, oft sah ich Jürgen (Arjun) vor mir. Manchmal wusste ich nicht, ob Arjun oder Akron, Charles oder Jürgen, wer von beiden gerade schrieb.
Ich kenne Jürgen fast 25 Jahre. Ich lernte trotz seiner und meiner Anstrengungen kein Gefühl für Rhythmus in einem seiner Trommelkurse. Wir lernten uns über den Umgang mit Kindern kennen. Er schickte uns Schulbegleiter*innen, denen wir nicht erst beibringen mussten, dass Kinder Menschen sind. Wir haben eine sehr ähnliche Vorstellung von Pädagogik.
Viele Jahre saßen wir Woche für Woche im regionalen Arbeitskreis Inklusion und realisierten gemeinsam und in der Gruppe unsere Ideen zum Zusammenleben der Menschen. Ich nahm Jürgen mit als Referent in mein Seminar an der TH Köln. Langsam wuchsen und wachsen wir zusammen. Es erfreut einfach meine Seele mit einem Menschen zu reden und zusammen zu sein, der so viele Gedanken, so viel Denken, Esprit und Gefühl entwickelt. Er gibt gegenseitige Anerkennung, die ich nicht bei vielen suche und bei wenigen finde. Gut einmal im Monat finden wir ein Gespräch bei ihm oder mir.
Ich liebe die Gespräche mit Jürgen … und so las ich „sein“ Buch. Es ist eine andere Welt, aber auch meine. Ich versuchte mich nicht zu „verstricken“, ... Mein Selbstbild (übrigens auch nicht das von Jürgen) ist nicht das Bild eines „Esoteriker“. Ich traf zu viele Sannyasins, „selbst ernannte“ Buddhisten, „gläubige“ Esoteriker und „wahre“ Christen.
So begegnete ich sofort beim Lesen des Texts meinem Religionslehrer am Gymnasium vor 60 Jahre, Herrn Robens. Er war der Beichtvater von Kardinal Frings und ein „Jesuit“. Er begeisterte mich vom Priesteramt, weil er mir „Techniken des Dahinterschauens“ versprach. Ich blieb aber bei mir und suchte meine schon als Kind vorhandene Vision der „Vollendung mit und in einer Frau“. Und es siegte mein „Linkswerden“.
„Wir sollten begreifen, dass uns der ausschließlich am Vergangenem ausgerichtete Verstand keine Lösungsansätze für zukünftige Probleme vermitteln kann, da er Lösungen nur aus dem Anerkannten und keinesfalls aus unbekannten Schlussfolgerungen zu ziehen vermag.“ (Seite 17)
Sowohl dieses als auch anderes Denken ist nicht auszurotten, weil es weiter gedacht wird. … „Das wiederum gleicht exakt der Position des lächerlichen Egos, das nur darauf erpicht sei, eigenes Nichtverstehen dank der Anerkennung anderer vor sich selbst auf Distanz zu halten.“ (Seite 18)
Vieles verstehe ich nicht, vieles erahne ich nur. Oft vertue ich mich auch. Ich folge gerne anderen Gedanken. Manchmal verwerfe ich sie erst nach Jahren, manchmal finde ich zu alten zurück.
Ich ändere mich auch selbst. Ich weiß nie genau, was „richtig“ und „falsch“ ist. Mir fällt das Denken anderer auf, manchmal beeindruckt eigenes Nachdenken andere. Ich weiß, daß ich Überlegen liebe.
Es ist (ich bin, wir sind (?)) eine Mischung, aus Verstand, Fühlen, Ahnen, Ästhetisieren, Zeitanerkennung und nicht, aus dir, anderen, den Mirs, aus Gesagtem, zugehörten und „nur“ gehörten Gedanken, Stimmungen, Erhofftem, Hoffnungen, Wünschen, schlechten Erfahrungen, aus Geschriebenem, Gemaltem, wieder Gesagtem, Geplappertem, Erlebtem, Reflektiertem, Erkenntnissen, Priorisierungen, Gebildetem, Ausgebildetem, aus Träumen, Begegnetem, Zeitgeist, Anerzogenem, aus der eigenen Ruhe Kommendem, aus Geistesblitzen, aus mühsam selbst Erarbeitetem, Erinner-tem, Zufälligem, Willen und Wollen, Kraft und Schwäche, Handelndem, Geschichte, persönlichem Werdegang, Mut und Feigheit, dem Freiheits- oder Sicherheitsbedürfnis, Sturheit oder Flexibilität, dem Vergleichendem, aus Unterstelltem bei dir und anderen, Wiedergefundenem, neu Erworbenem, Bekanntem, Wiederholtem, Unbewusstem oder aus vielem Anderen.
Nur die Langeweile bringt mir wenig. Ich fürchte einen Tod voll Langeweile. Ich bin immer auf der Suche. Zu oft verwechsele ich Langeweile mit Ruhe. Ich treibe die Zeit. Ich gebe mich mit meinen Ergebnissen zufrieden. Mit den anderen lebe ich gerne, so na ja, oder nicht gerne. Ich muss aber jeden Menschen und sein Denken akzeptieren.
Ich sehe Karl-Heinz. Er hat noch einen Monat bis drei zu leben. Er sitzt auf seinem Balkon und
findet das Leben toll. Aber er redet wenig über Leben und Tod. Wie so viele Menschen. Ich muss das so annehmen und rede und schweige mit ihm.
Mir ist nichts „wesentlich“. Ich komme mir vor wie ein egoistischer Altruist, der keinem weh tun möchte, aber verletzen kann. So lese ich „dein“ Buch und rede über „mich“...
Menschen sind immer unter- oder überlegen, selten gleich. Du schreibst:
„Als Seminarleiter war er mir meistens überlegen, weil er die Leute mit dem Klang seiner Stimme berühren konnte. Doch bei einem Buch ist es natürlich anders. Da kann man mit der Vielschichtigkeit und Brillianz einer Aussage punkten.“ Ich mag Jürgens Ideen, sein Daraus-machen, sein Erforschen, seinen Lebensweg, seine Art Dinge des Alltags und des Denkens zu sehen. „Es war (ist) einfach eine gegenseitige geistige seelische Übereinstimmung...“
Ich mag ihn, weil er so viele von ihm unerkannte Fähigkeiten hat.
Ich ärgere mich über mich selbst, da ich viele meiner eigenen Notizen im Buch nicht mehr lesen kann.
Ich mache meine Gedanken übrigens ohne „Stoff“, anders als John Lennon oder Shakespeare. Ich bewundere sie, aber finde keinen Gefallen an Kiffen oder anderen Drogen. Manchmal denke ich im Kreis, zu altbacken oder denke nicht. Ich liebe aber Gespräche mit Menschen. Es sind wenige, die ich „finde“, meistens sind sie mir zu schmalspurig, aggressiv oder „Schuld“ suchend. Die meisten „Verrücktheiten“ oder „Erklärungen“ höre ich bei anderen. Jürgen ist einer meiner „Großen“. Ihm vertraue ich.
Es ist eine Sehnsucht, die ich immer spüre. Ich sehne mich, bin aber auch süchtig nach Erkenntnis.
Seite 25: „ Der Mensch, als Teil der Zelle des Einen, ahmt die Suche und Sehnsucht nach sich selbst nur nach.“ Dabei weiß ich nicht, was „die Zelle des Einen“ ist, noch was ich „selbst“ bin. Beim „Einkuscheln ins höhere Selbst“ finde ich einen Weg, aber als Ziel erfahre ich immer „nichts“ oder höchsten meinen Hunger nach Übergängen anderer.
„Es schien immer nur ein wirkliches Thema zu geben – Beziehung.“ (S. 26)
Ich liebe Beziehungen, finde aber wenige, zu Männer und Frauen. Ich suche die Beziehung zu mir. Ich bin mir zu unwichtig. Ich arbeite an der Aufmerksamkeit zu mir selbst, indem ich andere verstehe. Ich lerne das Entscheiden. Ich gebe mir Ver-Antwortung auf Fragen, die ich stellen kann.
„Es war unser Hunger nach Verbundenheit, der im Wesentlichen der Nährboden unserer Freundschaft war.“ Es kann aber auch der Charme der Alternative, des Anderssein der Anderen sein.
Wichtig scheint mir „ die Haltung von Demut und Bescheidenheit“( S.27).
Es kann aber auch die andere Haltung, das Wichtignehmen der eigenen Verkopfung und gleichzeitigen Relativierung sein.
Charles und Jürgens Denken, ihre Sprache regt mich da auf und an. Ich war noch nie ein Freund „von Demut“. Als Kind der Nazizeit wurde sie immer von mir verlangt, ein Professor verlangte sie in meiner Studentenzeit als pädagogische Tugend. Heute kann ich mit ihr als persönlichem Wert umgehen, weil ich sie nie akzeptierte. Ich will keine Herrschaft.
Meine Gedanken ab Seite 31
Vor 10 oder 20 Jahren hörte ich ausgerechnet einen katholischen deutschen Kardinal reden: „Er wurde in das ewige Leben hineingeboren“. Der Satz beeindruckte mich. Aber was meinte er mit „ewig“ oder „Leben“ ?
Er meinte sicherlich nicht alleine das menschliche Leben. Das ist erst 1 bis 4 Millionen Jahre alt. Er meint einen längeren Zeitraum. Noch spannender war für mich mein eigenes Leben. Es dauert 70 bis 100 Jahre, wie die Menschen ihre Zeit rechnen. Es sind die sich veränderten Drehungen der Erde um die Sonne. Meinte er das tierische, das pflanzliche Leben, das des Kosmos und der Materie? Meint er unsere „Zeit“? Meinte er das Leben auf und von anderen Planeten, in anderen Galaxien, anderen Räumen,...?
Spannend finde ich, dass es nicht nur ein Ende gibt, sondern auch einen Beginn. Ich werde/wurde gemacht. Erst als Embryo im Mutterleib, dann ging es durch einen Geburtskanal Ich beginne zu lernen, oder etwas, was wir Menschen so nennen. Mit uns leben Milliarden von Menschen, viel mehr Tiere, Pflanzen, Pilze und so viel „unbelebte“ Materie.
Ich lebe, erlebe meinen Kosmos. Heute erahne ich, dass dies nicht
der erste und einzige ist.
Auf jeden Fall „lebe“ ich vor und nach meinem „Leben“ nicht. Ich bin tot. Ich werde in „das ewige Leben“ hineingeboren. Das da etwas nicht stimmt, merk(t)e ich, wenn ich mit der
menschlichen Logik meiner Eltern und deren Vorfahren „rechnete“. Die Zahl meiner Vorfahren potenziert nämlich von Generation zu Generation. Ich komme schnell auf Trillionen von Vorfahren. Die
hatte ich aber sicher nicht. Sie existierten nach unserem Denken nicht ...
Ich trete also „unsere Reise“ nicht dort an, „wo der Mensch das Ende seines Weges hinprojiziert bzw. zu wissen glaubt.“
Es gibt wohl „Ausnahmen“, Amöben, Einzeller, Steine, … sie „leben“ ewig, zumindest in unserer Welt. Aber das scheint nicht das „Erfolgsrezept“ des Lebens zu sein. Das Geborenwerden, Sterben und das Konzept von Frau und Mann kommen häufiger vor. Vielleicht „knacken“ wir das mit künstlicher Intelligenz, mit der Technik der Maschine...
Beeindruckend finde ich das Zitat von Arthur Schopenhauer:
„Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten.
Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.“
(Sicherlich war Schopenhauer ein Kind seiner Zeit,
antifeministisch und antisemitisch. Ich finde Schopenhauer nicht toll. Er schrieb aber Wichtiges über den menschlichen Tier-Rassismus.)
Ich glaube, das das Geheimnis des Lebens kein Geheimnis ist. Ich denke, dass wir unseren Gedankenturm um etwas errichtet haben, um zu erklären, was mit uns geschieht, während wir in dieser Welt leben. Sehr oft ist es nur eine Erklärung für unserer Einlassen in Herrschafts- und Machtglaube.
Ich glaube, es ist wie es ist. Die Materie, der GEIST der Materie formt uns Menschen auf der Erde zu etwas, das denken kann. Wir benutzen, wie alles andere, jedes und jeden im Kosmos, was wir Denken nennen. Wir errichten unsere Gedankengebäude, um in Knechtschaft oder Gleichmut zu existieren.
Mehr können wir, die im Leben stehen, nicht!
Ständig versuche ich das Ich von meinem Selbst zu unterscheiden. Ich kann es aber nicht. Bin ich deshalb „losgelöst von meinem Egozentrismus“? (S.32).
Ich weiß noch nicht mal, was das bedeutet.
Kenne ich “das Fegefeuer des träumenden Selbst“? (Zudem ist diese „Reinigung“ eine sehr suspekte Erfindung der Katholiken. Das „Selbst definiert Wikipedia als „ein uneinheitlich verwendeter Begriff mit psychologischen, pädagogischen, soziologischen, philosophischen und theologischen Bedeutungsvarianten. Im Sinn der Selbstbeobachtung, also in Bezug auf die Empfindung, ein einheitliches, konsistent fühlendes, denkendes und handelndes Wesen zu sein, dient er zur Reflexion, Verstärkung und Betonung des Begriffs Ich. Das Selbst wird verwendet im Sinne des Zentrums der Persönlichkeit.“)
Ich kann einem Lichtkonzept nicht folgen. Ich sehe auch das Dunkel, viele Farben und andere Möglichkeiten.
Jürgen zwingt sein Denken nicht auf!
Es bleibt Platz für meine
Entscheidung.
„Die 5. Dimension ist der Lebensfunke, der die Kreatur aus toter Materie
zum Leben erweckt.“
Pierre Sens, Physiker, 2014
Genau so gut könnte ich sagen:
„Ich lebe in der Dimension des Lebens. Um mich herum lebt der Tod.“
Ich mag Lillet, oder wie sie genannt werden mag, schon seit sehr vielen Jahren. Ich identifiziere mich gerne mit ihr als die Lernende, die die sich von der brennenden Frage nach ihrem Ursprung und Sinn antreiben lässt. Sie ist schon immer die Partnerin, zu groß für mich, die ich suche. …
„Sonst bliebe die Frage unbeantwortet, weil keiner da ist, der (die) die Frage stellt.“ (Seite 36)
Ich beneide Jürgen um die Bilder, die er generieren kann.
Jürgen kann loslassen.
Jürgen lässt zu so zu denken wie er denkt.
Bis Seite 58 verstehe ich vieles nicht. Ich kann auch kaum unterscheiden
was von Charles und was von Jürgen ist.
Ich glaube nicht an „die Liebe“, außer wenn sie passiert.
„Und dennoch konnte nichts Neues geschaffen werden, was schon als Nichts in der Leere vorhanden ward.“ (Seite 61/62)
Ich bin selbst meinem Tod auf der Spur. Es gibt jetzt eine Mitsubishi-Reklame, da sagt einer auf die Frage wer denn „wir“ ist: „Das bin ich“.
„Ich falle aus der Einheit mit den Menschen.“ (Seite 64)
„Deine zukünftige Erinnerung beginnt hier und jetzt“. (Seite 68)
Der Text fällt immer wieder in das Klischee der Esoterik,
er tut es aber sehr persönlich.
„Nur der Tod deines Egos ermöglicht ermöglicht dir den Eingang
ins Reich des alten Wissen“. (Seite 69)
„Wir nennen ihn auch den Seelenverstärker oder Ego-Vernichter, weil er uns vom Leiden (?) menschlicher Ziele erlöst.“
Dann zieht Jürgen vom Schamanismus zum „Frauenversteher“. Ich lerne, was über einen Tesserakten und sehr irdische Denkweisen, bis hin zur künstlichen Intelligenz.
Jürgen scheint Nichts zu finden. Donner und Schläge? Erkennt er, dass nach dem Tod nichts ist?
Wird Naivität gespielt? „Lass alles los“. (Seite 81) Was ist „alles“?
Ich bin immer noch nicht dabei! Beleidige ich dich, ent-täusche ich dich?
Es steigert sich mein Gefühl manipuliert zu werden. Ich fühle mich als Leser nicht angesprochen. Zu oft habe ich das Gefühl nicht „eingeweiht“ zu sein.
Ich meine eine zentristische Weltsicht zu finden: „Du bist das Zentrum, an dem sich von der Peripherie ausgehend alle Punkte schneiden“.
Wieso stürzt der Raum? (Seite 92)
„Auch versuchen wir, noch tiefer in sie einzudringen, um sie von innen heraus besser zu kontrollieren“ ? (S.94)
Dann beginnt der Text mich zu schreiben...
Es beginnt mit den „Anfängen der Menschheit“
„…zog im Laufe weniger Jahrzehnte um die Wende des dritten Jahrtausend eine parallele Form von Intelligenz in die menschliche Gesellschaft ein“
„Die Frage was macht einen Menschen aus? … in der die kapitalistischen Systeme ihre Interessen letztendlich gnadenlos durchpaukten, auch wenn neue Techniken und neuartige Weltsichten gleichzeitig einen tiefgehenden Wandel der Wirtschaftssysteme und Gesellschaftsstrukturen auslösten.“
(alle Seite 101)
„Die dritte industrielle Evolution, digitale Revolution genannt, begann beinahe unbemerkt Ende der 1960er, anfangs der 1970er Jahre“... „Ihre Kennzeichen waren mobiles Internet, leistungsfähige Sensoren, künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen.“ (Das heißt nicht, dass ich ein Vertreter der „dritten industriellen Evolution“ bin.)
„Auf dem gesamten Planeten brachte die Lernbegabung der neuen Lebensformen veränderte Gesellschaftsformen hervor“.
(Seite 103)
„... bis schließlich eine Sättigung erreicht worden war. Die von innovativer Spontaneität in verkrustete Verwaltungsform überging. Auch eine kontrollierte Gestaltung von Freiheit wurde in die Kartographie des Netzes eingebunden;“
Ich mag diesen arroganten Umgang mit dem was uns Menschen so mächtig erscheint. Ich glaube, dass
ihre Stärke sie selbst befrieden wird.
Jürgen schaut ins So-Sein mit Leben, Tod und unseren Träumen. Zu viele Menschen haben Angst. Ich suche nicht die mit Übermut oder Fehleinschätzung. Ich suche Menschen mit Frechheit und Mut, auch
zum Verlieren können.
Jürgen wagt sogar in die Zukunft, (in eine mögliche Konsequenz oder in eine genaue Beobachtung der jetzt üblichen Praxis) zu schauen.
„... wer sich weigerte, an diesem gesichtslosen Sein mitzuwirken, der wurde mit Herausnahme aus dem kompletten Netz bestraft, was entweder die völlige Abschaltung bedeutete oder - als mildere Sanktionierungsmaßnahme - zumindest einen reduzierten Zugriff auf die Datenbanken“... „und schließlich mutierte das ganze System zu einem sich selbst recycelnder Komposthaufen der Wiederverwertbarkeit.“ (Seite 104).
Seite 112:
„Fassen wir zusammen: Das Ego versuchte, über die Tastatur seines Computers den Geist, den Geist einzubinden, und musste scheitern. Der Tesserakt löste sich auf und Charles starb. Der Leser legte das Buch zur Seite und beschloss eine Pause zu machen. Trotzdem ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn Charles wäre nicht er selbst gewesen, hätte er diesen Zustand als endgültig akzeptiert...“
…
Du lässt einen Toten weiterleben. Du machst dich selbst zum Umsetzer der von ihm zurückgelassenen Aufgabe. Du versuchst den Leser in diese Aufgabe mit einzubeziehen. Du versuchst eine Verbindung zum Verstorbenen herzustellen. Jürgen ließ den Leser in den Geist von Charles schreiben.
Warum sollte dir gelingen, woran alle anderen vor dir scheiterten?
Wir konstruieren uns, wir konstruieren unsere Zeiten, unsere Vergangenheiten, Gegenwärte und Zukünfte, unsere Räume, unser(e) Leben, unsere Gesellschaften, unsere Geschichten, unsere Seins, unseren Sinn, alles. Unsere Stärken und Schwächen sind unsere Konstrukte. Doch auch über Unterdrückungen, Kasten und Klassen, unsere spirituelle Erkenntnis hinaus, gibt es keine Erklärung für die „Sinnlosigkeit“ unserer Existenz.
Selbst Kinder finden keinen Grund für ihr Leben, außer dass sie nicht darüber nachdenken. Eine 10jährige Schülerin sagte einmal, als die Frage der Woche die nach dem Sinn des Lebens war: „Ich lerne, lerne bis ich genug gelernt habe, um zu sterben“.
Es bleiben Geschichten und Überlieferungen, Zeitebenen und Erklärungen, Sprachen und Kulturen, das Rad der Zeit, der Zeitgeist und die Zeitgeister, fernöstliche und Wüstenreligionen, Weltanschauungen und Todestheorien, Drogen und Philosophien, Lieder und Träume, Götter und Göttinnen, Magiere und Magie, Holosuites und Matrixe.
Immer wieder begeistert mich das Buch. Die Realität wird immer wieder eingeholt. Mitten im Fabulieren irrealer Szenen wird - z.B. aus Seite 122 - der Satz gesagt: „Was für ein Realitätsdurchschuss“. Der Plot streift immer wieder die fiktionale Integration von Irrealem und realen Situationen. Die Realität oder surreale Gedanke findet immer wieder seine „Wirklichkeit“ in der Fortsetzung des Buches.
Du lässt verschiedene Personen deine Gedanken sagen.
Und du hast viele! Und viele geniale. Und viele verschiedene, auch widersprüchliche. Du lässt sie „einfach“ von Verschiedenen, in deiner Phantasie, deinen Welten auftreten und sprechen.
„Wir sind auch kein Ort, den man ohne weiteres erreichen kann, nichts, was man mit gewöhnlichen Augen erkennt oder in sich aufnimmt.“ (S. 124)
„Erst wer sich am Fenster der Erkenntnis entdeckt und sich selbst beim Erschaffen seiner eigenen Realität erblickt, indem er gleichsam über die eigene Schulter sieht, hat sich gefunden.“ (S 137)
„Es schien mir als wäre der Wahnsinn ins Licht gezogen.“ (Seite 138)
„Wir haben nicht mehr viel Zeit, Charles“, scheint mir einer dieser zentralen Sätze. Er kommt bei mir an, ohne, dass ich an „Zeit“ glaube.
„Doch die Goldenen lassen sich nicht austricksen. Selbst wenn du die gleichen Inhalte und Sehnsüchten in deine Traumbilder einbaust, führen sie zu keiner kreativen Erkenntnis.“ (Seite 141/142)
Lill-eh hingegen ist zuständig für „Unsterblichkeit“ als ihr Spezialgebiet. Sie ist die „Programmiererin“. „Das Ich glaubt, dass es unsterblich sei. Das Selbst weiß, dass dem nicht so ist. … Also bleibt dem Selbst nur wiederum eine besondere Form des Ichs, ein Ich sozusagen, dass sich selbst erkennt?
Die Religionen nennen das Seele.“ (Seite 144)
Spielt Jürgen mit Sprache, (die du ja von verschiedenen Personen sagen lässt), um sie und dich
etwas herausfinden zu lassen?
Er „spielt“ mit dem Bekannten und sucht und findet auch Unbekanntes.
Jürgen wird seinem Namen gerecht. Er ist der „Landarbeiter“, der „Bauer“.
Und er sucht immer die Alternativen: „Du solltest wissen, dass selbst die Goldenen die Menschen um ihre Sterblichkeit beneiden,“ (Seite 146)
„Wir können nicht sterben.“ … „In Wahrheit pflanzen sich nur die Gene fort,
- das Individuum kehrt nicht zurück.“
Und immer wieder kommt Jürgens „Lebensphilosophien“ heraus: „Charles sah stumm zu, wie Ursi, seine große Liebe, auf einem Schimmel ritt, sich im Rhythmus des Pferdes auf und ab bewegte und ihm von Herzen zulächelte.“
Und Jürgen fühlt „die Referenz“ (S.150), die er erweist.
„Und Charles Geist war Teil des Klangs und hallte von den Wänden zurück. Er war Quelle und Gesang – jenseits des Dualen war kein Unterschied.“ …
„Endlose Zeit ist wie ein Moment. Wenn einer den endlosen Moment begreift, erkennt er die Person. Die er sieht.“ … „Ganz am Schluss hat er die Person gefunden, die er gesucht und auch gesehen hat.“ (Seite 153)
Ich liebe es Jürgen und Charles zu zitieren. Ich könnte es nicht passender sagen.
Jürgen hat hingeschaut. Er will es anders machen als unsere Gesellschaft. Sie hat (schlecht bezahlte) Spezialist*innen für das Sterben von Menschen. Jürgen wurde nicht bezahlt. Er ist kein professioneller Spezialist.
Er wollte wissen, was mit ihm passiert, wenn ein Freund stirbt. Er wollte wissen, was er denkt und fühlt. Nicht nur in Theorie, sondern in „echt“.
Weiß er noch was er denkt, wenn er schreibt?
„... der Standpunkt deiner inneren Sicht hat sich bloß erweitert ...“
Jürgen resümiert in mehreren Schritten.
Er favorisiert das „gefühlt Richtige“.
Er will (Auf)Lösungen.
„Nur allzu schnell verlangt unser Geist nach Lösungen, die mit dem Herdenbewusstsein übereinstimmen.“
Er sucht „Freiheit“.
„Andererseits sind dem Menschen stets mehrere Pforten zur Freiheit vorgeschaltet, deren Bedeutung in der Herde selbst liegen.“
Er sieht die Entwicklung.
Von der „Überlebensfähigkeit der Gruppe“ führt sein Weg über eine „Überflusskultur“ zu dem Darüber-Hinausgehenden.
Er benutzt die Zeit.
Er schaut zurück. als Künstler und Visionär (?), als „Brückenkopf“
Er drückt das Unbekannte aus.
Er lotet sich aus, um die Grenzen zu erfahren.
Er geht in die Rolle des „hinterfragenden Geist“s.
Er will „ausweiten“. Er will zur „vierten industriellen Revolution“.
Das „Ganze“ sucht er im Unbekannten. Er hält das „Selbst“ für die Beschränkung. … Er glaubt an eine Lösung durch „künstliche Intelligenz“. Dann verweist Jürgen wieder auf das „Tesserakt“.
Ich fühle mich als Leser nicht „betrogen“. Ich wusste, dass Jürgen etwas beschrieb, was er erlebte.
Er konnte nicht beschreiben, was ich erleb(t)e.
Ich kann fragen.
Zudem ist das Denken anderer, auf das ich mich einlasse, das eigene.
Der nächste Schritt seines Resümees ist der Aufsatz von Georges dem Merlynn. Wer immer Georges ist. Diese Gedanken sind wohl die von Charles. Jürgen lässt ihn noch einmal zu Wort kommen. Ich sage nicht, wo ich anders denke. Ich sage nur, dass ich den Teil aus Seite 182 „sehr schön“ finde.
Es folgt noch sein Abschiedsgruß und seine Danksagung.
Das Buch hat mir bei der Begleitung und Auseinandersetzung mit dem Tod beim Leben geholfen.
Ich bin stolz darauf, Jürgen zu kennen.